Kirschblütenstaub - Teil 3

Autor: MissCarolina
veröffentlicht am: 08.01.2013


Der heilige Abend verstrich.
Es war ein trostloser Tag. Mein Vater und ich schwiegen uns im Speisezimmer an. Keiner von uns aß besonders viel. Ich reichte ihm sein Geschenk – eine Zigarre aus Kuba – er bedankte sich und ließ mich allein.
Die letzten Tage waren politisch sehr aufwühlend gewesen. Am 20. Dezember 1860 trat South Carolina aus der Union aus. Dieser Staat war nun ein von den Vereinigten Staaten unabhängiges Land und es würde nicht lange dauern, da würden weitere Südstaaten seinem Beispiel folgen. Ich ahnte nicht, dass ich in Georgia auch davon betroffen sein könnte. Mein Vater jedoch schien das anders zu sehen: Er sah jetzt schon die verheerenden Folgen für unsere Zukunft.
So kam es, dass er sich am Weihnachtsabend nicht lange mit mir beschäftigte, sondern schon nach knapp einer Stunde wieder in sein Arbeitszimmer verschwand.
Ich saß alleine an der großen, reich gedeckten Tafel von der auch noch zehn weitere Leute satt werden könnten und spielte mit dem kleinen, silbernen Armkettchen, das mir mein Vater geschenkt hatte. Die anderen Geschenke hatte ich noch nicht ausgepackt und doch konnte ich mir vorstellen, was unter dem Papier war. Neue Kleider, vielleicht Buch, eine neue Schiefertafel, eventuell ein Rechenschieber. Jedes Jahr bekam ich das Gleiche geschenkt, egal ob ich es brauchte oder nicht. Mein Vater war nicht gerade ein kreativer Mann.
Lisha jedoch erzählte mir oft, wie er vor dem Tod meiner Mutter gewesen soll: Freundlich, höflich, fröhlich. Doch dies schien sich alles zusammen mit dem Tod meiner Mutter zu wandeln. Und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mir unterbewusst die Schuld am Tode an seiner Frau gab. Ich wollte so etwas nicht denken, doch es ließ sich nicht vermeiden, denn er gab es mir jeden Tag zu spüren.
Ich saß noch nicht lange alleine am Tisch, als Lisha und Jabari aus der Küche kamen.
„Oh, Miss! Sind Sie ganz alleine?“ fragte Jabari bestürzt und seine Anteilnahme sah echt aus.
Ich nickte und schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte tapfer herunter, ohne mir etwas anmerken zu lassen. „Mein Vater hat wichtige Dinge zu erledigen“
„Ja, ja! Die Führung einer Plantage ist nicht ganz einfach, Miss. Sie müssen Ihren Vater verstehen. Er ist ein vielbeschäftigter Mann“
„Ich weiß, Jabari. Ich weiß“ murmelte ich leise, während Lisha begann den Tisch abzuräumen. „Oh, so viel gutes Essen. So viel gutes Essen. So viel für den Müll!“
Ich betrachtete die Tafel und musste zugeben, dass Lisha Recht hatte. Alles wurde heute frisch zubereitete und auch fast alles wanderte zu den Schweinen auf dem Hof von Elora. „Weißt du, Lisha. Esst ihr doch etwas!“ schlug ich vor und Jabari und die Köchin schauten mich an, als hätte ich ihnen erzählt, dass ich sie auspeitschen wollte.
„Miss, geht es Ihnen nicht gut?“ fragte Jabari vorsichtig, doch ich schüttelte mit dem Kopf. „Es ist mein voller Ernst. Ich will, dass ihr etwas davon mitnehmt. Für den Kompost ist es zu schade und ich werde das niemals alles alleine essen können“
„Miss, das geht nicht“ sagte Lisha entschieden und ich wusste, dass es ungewöhnlich war, ihnen etwas zu Essen anzubieten und außerdem wurde es normalerweise strengstens bestraft, wenn sich die Sklaven am Essen ihrer Herren bedienten. Doch es war Weihnachten. Konnte man nicht eine Ausnahme machen? Anscheinend nicht…
Draußen war es schon längst dunkel und der Mond schien hell, als auf einmal die schwere Eingangstüre aufgerissen wurde. Ich hörte die schweren Stiefel und polternden Schritte von Mr. Whites und wusste, dass es passiert sein musste. Etwas, das ausnahmsweise mal nichts mit Politik, Krieg und Abraham Lincoln zu tun hatte. Mr. Whites interessierte sich nicht für Politik. Er interessierte sich nur für die Sklaven und für ihre gerechte Bestrafung.
Ich sah aus dem Augenwinkel wie Jabari und Lisha zusammenzuckten und stand auf. Ich eilte aus dem Speisezimmer und hörte schon an den Schritten, dass auch mein Vater die Treppe hinunter kam. „Was ist hier los?!“
Mr. Whites stand in der Eingangshalle. Massig und groß wie ihr war, mit seiner Halbglatze, weil ihm vor ein paar Jahren die Haare ausfielen. Vor sich her schubste er einen jungen Mann, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich – unverkennbar ein Sklave der Plantage. Seine Haut hatte einen dunklen mokkaton und doch wirkte er im Vergleich zu Jabari und Lisha blass. Er schien also aus einer anderen Gegend Afrikas zu kommen, als die anderen.
Er schaute zu Boden und ich erkannte an Mr. Whites zerschlagenem Gesicht, dass er sich heftig gewehrt haben muss. Er war größer als Mr. Whites, doch gegen diesen massigen Mann hatte wohl kaum einer eine Chance.
Nun wehrte sich der Junge nicht mehr. Er ließ sich von Mr. Whites umherschubsen. Doch nun schloss sich die Hand des Sklaventreibers um seinen Hemdkragen. „Er versuchte zu fliehen, Sir!“
Mein Vater gähnte. Er sah müde und abgespannt aus und zum ersten Mal sah ich ihm sein Alter an. Die hellen Haare ergrauten langsam und er bekam immer mehr Falten, welche seine Züge noch grimmiger machten. „Bestraf’ ihn“ war seine knappe Antwort und ich hörte wie Lisha nach Luft schnappte. „Armer Maro.“ Erst jetzt bemerkte ich, dass die Köchin und Jabari mir gefolgt waren. Doch ich achtete nicht weiter auf die beiden. Stattdessen schaute ich wieder zu dem jungen Mann, welcher langsam den Kopf hob. Er grinste spöttisch und sagte etwas, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Und doch wusste ich, dass es nichts Nettes gewesen sein konnte. Die Abfälligkeit in seiner tiefen Stimme war zu deutlich.
Maro, schoss mir sein Name durch den Kopf. Ein sehr schöner Name.
„Wie, Sir?“
„Lassen Sie sich etwas einfallen, Mr. Whites! Bestrafen Sie ihn so, dass er in Zukunft nicht mehr versuchen wird, zu fliehen. Aber hacken Sie ihm nicht gleich die Beine ab. Er sieht mir nach einem guten Arbeiter aus!“ erklärte mein Vater, gähnte erneut und ging wieder nach oben in sein Arbeitszimmer, ohne mich eines Blickes gewürdigt zu haben. Doch auch ich beachtete ihn nicht.
Ich wusste nicht, ob Maro unsere Sprache sprach, doch so wie sein Blick sich änderte, als mein Vater redete, schien er der amerikanischen Sprache mächtig zu sein. Wer weiß, wie lange er schon hier ist.
„Hast du gehört, du Ratte? Mit dir werde ich mir etwas einfallen lassen! Was versuchst du zu fliehen, du dämlicher Affe?!“ Wieder begann Mr. Whites ihn vor sich her zu schubsen und er ließ es sich einfach gefallen. Die Tür fiel mit einem Krachen ins Schloss und kurz war es totenstill, bis Lisha ausrief: „Oh mein Gott! Der arme, arme Junge“ Mit diesen Worten eilte sie in die Küche und Jabari folgte ihr schnell.
Mich ließen alle in der Halle zurück und plötzlich spürte ich eine abgrundtiefe Abneigung gegen meinen Vater und gegen Mr. Whites in mir. Diese Szene in der Halle hatte mich erschüttert.

Es war schon lange nach Mitternacht, als ich mich aus dem Haus stahl, weil ich nicht schlafen konnte. In ein weißes Tischtuch habe ich einen Teil des restlichen Essens gepackt und begab mich zu auf den Kiesweg Richtung Plantage.
Es war eine laue Winternacht und dennoch fröstelte ich und zog den Schal um meine Schultern fester. Meine Schuhe knirschten auf dem Kiesweg und ich fühlte mich verfolgt. Auch, wenn ich nicht wusste, wer mich verfolgen sollte.
Der Schrecken von heute Abend saß mir immer noch in den Knochen und ich war erschütterte über die Grausamkeit meines Vaters. Von Mr. Whites wusste ich, dass er ein erbarmungsloser Mann war, doch von meinem eigenen Vater hatte ich mehr Güte erwartet.
Ich beschleunigte meine Schritte, als eine Windböe aufkam und sich einige Locken aus meiner bisher ordentlichen Frisur lösten.
Die Sklavensiedlung war nur schwach bis gar nicht beleuchtet. Ein einzelner Brunnen bildete den Mittelpunkt der Unterkünfte und die einfachen Blockhütten aus Holz sahen nicht sehr stabil aus. Zwischen dem Haus das ich bewohnte und dieser Siedlung lagen Welten.
Es war das erste Mal, dass ich die Unterkünfte der Sklaven aufsuchte. Zuvor hatte ich immer treu an das Verbot meines Vaters gehalten, doch irgendetwas trieb mich heute dazu, mich über meinen Vater hinwegzusetzen. Vielleicht war es die Wut darüber, dass er mich am Weihnachtsabend kühl wie immer behandelte und frühzeitig alleine ließ. Vielleicht war es aber auch das Mitleid, das ich mit Maro hatte. Ich konnte mir selbst keinen Grund nennen und setzte meinen Weg unbeirrt fort, bevor ich ins Zweifeln geriet. Ich war selten entschlossen, also musste ich diesen seltenen Moment nutzen!
Ich lief an den einzelnen kleinen Blockhütten vorbei. In keiner brannte Licht. Ich fühlte mich wie ein Eindringling und wenn ich ehrlich war, dann hatte ich Recht mit meiner Empfindung. In der Welt der Sklaven war ich ein Eindringling.
Ich schrak zusammen, als ich in einigen Metern Entfernung eine Gestalt erkannte. Sie saß an einem Baum und ich blieb unwillkürlich stehen. Doch dann raffte ich meine Röcke und ließ weiter.
Als ich näher kam, erkannte ich ihn wieder. Maro.
Er saß an einem Baumstamm gelehnt und zuerst dachte ich, er sitze da zum reinen Vergnügen, dann sah ich den Eisenring und die Kette um seinen Hals. Ein metallischer Pfahl wurde in den Boden gerammt und mit der Eisenkette verbunden. Er war hier draußen angekettet, wie eine Kuh, die ihre Weide nicht verlassen durfte.
Er wird behandelt wie ein Tier, schoss es mir durch den Kopf, sie werden alle behandelt wie Tiere.
Vorsichtig näherte ich mich dem Mann, der angekettet an einem Baum saß und als er sich bewegte klirrten die Ketten bedrohlich. Er stand auf.
„Du hast dich verlaufen, nehme ich an“ Er sprach beinahe akzentfrei und seine tiefe Stimme ließ mich ein wenig erzittern. Er klang nicht gerade freundlich.
„Ich bin hier aufgewachsen. Ich kenne mich aus“ erwiderte ich leise und trat noch einen Schritt näher. Er machte keine Anstalten mich anzugreifen, also lief ich noch einen Schritt weiter, bevor ich ihm das Tuch mit dem Essen reichte: „Du musst Hunger haben“ meinte ich leise.
Er beobachtete mich misstrauisch und nahm das Tuch nicht an sich. Stattdessen setzte er sich wieder auf den staubigen Boden und schwieg.
Ich fühlte mich zurückgewiesen. Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben. Ich wollte ihm helfen. Ich wollte etwas Gutes tun.
Ich setzte mich zu ihm in den Schmutz und überlegte mir, was ich wohl Rehani als Ausrede für mein verschmutztes Kleid erzählen könnte. Doch auf die Schnelle fiel mir nichts ein. „Das Essen ist von unserer Weihnachtstafel übrig“
Wieder betrachtete er mich nur und ich versuchte im Dunkeln seine Mimik zu erkennen. Er hatte große, braune Augen von dichten, schwarzen Wimpern umrahmt und ein kantiges Kinn. Sein breites Kreuz ließ auf die schwere Arbeit auf der Plantage schließen und trotzdem erschien er mir nicht massig, wie Mr. Whites.
„Ist das die Bestrafung? Dich als Quälgeist? Die Tochter unseres Herren?“ Sein Ton triefte nur so von Spott, doch ich gab mir Mühe es ihm nicht übel zu nehmen. „Oder wollt Ihr mich vergiften?“
Ich ging auf seinen Hohn nicht ein, sondern sagte stattdessen: „Bitte spreche mich nicht mit „Ihr“ an. Ich bin Fairytale“ Dann verbesserte ich mich schnell. „Fairy“
Er grinste schief: „Märchen…“ Mehr sagte er nicht. Saß wieder nur schweigend da, mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
„Am liebsten würde ich dich losbinden, aber…“
„Am liebsten würde ich, dass du verschwindest!“ erwiderte er scharf und ich zuckte merklich zusammen. Ich biss mir auf die Lippen und nickte und stand schließlich auf. Ohne noch ein Wort zu sagen, drehte ich mich um und rannte zurück zum Haus, wo ich mich ungesehen wieder in mein Zimmer stehlen konnte.
Rehani würde wegen des Kleides trotzdem völlig ausflippen.






Teil 1 Teil 2 Teil 3


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz