Der ganz normale Wahnsinn

Autor: tweety
veröffentlicht am: 29.04.2013


Ines stand am PC und stöhnte innerlich auf, als sie die Terminplanung sah. An sich war sie ok, wenn sie für einen erfahrenen Zahnarzt gewesen wäre. Aber nicht für den Assistenten. Björn hatte gerade einmal 15 Wochen Berufserfahrung.


Sie schaute die Karteikarten durch, las einige Einträge, und entschied sich dann bei zwei geplanten Behandlungen für Rücksprache mit ihrem Chef Lars. Lars war ein noch recht junger, aber bereits sehr erfahrener Kieferchirurg. Er führte seit einiger Zeit zusammen mit seiner Schwester Rike die Praxis, seit ihr Vater sich in den Ruhestand zurückgezogen hatte.

„Nein, das ist schon ok so" , teilte ihr Lars mit.
„Gut, wenn sie das so abgesprochen haben...", dachte Ines bei sich.

In der Magengegend machte sich ein ungutes Gefühl bei ihr breit. Sie kannte den Patienten nicht, doch wenn ihr alter Chef noch vermerkt hatte, Zahnentfernung bitte bei Lars oder Rike, dann hatte das seinen Grund. Rike überließ für gewöhnlich die Chirurgie ihrem Bruder, und widmete sich lieber den anderen Bereichen der Zahnmedizin.

Grund Nr. 1 stand in der Akte: Angstpatient.
Grund Nr. 2 konnte sie dem Röntgenbild entnehmen.

Beide Zahnärzte legten großen Wert darauf, dass alle Mitarbeiterinnen ihnen soweit wie möglich zuarbeiteten und äußerst selbständig arbeiteten. Röntgenbilder wurden immer wieder gemeinsam analysiert, ausgewertet, Besonderheiten erklärt.
Für einen erfahrenen Kieferchirurgen wäre der Zahn ein Kinderspiel, das stand für Ines fest, als sie einen Blick auf das Röntgenbild warf. Aber für einen Ausbildungsassistenten?

Sie schob ihre Gedanken beiseite. In den nächsten drei Stunden standen nur Routineuntersuchungen und Besprechungen auf dem Plan, das hieß zügig arbeiten, um nicht in Verzug zu kommen.
Die Zeit verflog, dann stand Chris vor ihr. Ein Patient wie jeder andere. Und trotzdem war etwas anders.
Ines fing seinen Blick auf. „Angst", las sie darin. Und traute im nächsten Moment ihren Ohren kaum. „Ich hab eine Sch... Angst!", hörte sie Chris sagen, als sie ihn darum bat, sich zu setzen.
DAS war das Andere. Männliche Patienten die explizit sagten, Angst zu haben. Das gab es selten.
Der Versuch, ihn etwas abzulenken und zu beruhigen war halbherzig. Sie ahnte instinktiv, dass die Behandlung weder schnell noch routiniert ablaufen würde.
Björn hatte zu wenig Erfahrung bezüglich Chirurgie; was Tipps anging war er sehr beratungsresistent, und für Ines´ Geschmack zudem eine deutliche Spur zu arrogant.

Wider Erwarten begann die Behandlung recht problemlos. Ihr Patient war zwar nicht begeistert einen fremden Zahnarzt vor sich zu haben, ließ sich aber darauf ein.
Dass der Zahn Probleme machen würde, war klar. Wurzelgefüllt und spröde, da war ein Abbrechen bei normalem Extraktionsversuch eigentlich schon vorprogrammiert.

„Lars hätte sich auf den Versuch gar nicht erst eingelassen", dachte Ines.

Aber der Assistent wollte es erstmal versuchen. Ines rollte gedanklich mit den Augen. Der Blick den ihre Kollegin Karin ihr im Vorbeigehen zuwarf, trug auch nicht unbedingt zu ihrer Erheiterung bei.

Das Einfordern diverser Instrumente trieb sie allmählich zur Weißglut. Schließlich hatte er sie ja bereits in der Hand.

„Lernen die an der Uni eigentlich nicht, die Zangen zu unterscheiden?", fragte sie sich wütend. Der junge Mann tat ihr mittlerweile echt unendlich leid.

Als sie das dritte Mal in den OP trabte, um das zu holen, was er längst in der Hand hielt, schaute Lars sie kopfschüttelnd an.

Ines nutzte die Gelegenheit: „Haben wir noch andere Zangen für den 36 (drei-sechs) ?" 36 war der erste große Backenzahn unten links. „Ich kenne nur diese...", fragte sie ihren Chef, bewusst ganz naiv.

„Warum sollten wir andere haben?", fragte Lars verdutzt.
Er fing ihren hilflosen Blick auf, und folgte ihr ins Behandlungszimmer.

Für die restliche Zeit der Behandlung stand Björn nun unter den kritischen Augen seines Chefs. Dass ihm dies gar nicht behagte, spürte Ines. Und auch, dass er ihr gedanklich unterstellte, sie hätte ihn beim Chef verpetzt. Die nächste Zeit konnte ja heiter werden. Ihr Bauchgefühl trog sie nicht. Nie.

Doch gleichzeitig spürte sie, dass auch Chris sich immer mehr verkrampfte. Klar, es blieb auch ihm nicht verborgen, dass Wissen und Erfahrung des behandelnden Zahnarztes noch nicht unbedingt ausgereift waren. Und bei jedem Hinweis oder lenkenden Eingriff von Lars entflammte neue Angst in ihm.

Ines blickte auf die Wanduhr, die sie schon lange sträflicherweise nicht mehr im Blick hatte. Es wäre auch egal gewesen. Beschleunigen können hätte sie nichts. Von den geplanten 30 Minuten waren 75 Minuten verbraucht, als das Behandlungsende erreicht war.

Lars verschwand und nahm den Assistenten mit ins Büro. Ines grinste innerlich. Dann entfernte sie die Spuren des Eingriffs von den Mundwinkeln des Patienten.

Die nächsten 20 Sekunden liefen völlig automatisch ab, als Chris aufstehen und gehen wollte. Er stand noch nicht ganz, als er kreidebleich wurde. Ines hörte sich nur ganz scharf „hinsetzen" kommandieren; drückte ihn auf den Stuhl und fuhr diesen sofort in Schocklage. Rasch riss sie das Fenster auf, drückte ihm einen kalten Lappen auf die Stirn. Sie hasste diese Situationen. Nicht, weil sie Zeit kosteten. Sie mochte diese Hilflosigkeit der Patienten nicht. Diese tausendfachen Entschuldigungen für eine Situation, die niemand im Griff haben konnte; eine Situation, worauf niemand Einfluss nehmen konnte.

Ines räumte ihr Zimmer auf soweit es möglich war; nicht ohne ihren Patienten ständig aus den Augenwinkeln zu beobachten, sicherheitshalber. Nebenbei redete sie ein bisschen mit ihm, an der Festigkeit der Stimme konnte sie immer noch am Besten erkennen, wann sie jemanden gefahrlos entlassen konnte.

Mit über einer Stunde Verspätung lief der Terminplan weiter. Ohne weitere Komplikationen, jedoch mit 90minütiger Verspätung begann um 21 Uhr ihr Feierabend. Es wäre wohl noch später geworden, wenn Karin und Martina pünktlich gegangen wären. Die lagen gut in der Zeit. Doch das gab es hier einfach nicht. Hing eine, blieben die anderen. Keine Zickereien wie so oft unter Mädels üblich. Einfach nur Kollegialität und Freundschaft.

Gut Kirschen essen war am Donnerstag nicht mit Björn. Aber das hatte Ines ja schon geahnt... . Eisige, nachtragende Stimmung. Beschwerden beim Chef wegen jeder Kleinigkeit inbegriffen... .
In dieser Situation war sie froh, solche Kolleginnen zu haben. Und so einen Chef; der sich erst alle Meinungen anhörte. Für den die Helferinnen als Kolleginnen zählten und nicht als rangniedriger. Und der sich nicht zu fein war, ihnen auch einmal den Rücken zu stärken.

Trotzdem war Ines froh, von Montag bis Mittwoch entweder mit Rike oder selbständig in der Prophylaxe arbeiten zu können. Zwei, drei Tage nicht mit dem Jungspund arbeiten. Das erschien ihr schon fast wie Urlaub. Sie sollte Björn einarbeiten, dass war Rikes Wunsch gewesen. Eine Azubine im ersten Lehrjahr und ein nahezu ebenso unerfahrener Assistent, die Kombination war undenkbar.
Doch als Akademiker war er scheinbar etwas Besseres. Tipps nahm er eh keine an, nicht einmal von Lars und Rike.

Ines genoss den nächsten Mittwoch. Nur Prophylaxe. Da schaute sie auch nicht vorher den gesamten Plan gründlich durch, sondern überflog kurz die Namen.

Mittendrin stockte sie. Der Patient vom letzten Mittwoch. Wie sollte sie da eine normale Prophylaxe durchführen? Die OP war gerade mal eine Woche her.

„Na prima. Wer auch immer den Termin vergeben hat", seufzte sie leise.

Sie begann mit ihrer Arbeit, und hatte ihn nach den ersten Patienten schon wieder ganz vergessen.
Wie bei jedem anderen Patienten ging sie Richtung Wartezimmer. Schon bevor sie um die Ecke bog, sah sie Chris dort sitzen. Er blickte zu Boden, nachdenklich, gedankenverloren. Ines rief ihn auf, und hatte im nächsten Moment das Gefühl im Wartezimmer sei die Sonne aufgegangen. Nur beim Klang ihrer Stimme flog sein Kopf hoch und er strahlte sie an, noch bevor sie seinen Namen genannt hatte.

„Irgendwie hab ich diesmal oben links ein komisches Gefühl. Können Sie da nicht mal ein Röntgenbild machen? Ich hab das Gefühl, da ist irgendetwas. Unten tut es auch noch ganz schön weh, und ist total scharfkantig.", bombardierte er sie direkt im Behandlungszimmer.

"Und tut mir echt leid wegen letzter Woche. So ein Mädchen auf´m Stuhl... ." Er senkte beschämt den Kopf.

„Schon ok." Ines musste schmunzeln. „War kein Spaziergang letzte Woche, und zuzugeben, dass Mann Angst hat, da gehört schon Mut dazu", nahm sie ihm augenzwinkernd den Wind aus den Segeln.

„Na ja, vor der Prophylaxe hab ich ja keine Angst. Die mach ich ja regelmäßig", entgegnete ihr Chris.

„Ich fange erst einmal mit der Prophylaxe an, und danach soll er sich das noch einmal anschauen."

Seine Kommentare während der Prophylaxe brachten sie immer wieder zum Schmunzeln. Ein Spruch gab den Nächsten und Ines traute sich recht schnell, auch zu kontern wenn er frech wurde. Zum Teil waren seine Sprüche schon sehr interpretationsbedürftig und manches Mal eindeutig zweideutig.

Martina betrat das Zimmer. Da sie ein paar Minuten Luft hatte, wollte sie die nutzen, um schon einmal Instrumente aufzubereiten.
Ines war soweit fertig mit der Prophylaxe und verließ das Zimmer, um Björn zu holen. Er musste sich noch die OP-Wunde anschauen und röntgen ohne Anweisung durfte sie ja ohnehin nicht.
Drei Minuten später hätte sie ihn bereits wieder erwürgen können.

„Nein, wir brauchen kein Röntgenbild. Da ist alles in Ordnung. Unten ist ein kleiner Knochensplitter, den entferne ich gleich", sagte er.

Ohne jegliche Vorwarnung an den Patienten betäubte er die Stelle, mehr als unsanft. Keine Erklärung, keine Aufklärung, nichts. Ines war fassunglos.

Reflexartig legte sie Chris die Hand auf die Schulter, der kurz davor war, an die Decke zu springen.
„Psychologisch nach unten nicht zu toppen", dachte Ines. Gerade für Angstpatienten war der Prophylaxeraum eine Art Rückzugsgebiet, wo nichts „Böses" passierte. Wo sich die Patienten einigermaßen sicher fühlten. Und er war gerade im Begriff, diesen kleinen Funken Vertrauen der da war, zu zerstören.

„Darf ich in der Zeit von dem Zahn oben ein Röntgenbild machen? Die Betäubung muss ja eh erst wirken", fragte Ines ganz freundlich mit Samtpfötchenstimme, die Krallen ließ sie ihn nur ahnen.
Die Unfreundlichkeit des „Von mir aus!" störte sie in dem Moment nicht. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Denn ihr Bauchgefühl sagte ihr von dem Moment an, wo ihr Patient danach gefragt hatte, nichts Gutes.

Ines bereitete den Röntgenraum vor. Nebenbei quatschte sie ein wenig mit Martina.

„Sag mal, Ines, was machst Du eigentlich mit Deinem Patienten, dass er mit Dir spricht? Ich war vorhin bestimmt 5 Minuten drin, wo Du Herrn Möchtegern-Zahnarzt gesucht hast. Mit mir hat er kein Wort geredet. Mit Dir redet er ohne Punkt und Komma???"

„Hmm, keine Ahnung", entgegnete Ines, „Wieso redet er mit Dir nicht?"

Es war Zeit, Chris zum Röntgen zu holen. Beim Auslösen spürte Ines bereits, was sie erwartete. Und hoffte inständig, dass Chris mit dem geringeren Übel davon kam.

Er war ihr irgendwie sympathisch, und sein Humor gefiel ihr. Er konnte genau so herrlich sarkastisch werden wie sie selbst, das hatte sie in der kurzen Zeit schon bemerkt.

Ein Blick auf das Röntgenbild ließ sie stutzen, und sie wünschte sich inständig, dass Lars einen Blick darauf werfen würde. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus, als wäre der Zahn schon einmal an der Wurzelspitze gekürzt worden. Das vermutete auch Björn, und war sich dessen sehr sicher. Ines beschloss, dem später noch einmal etwas genauer auf den Grund zu gehen. Später, wenn Björn das Zimmer verlassen hatte...

Der Knochensplitter wurde entfernt, und ihr Kollege verschwand aus dem Zimmer. Auf das Verneinen ihrer Frage, ob an dem Zahn schon etwas gemacht wurde, löste ihr Magen wieder Alarm aus.

„Ich würde vorschlagen wir machen nächste Woche einen Termin beim Chef, nur um sicher zu gehen", sagte sie leise.

Chris willigte ein, und verließ sehr geknickt die Praxis.

Ines schlief in der nächsten Nacht fast gar nicht. Eine Erklärung dafür hatte sie nicht. Dafür fiel sie am nächsten Morgen fast aus allen Wolken. Martina schaute sie kurz an als sie die Praxis betrat.

„Schaust gut aus, Dich hat´s voll erwischt, was? Dein Prophylaxe-Patient von gestern?", grinste Martina.

„Du bist doch verrückt!" , maulte Ines. „Ich bin total müde, und kriege einen dummen Spruch zum Frühstück. Spitze." Damit war das Thema erledigt.

Eine schlaflose Nacht folgte auf die Nächste. Ines wurde immer kribbeliger.
Am Mittwoch Mittag war sie ganz ruhig; bis Chris die Praxis betrat. Es war stressig an dem Mittwoch, und eigentlich blieb keine Zeit für Gespräche.
Was dann folgte, war wie ein Déjà-vu..
Sie rief ihn auf, er suchte sofort Blickkontakt und lächelte.

Im Zimmer fragte er sofort nach, was denn jetzt mit den Röntgenbildern sei.
Im Nachsatz schob er dann direkt hinterher: „Tut aber gar nicht mehr weh, hat vielleicht nach der OP ausgestrahlt."
Er schaute Ines an; nahm ihren Blick wahr: „Neee, nicht. Was ist los?"

„Das überschreitet meinen Kompetenzbereich, ich darf keine Diagnosen stellen, hab aber so eine Vermutung. Mein Chef kommt gleich.", wich Ines aus.

„Neee, kommen Sie, bleibt unter uns. Ich sag nichts", bat er.

Sie ließ sich erweichen. Gestand ihm ihre Vermutung, dass es ihrer Meinung nach im günstigsten Falle auf eine Wurzelspitzenresektion hinauslaufen könnte. Die schlechtere Alternative wäre der Verlust des Zahnes. Sie stockte. „Wie gesagt, das ist nur meine Vermutung, und ich kann total danebenliegen", versuchtes Ines Chris Mut zu machen. Keine zwei Minuten später bekam er von Lars fast wörtlich genau dasselbe zu hören.
Ihr Bauchgefühl hatte Ines nicht getrogen. In sechs Wochen würde er wieder zur OP kommen müssen.

Lars verließ das Zimmer, und Ines vereinbarte direkt einen Termin. Eigentlich war die Zeit so eng, dass sie das ihre Kollegin an der Anmeldung hätte machen lassen müssen. Aber irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen. Und so hatte sie die Gewissheit, dass Lars die OP machen würde. Noch so eine OP wie die Vorangegangene mochte sie Chris nicht zumuten. Ein paar lustig-sarkastische Sprüche flogen noch hin und her zwischen den Beiden, dann drängte die Zeit.

Die nächste schlaflose Nacht für Ines folgte.

Die Raupen und Tausendfüßler begaben sich wieder auf Wanderschaft in ihrem Magen. Ines hatte sie jetzt tagelang ignoriert und verdrängt. Doch nun hatten sie es geschafft, hatten die unsichtbare Mauer um sie herum zerstört. Soweit, dass Ines schlagartig klar wurde: Martina hatte Recht.

Sie musste sich endlich eingestehen, dass sie sich verliebt hatte.





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