Verlangen, Begierde, Sehnsucht

Autor: Ghandi
veröffentlicht am: 14.05.2013


Ich schaue aus dem Küchenfenster und sehe ein junges Pärchen auf dem Gehweg entlangspazieren. Sie gehen eng umschlungen, sie sind beide wunderhübsch, sie sind beide höchstens achtzehn Jahre alt. Eigentlich hatte ich etwas auf dem Herd, Wasser für Reis. Ich weiß, ich sollte es nicht aus den Augen lassen, aber der Anblick der beiden fesselt mich.
Einen Moment bleiben sie stehen, küssen sich im Schein der Sonne. Ich registriere das rote Haar des Jungen, das im hellen Sonnenlicht aussieht wie Feuer, seine fein geschwungenen, vollen Lippen, seine schönen Hände, die besitzergreifend um die schlanke Taille des Mädchens gelegt sind.
Und auch ihre Schönheit ist mir nicht entgangen. Allerdings mustere ich ihre atemberaubende Figur und ihr volles, goldenes Haar weniger mit Entzücken als mit Neid.
Während ich die beiden beobachte, wie sie zärtliche Küsse austauschen, lasse ich das Küchentuch fallen, das ich in der Hand gehalten hatte, und schlinge meine Arme um meinen Oberkörper. In mir flammt Eifersucht auf dieses unbekannte Mädchen auf, denn jede Faser meines Körpers sehnt sich in diesem Moment ebenfalls nach einer Umarmung, nach einem leidenschaftlichen Kuss. Ich stelle mir vor, wie ich, und nicht sie, in den Armen dieses Schönlings liegen und er meinen Hals mit heißen Küssen bedeckt. Wie ich mit meiner Hand durch dieses volle, rote Haar fahre und seinen Atem auf meiner Wange spüre.
Ich höre wie das Wasser für den Reis im Topf kocht, wie es über den Rand auf die heiße Herdplatte läuft und zischend verdampft. So wie mein Verlangen nach ihm.
Während ich schwer atme und mich nicht von der Stelle bewegen kann, sehe ich, wie sich die beiden wieder voneinander lösen und den Weg weiter entlangschlendern. Der Junge schenkt seiner Freundin ein umwerfendes Lächeln, ich sehe ebenmäßige weiße Zähne, und wünsche mir, dieses Lächeln wäre mir bestimmt.
Die beiden verschwinden aus meinem Blickfeld, doch meine Begierde lässt mich noch einige Momente am Küchenfenster verharren. Ich spüre, wie eine Träne meine Wange hinabläuft und wende mich dem Herd zu. Das Wasser sprudelt immer noch über den Rand des Topfes, doch ich mache keine Anstalten, etwas dagegen zu tun. Ich fühle nur brennendes Verlangen und stütze mich mit den Händen auf die Ablage, damit meine zitternden Knie nicht nachgeben.
Ich bin vierundfünfzig Jahre alt. Ich hatte noch nie einen Freund. Ich bin noch nie geküsst worden.
Ich. Bin. Allein.
Allein.
Allein…










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