Son of a Preacher Man - Teil 4

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 25.04.2013


Ich steh in der großen, kantinenartigen Küche und zerschneide Zwiebeln für die Tomatensoße zum Abendessen.
Eigentlich hasse ich es zu kochen. Bin in dieser Hinsicht völlig talentfrei und hatte nie das Bedürfnis mich mit dieser Materie auseinander zu setzen.
In Berlin sind Chris und ich meistens irgendwo Essen gegangen, da gabs ja auch an jeder Straßenecke nen Dönerstand oder andere ungesunde Alternativen.
Er schwingt genauso ungern den Kochlöffel wie ich.
Wir sind uns in vielen Dingen so verdammt ähnlich.
Ich beiß mir auf die Lippen und versuche nicht daran zu denken, wie er grad auf der Bühne im Zelt steht und den ganzen Feierwütigen ordentlich einheizt.
Bianca hat sich, wie schon vorauszusehen war, nicht gemeldet. Ich bin also tatsächlich abgeschrieben. Weg vom Fenster!
Am liebsten würde ich losheulen und die verfluchten Zwiebeln tragen ihr Bestes dazu bei. An sich wären sie das perfekte Alibi für einen gepflegten Weinkrampf, dennoch reiße ich mich zusammen und versuche meine deprimierenden Gedanken zu verdrängen.

„Und wir sind das Wochenende wirklich ganz allein hier oben?“, frage ich mit schniefender Nase. Caro, die gerade an einem überdimensionalen Topf steht und circa 10 Kilo Nudeln hineinschüttet nickt und schaut kurz zu mir hoch.
„Die Verantwortung liegt voll auf uns.“, sagt sie ernst.
Das klingt fast so, als meinte sie ausschließlich mich und sich, dabei sind da noch Johann, Jasmin, Noah und zwei andere Betreuer in unserem Alter, ein Pärchen, Elsa und Kai, wenn ich mich recht entsinne.
Und mit der Verantwortung meint sie die leidvolle Aufgabe einen Sack voll Flöhe, in Form von dreiundzwanzig Konfirmanden, in dem Alter zwischen dreizehn und vierzehn Jahren, also voll pubertierend und höchst unmotiviert, zu hüten.
Normalerweise sollte eigentlich auch der Pfarrer, also Noahs Vater, mit dabei sein, doch der ist wohl irgendwie verhindert, ich vermute mal er hatte ganz einfach kein Bock auf den Mist. So wie ich.

„Waren sonst nicht immer noch andere Konfirmandengruppen mit hier?“, frage ich weiter und heuchle Interesse, weil ich mich irgendwie von dem Gedanken an Chris und die DuskyDays, die grad im vollen Gange sind, ablenken muss.
„Ja, früher schon.“, antwortet sie gedankenverloren. „Nur das hat alles nachgelassen. Leider. Bist du mit den Zwiebeln fertig?“ Ich sehe hinab auf die mittelschwere Katastrophe. Ich habe ein kleines Massaker veranstaltet. Wahrscheinlich hätte ich feine, gleichmäßige Würfel schneiden sollen, doch da mir ständig die Augen tränen, sind da nur unförmige Klumpen mit braunen Stücken, die verdächtig nach Schale aussehen, entstanden.
„Äh, ja.“, antworte ich leichthin und kippe die unschöne Masse in eine Schüssel.
„Dann könntest du vielleicht die Würstchen schnippeln?“, fragt sie säuselnd.

Man, man, man – hier wird ja glatt richtiger Einsatz von mir verlangt.
Dabei frage ich mich automatisch wo die anderen fleißigen Helferlein wohl sind. Weshalb müssen Caro und ich das Abendessen für dreißig Personen allein vorbereiten?
„Warum kann denn Jasmin nicht die Küche übernehmen?“, frage ich gehässig und lasse meinen Frust an einem unschuldigen Würstchen aus, welches ich barbarisch zerstückele.

„Weil ich im Wald war, um Holz zu sammeln.“, spottet es augenblicklich hinter mir und ich zucke automatisch zusammen.
Ich blicke auf und Caro grinst mich unmerklich an, während Jasmin sich neben mich stellt und kritisch in den Zwiebeltopf lugt.
„Wie weit seid ihr denn? Und was ist mit den Zwiebeln passiert?“, fragt sie ungläubig, wobei sie in die Schüssel greift und angewidert ein daumengroßes Stück herauszieht, welches mir wohl durch die Lappen gegangen sein muss.
Caro grinst jetzt noch breiter. „Oh, Anna hat sich offensichtlich Mühe gegeben.“, lacht sie.
Jasmin zieht eine Augenbraue hoch und blickt mich tadelnd an. „Ja, offensichtlich.“ Ich schenke ihr ein abfälliges Lächeln.
Etwas verwirrt schmeißt sie das Gemüse zurück in die Schüssel.
„Ja jedenfalls... -“, beginnt sie dann, sich wieder fangend. „Wir machen ja nach dem Abendessen das Lagerfeuer. Noah, Johann und Kai sammeln mit den Jungs noch Brennholz...-“ Ich kann es mir in diesem Moment nicht verkneifen und stelle mir den klapprigen Johann vor, wie er mit seinen Latschen durchs Unterholz streift, Äste sammelnd und ihnen dafür dankend, dass sie sich so freiwillig opfern, um in einem Feuer zu landen und uns Wärme zu spenden.
So ist Johann, voll der Öko-Heini und ständig um Dankbarkeit winselnd bei Mutter Natur, dass er auf diesem Planeten existieren darf.
Jasmin fährt derweil fort:“- Elsa, die Mädels und ich werden jetzt den Teig für das Stockbrot vorbereiten. Braucht ihr noch Hilfe?“

Ich bin etwas verwirrt. Sie fragt tatsächlich relativ nett, ob wir Hilfe brauchen?
Zu meinem Leidwesen schüttelt Caro mit dem Kopf.
„Wir sind gleich fertig, dann könnt ihr die Küche belagern.“, sagt sie freundlich.
Jasmin nickt, schaut noch ein letztes Mal kritisch auf die unförmigen Würstenstreifen, die ich nebenbei fabriziert habe, dann verschwindet sie ohne ein Wort.

„So schlimm ist sie doch garnicht.“, sage ich schulterzuckend, nachdem ich mich vergewissert habe, dass sie diesmal nicht im Raum ist.
Caro schmeißt gerade die Zwiebeln und Tomaten in eine Pfanne, welche die Ausmaße eines Futtertrogs hat und sieht dabei verkniffen zu mir über.
„Sie ist auch nett.“
„Warum dann dieses ganze Machtgerangele zwischen euch?“ „Das macht sie nur wegen Johann.“, zischt sie zähneknirschend.
Mir flutscht ein Würstchen aus der Hand. Hab ich das richtig verstanden?
„Hä?“, frage ich mit offenem Mund.
„Ja.“, antwortet sie und sieht dabei ziemlich mürrisch aus, jedenfalls starrt sie verbissen auf den Topf und rührt besorgniserregend kräftig um. „Sie war vorher mit ihm zusammen. Ich habe ihn ihr quasi ausgespannt, obwohl das nicht meine Art ist und auch nie meine Absicht war.“, fügt sie hastig hinzu. „Seitdem sabotiert sie mich, versucht mich schlecht zu machen und will unbedingt gut vor ihm da stehen. Irgendwie kann ich es ihr ja nicht verdenken, auch wenn es ziemlich kindisch ist.“

Ich starre meine Freundin an. Hier tun sich ja immer tiefere Abgründe auf.
Und ich frage mich, ob die ganze Welt verrückt ist.
Da kämpfen tatsächlich zwei weibliche Wesen um einen Mann, der aussieht wie Gottes Sohn?
Hat die christliche Erziehung eine so absurde Auswirkung auf die Partnerwahl junger, gläubiger Frauen?

„So eine bist du also.“, stichele ich. „Spannst anderen Frauen die Männer aus!“ Ich habe bewusst eine freche Tonart gewählt, so dass Caro mich eigentlich nicht missverstehen kann, tut sie trotzdem. Da habe ich wohl einen empfindlichen Punkt getroffen.
Sie blickt ziemlich zerknirscht.
„Das wollte ich so nicht!“, beteuert sie. „Wir haben uns ineinander verliebt, einfach so, ohne Vorwarnung. Und damals wusste ich einfach: Er ist es!“ Jetzt hat sie dann doch einen leicht verträumten Gesichtsausdruck, auch der Löffel in ihrer Hand bewegt sich wieder sanfter in der Soße.
„Ist ja gut.“, beschwichtige ich sie. „Du musst dich nicht rechtfertigen!“ Ich weiß, dass die ganze, unglückselige Geschichte Caro wohl am meisten zu schaffen macht. Sie ist so gutherzig. Verdammt! Sie ist so lieb, fehlt nur noch, dass ihr ein Heiligenschein um den Kopf schwebt.

„Man kann sich nun mal nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Und bei Johann wusste ich einfach: Er und kein Anderer!“ Ein kleiner Schauer durchfährt mich, dennoch gönne ich ihr das Glück mit dem Hippie.
„Du musst doch am besten wissen, wie das ist...“, fügt sie dann zaghaft hinzu.
Mein Blick schnellt hoch, ich beiße mir auf die Zähne und unterdrücke ein Zittern in meiner Stimme. „Wie meinst du das?“ Caro wird bei meiner Reaktion ein Stückchen blasser, sie weiß offensichtlich, dass sie gerade unbeabsichtigt das absolute Tabuthema angesprochen hat.
„Na...damals...du und Chris....“, stottert sie dann kaum hörbar.
„Mhm.“, brumme ich, dann wende ich mich hochkonzentriert den restlichen Würstchen zu und zeige ihr deutlich, dass ich nicht weiter über das Thema sprechen will.

Und natürlich, vollkommen unweigerlich, muss ich an damals denken....wie ich mit ihm zusammen gekommen bin – mit Chris.


Manche Geschehnisse im Leben kommen ganz plötzlich, überrollen einen unerwartet und verändern nachhaltig.
So war auch meine erste Begegnung mit Chris.
Ich hätte an diesem Abend nie erwartet, dass ich meinen Traummann kennenlernen sollte. Und ich hätte auch nie erwartet, dass mein Traummann zwei Monate jünger, nur drei Zentimeter größer und ganze vier Kilo schwerer als ich sein würde.
Nein, ganz sicher nicht. Zu der Zeit waren meine Ansprüche an die Männerwelt fast utopisch unerfüllbar, mit frischen siebzehn Jahren.
Ich war gespielt überzeugter Single, knutschte hier und da mal mit irgendwelchen Typen rum und versuchte meiner Umwelt auf ungeheuerliche Weise zu verheimlichen, dass ich noch Jungfrau war.
Ja verdammt!
Ich war ein Spätzünder und bis auf Caro, die es natürlich wusste und lächerlich stolz auf meine ungewollte Keuschheit war, ahnte niemand aus meiner Clique, dass ich die Unschuld mit mir rumtrug, wie ein unliebsames und absolut überflüssiges Fusselteil auf der Kleidung.

An dieser Stelle fragt man sich natürlich, was besagte Freunde denn für Freunde waren, wenn ich ihnen eine solch sensationelle Enthüllung vorenthielt, oder besser ausgedrückt, warum erfand ich etwas, was noch garnicht stattgefunden hatte?
Ganz einfach:
Noch eineinhalb Jahre vor diesem blamablem Umstand der spätpupertären Jungfräulichkeit war ich nämlich noch ne ganz große Nummer in der jetzt so hartumkämpften CJGW, der sinnlosesten Vereinigung seit es evangelische Verbände gibt.
Ja, bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr hielt ich Gott die Treue, doch auch eher unfreiwillig. Da meine Eltern so gläubig waren, war ich ständig dazu gezwungen, meine kostbare Freizeit im Gemeindezentrum zu verbringen – keine Chance normale Teenager, ohne Jesuskreuz um den Hals oder bekleidet mit selbstgestrickten Wollpullis, kennenzulernen.
Erst in der neunten Klasse widersetzte ich mich meinen Erzeugern, die Eliteclique meiner Schule bemerkte ganz schnell, wie cool ich eigentlich war, nahm mich auf und ich gewann an Beliebtheit.
Plötzlich wurde ich umschwärmt. Jungs interessierten sich für mich und ich tat so, als sei ich die Erfahrenheit in Person.
Selbstbewusstsein hatte ich schon immer, auf den Mund gefallen war ich auch noch nie, doch in dieser Hinsicht war ich unsicher. Und ich hatte garantiert nicht vor meine harterkämpfte Gesellschaftsstellung aufzugeben, geschweige denn meine Unschuld an einen Vollidioten zu verlieren, der im Grunde nur mit einer Eroberung meiner Person angeben wollte.
Und die Mädels aus dieser Clique waren oberflächlich, modeverrückt und ziemlich naiv – trotzdem genoss ich es, zu ihnen zu gehören, hatte aber nie jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte.
So war ich mit meinen frischgebackenen siebzehn Jahren zwar ziemlich beliebt, hatte gefühlte hundert oberflächliche Freundschaften, wurde zu sämtlichen Partys eingeladen, aber still in meinem Herzen, war ich doch einsam.
Ich fühlte mich weder zu meinen alten Bekanntschaften, den langweiligen Kirchengängern, noch zu meinen neuen Freunden, der obercoolen Schulelite, so verbunden, dass ich in derer Gegenwart auch mal Schwäche zeigen konnte oder behaupten konnte, dass ich irgendwem zugehörig war.
Bis auf Carolin vielleicht, die war schon immer außen vor.

Doch dann kam die Geburtstagsfete einer Klassenkameradin.
Meine Erwartungen an diese Feier waren eher gering. Gerade hatte ich selbst meine erste Welterblickung gefeiert und die Party hatte alle Vorstellungen gesprengt – meine Eltern waren mit ihren vierzig Jahren einem Herzinfarkt so nahe gewesen, dass ich mich eigentlich hätte schämen sollen.
Doch noch heute bin ich der Überzeugung, dass sie selbst daran Schuld waren. Ich hatte ihnen eindringlich und mit höchster Priorität eingetrichtert, sie müssten das Wochenende lieber irgendwo anders verbringen und NICHT mitten und während der Feier nach Hause kommen. Ihre Gutgläubigkeit in meine Person wurde in den Grundtiefen erschüttert, als sie dann doch frühs um Vier mal nach dem Rechten sehen wollten. Es waren über siebzig Menschen in unserem Haus...

Auf der Fete von der Schulkameradin jedenfalls waren weit aus weniger Menschen und ich kannte von denen nicht mal die Hälfte. Dazu trugen sie wahnsinnig schräge Klamotten, waren um einiges älter als wir und ich fragte mich ernsthaft, wie dieses unscheinbare Mädel es geschafft hatte, dass solche Leute auf ihren Kindergeburtstag kamen.
Wir standen in dem riesigen Vorgarten des Wochenendbungalows ihrer Eltern, ein kleiner Palast, seitlich sah ich einen Swimmingpool, von drinnen dröhnten laute Bässe und in diesem Augenblick kam das picklige Geburtstagskind auf mich zugelaufen:

***

„Anna! Schön, dass ihr hier seid!“, ruft sie sichtlich nervös. „Oh man, schon ganz schön viele Leute hier, was? Ich hoffe ihr habt Spaß! Das wünsche ich euch jedenfalls. Kann ich euch vielleicht was zu trinken bringen? Was mögt ihr denn so?“ Der Redeschwall kracht wie ein Wasserfall über mich und meine Freundinnen nieder, ich kneife die Augen zusammen und sehe sie prüfend an, während meine Folgschaft im Hintergrund kichert.
„Alles in bester Ordnung.“, sage ich gespielt und lege ihr besänftigend einen Arm auf die Schulter. „Sag mal, was machen denn die ganzen älteren Leute hier? Kennst du die alle?“ Sie lächelt und ich sehe , wie sie beruhigt ausatmet, nachdem ich so nett zu ihr bin.
„Oh, die! Die sind eigentlich nur wegen meinem Cousin hier.“ „Deinem Cousin?“ „Ja, der is eine Klasse unter uns und macht hier heute die Musik.“, bei den Worten zuckt sie mit den Schultern und erweckt den Eindruck, als wäre eben jene Musik überhaupt nicht wichtig für sie. „Er hat schon so nen kleinen Fankreis und er hat mich regelrecht dazu gezwungen, dass er hier spielen darf.“, sie fährt sich nervös durch die wilden Locken.
Ich nicke nur.
Dann werfe ich den Mädels hinter mir einen Blick zu und wir schlendern in einer Formation zum Gartenhaus.
Erhobenen Hauptes, mit wackelnden Ärschen und mit jeder Menge gieriger Blicke auf unseren zierlichen Körpern, betreten wir das Gebäude.
Die untere Etage besteht aus einem riesigen, offenen Raum, der nur optisch in Küche und Wohnzimmer getrennt ist. Es ist dunkel, blitzende Lichter zucken über die Wände und mindestens zwanzig Personen tanzen unter einer altmodischen Discokugel auf den marmorierten Fliesen.
Die Musik ist merkwürdig, gewöhnungsbedürftig und verdammt finster.
Laute, dröhnende Bässe, die viel zu schnell und viel zu laut kurz hintereinander auf mich niederknallen. Mein Herzschlag ist versucht, sich sofort diesem Rhythmus anzupassen.
Techno, schießt es mir durch den Kopf. Klar.
Und die Leute, die da tanzen, sind eindeutig so pillenabhängige, neonfarben-tragende Schlaghosenfetischisten.
Ich kenne diesen absurden Anblick aus dem Fernsehen, Love-Parade Liveübertragung auf MTV. Tausende von halbnackten Ravern, mit Stachelfrisuren, pinken Fellwesten und Trillerpfeifen, die dank irgendwelcher Drogen stupide zu unmelodischen Tönen tanzen.

Ich will mich umdrehen und die Party augenblicklich verlassen. Da kann ich noch so cool sein, zu Drogen hab ich eine ziemlich gefestigte Einstellung und ich weiß, dass ich hier nicht länger bleiben möchte.
Dann wandert mein Blick zum DJ und ich halte in meiner Bewegung inne.
Er sieht mich direkt an.
Unsere Blicke kreuzen sich, dann schaut er viel zu schnell und viel zu unbeeindruckt wieder runter auf sein Pult, ich dagegen kann nicht sagen was plötzlich los ist, aber ich kann meine Augen nicht mehr von ihm lösen.
Er hat etwas dermaßen anziehendes an sich, total verrückt.
Seine dunklen Haare sind ganz kurz und bilden ein einheitliches Bild mit seinen dunklen Brauen und den tiefschwarzen Augen.
Hinter dem Tresen wirkt er ziemlich klein, außerdem ist er dünn, fast zierlich.
Übergroße Kopfhörer hängen in seinem Nacken, eine Muschel drückt er an sein linkes Ohr und hält dabei den Kopf leicht schräg. Mit der freien Hand bedient er einen Laptop.
Er wirkt so ernst und konzentriert, total unnahbar, dennoch bewegt er seinen Körper ausgesprochen lässig zu den harten Tönen und scheint vollkommen in seiner eigenen Welt zu stecken.
Ich bin fasziniert.

„Anna? Kommst du?“
Eine meiner Freundinnen zerrt an meinem Arm und guckt sichtlich genervt. Sie will genauso schnell hier raus, wie ich es noch vor wenigen Sekunden auch wollte.
Gerade will ich nicken, als im Hintergrund die Tanzenden wild losjubeln und ich die ersten Takte von Michael Jacksons „Billy Jean“ erkenne.
Und dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig.
Die Feiernden vor uns rasten komplett aus, sie stampfen wie wild durch das Zimmer und bewegen sich irgendwie total cool zu den Bässen. Selbst mich durchströmt ein euphorisches Gefühl bei der Musik. Ich weiß nicht warum, aber es gefällt mir plötzlich, wie dieses mir bekannte Lied so finster von den harten Bässen und dem stumpfen Klang des Techno untermalt wird.
Es ist geradezu berauschend.
Dann wage ich nochmal einen Blick zum DJ.
Er lächelt. Er lächelt für sich selbst, sieht irgendwie stolz dabei aus.
Ganz eindeutig, er freut sich über die Reaktion der Menge auf der Tanzfläche und das macht ihn mir mit einem Schlag dermaßen sympathisch.
Eben noch war er irgendwie in sich gekehrt, schüchtern, fast abwesend – und dann auf einmal: dieses geheimnisvolle und gleichzeitig wissende Lächeln.
Kurz streifen sich wieder unsere Blicke.
Wahrscheinlich starre ich ihn an.
Wer, verdammt nochmal, ist das?


***

„Anna?“, dringt eine liebevolle Stimme zu mir durch.
Ich zucke zusammen.
Bin wohl gerade etwas abgedriftet. Ich halte noch immer das Messer in der Hand, darunter die Überreste einer Wurst.
„Alles gut?“, fragt Carolin.
Nein. Eigentlich nicht. Die Erinnerung war unnötig und zieht mich gerade in ein verfluchtes Jammertal.
„Alles gut. War grad in Gedanken.“, antworte ich schnell. „Ich muss mal kurz...“, nuschle ich dann noch, bevor ich aus der Küche flüchte und damit meine Würde rette.
Ich hab nämlich einen verdächtig dicken Kloß im Hals.
Ich gehe schneller als es meinen angeknacksten Rippen gut tut in Richtung Sanitäranlagen. Natürlich ist es ein Gemeinschaftsbad, mit mehreren Waschbecken, Kloparzellen und einem offenen Duschbereich. Luxus, im Vergleich zu der Einrichtung, die mich auf den DuskyDays erwartet hätte, deshalb will ich mich auch nicht über das geringe Maß an Privatsphäre beklagen.
Ich beuge mich über ein Waschbecken und betrachte mich im Spiegel.
Meine Augen sind gläsern, ich muss mich ganz schön anstrengen, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
Ja! Es schmerzt noch immer so sehr. Die Wunden sind zu frisch, als dass ich mich so minutiös an die wundervolle Zeit erinnern darf, in der ich Chris kennen gelernt habe.
Weg! Weg mit den blöden, trübsinnigen Erinnerungen!

Ich lasse den Wasserhahn an, bücke mich hinab und will mir frisches, kaltes und erinnerungs-löschendes Wasser ins Gesicht spritzen, als zwei Mädchen laut plappernd das Badezimmer betreten, sich genau einen Meter neben mich stellen und mich während ihres Gespräches völlig ausblenden.
Es sind zwei der Konfirmandinnen.

„...und hast du seine Augen gesehen?“, sagt die Rechte total verträumt. Sie hat ein piepsige Stimme und schaut so mausgrau aus der Wäsche, das man sie glatt übersehen könnte.
Die Andere, gleiches Kaliber, vielleicht noch ein bisschen unscheinbarer, nickt eifrig.
„Er ist so süß!“, quiekt sie.
Dann kramen sie Schminkutensilien aus ihren altbackenen Handtaschen und tratschen weiter.
Ich versuche mir mein Gesicht so zu waschen, ohne das Makeup zu verschmieren und ignoriere angestrengt die Unterhaltung – vergeblich.

„Hast du gesehen, wie er mich vorhin angelächelt hat?“ „Sein Lächeln ist traumhaft!“ „Und diese Grübchen!“ „Ich bin total verliebt!“

Ich schlucke unwillkürlich. Wie alt sind sie? Zwölf? Dreizehn?
Ich hoffe ihre Schwärmereien gelten Jesus, alles andere wäre ziemlich verwerflich, in diesem Alter und den Umstand entsprechend, dass sie kurz davor sind von Gott in den heiligen Kreis aufgenommen zu werden.
Pflichtbewusst wende ich mich ihnen zu und lächle nachsichtig.
„Verliebt? So so...“, sage ich gespielt tadelnd.
Die Mädchen kichern ertappt, trotzdem haben sie bestimmt keine Ahnung, wer ich bin.
Sie sehen meine Erscheinung und beschließen, dass von mir keine Gefahr aus geht.
„Ja...“, kommt es Ton in Ton und untermalt von einem theatralischen Seufzen.
„Na ihr seid euch ja ganz schön einig?“, sage ich dann grinsend.
Beide nicken und lächeln dabei wie Honigkuchenpferde.
Ich schüttel den Kopf. So naiv will ich auch nochmal sein. Spätestens, wenn der Glückliche sich für eine der beiden Mäuschen entschieden hat, ist es es aus mit der Einigkeit.
Die Freundschaft steht auf Messers Schneide, so viel steht fest.
Ich könnte ihnen glatt ihre Illusion rauben mit einem hinterhältigen Spruch, der darauf hindeutet, dass sich der Angebetete auch irgendwann mal zwischen ihnen entscheiden muss... - aber das bringe ich dann doch nicht.
Reicht schon eine Person mit gebrochenem Herzen hier oben.

„Und weiß der Mann eurer Herzen denn schon von seinem Glück?“, frage ich stattdessen schmunzelnd.
Die Mädchen werden rot, tauschen hastige Blicke aus, zucken dann mit den Schultern und drucksen ein bisschen rum.
So richtig wollen sie mit der Sprache wohl nicht rausrücken.
Ich lass aber nicht locker.
„Ist er denn mit hier, dieses Wochenende?“ Die Gesichter der Konfirmandinnen verfärben sich tomatenähnlich. Erwischt.
Da läuft hier also ein kleiner, ahnungsloser Herzensbrecher durchs Gelände und wird gleich von zwei blutjungen Christinnen angebetet. Der Bengel hat ein Glück – unbeschreiblich.
„Und er hat keine Ahnung, dass er gleich von euch Beiden angehimmelt wird?“, frage ich dann nochmal zur Sicherheit.
Sie nicken stumm und grinsen verlegen.
Dann räuspert sich die eine, sieht unschlüssig von mir, zu ihrer Freundin und wieder zu mir. Die will doch irgendwas...
Ich hebe fragend eine Augenbraue und sehe sie aufmunternd an.
Sie scharrt verlegen mit einem Fuß in imaginärem Sand, dann atmet sie laut durch und scheint all ihren Mut zusammen zu nehmen.
„Vielleicht...äh...könntest du...?“, stottert sie ängstlich und sieht mich von unten mit so kullerrunden Welpenaugen an, dass mir ganz anders wird.
Ich führe den Satz für sie zu Ende: „...könnte ich euch helfen, ihn zu erobern?“, frage ich ganz direkt und fühle mich dabei nicht ganz wohl.
Es ist ja nicht so, dass ich hier die ehrenvolle Aufgabe des Liebesengels Amor übernehme. Nein. Ich soll zwei frühreife Fastkinder in eine haremsähnliche Beziehung verkuppeln, immerhin wollen die Mädels sich den Burschen ja offensichtlich teilen.
Das ist schon fast kriminell, deshalb zweifel ich auch nur kurz, dann stimme ich mit einem überzeugtem Nicken zu.
Was solls? Irgendwie muss ich mich hier ja selbst entertainern.

Im Hintergrund wird es laut, Stimmen schallen durch den Flur, ich höre Gelächter.
Plötzlich werden die Augen meiner neuen Schützlinge noch ein Stück größer, sie sehen sich panisch an, dann flüstert die Blassere von beiden:
„Da kommt ER!“
Sie haucht es so, als würde der Alptraum ihrer dunkelsten Nächte auftauchen. Muss junge Liebe aufregend sein.
Ich grinse, stecke meinen Kopf aus dem Bad und linse auf den Flur, in der Hoffnung, den zukünftigen Pascha zu entdecken.
Dann entgleiten mir all meine Gesichtszüge.
Da kommen Jasmin, Elsa und nur ein einziges männliches Wesen.

„Hey Anna!“, ruft Noah, „Komm mit in den Speisesaal. Vor dem Essen muss noch einer das Tischgebet sprechen. Ich habe gehofft, du machst das!“

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So, ein weiterer Teil.
Viel Spaß damit ^^






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