Die Zeit unseres Lebens - 1. Semester - Teil 2

Autor: Issi
veröffentlicht am: 08.11.2012


Es war schon längst dunkel, als Audrey Anderson ihren alten Ford Fiesta auf den Schulparkplatz lenkte. In ihrem Kofferraum klapperte und klirrte es besorgniserregend und Audrey konnte nur hoffen, dass die Rahmen ihrer Bilder nicht kaputt gegangen sind.
Sie stellte den Rückwärtsgang ein und versuchte so präzise wie möglich zu parken, was ihr natürlich nicht gelang. Mit einem kleinen Lächeln schaltete sie den Motor ab und stieg aus.
Als sie den Kofferraum öffnete, konnte sie ein genervtes Stöhnen nicht unterdrücken. Wie sollte sie das denn alles ins Haus bringen – alleine?
Suchend blickte sie sich um. Es war zehn Uhr abends, sie konnte nicht erwarten einen überfüllten Campus vorzufinden, wenn am nächsten Tag das neue Semester begann. Mit einem leisen Seufzen zerrte sie die erste Kiste heraus, auf der Kissen und Decken stand. Immerhin war der Karton nicht schwer.
Mit einem lauten Knall schlug sie den Kofferraum zu, nahm die Kiste hoch und begann ihr neues zu Hause zu suchen. Vor drei Wochen war sie schon einmal hier gewesen, um sich anzuschauen, wo genau sie wohnen würde. Doch an den genauen Weg konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Nur einige Meter entfernt, hörte sie das Meer rauschen, hörte wie die Wellen gegen die Felsen schlugen. Ein kühler Nachtwind wehte durch die Laubbäume und ließ die Blätter rascheln.
Nachts, wenn der Campus so verlassen dalag, war es schon ein wenig unheimlich, dachte Audrey still bei sich und begann leise ein Lied zu summen, um sich abzulenken. In Zukunft würde sie weniger Horrorfilme sehen.
Sie sah das kleine Häuschen schon von Weitem. Es stand genau zwischen zwei weiteren Studentenunterkünften und aus verschiedenen Fenstern drang Licht und vermischte sich mit dem Schein der Laternen, die den Campusweg beleuchteten.
Sie versuchte an den Schlüssel in der Hosentasche ihrer roten Jeans zu kommen, doch sie verzweifelte daran und stellte die Kiste und ihre weiße Handtasche vor der Haustür ab. Der Schlüssel klimperte, als sie ihn endlich in der Hand hielt.
Audrey wollte gerade die Tür aufschließen, als sie von innen aufgerissen wurde. Ein Schrei des Schreckens entfuhr ihr und sie zuckte zusammen.
„Herzlich Willkommen im Harbor Haus“ Der blonde Junge, der ihr gegenüber stand hatte eine Kamera in der Hand, welche er direkt auf sie hielt. „Mein Name ist Carter“
Etwas verunsichert durch diesen verrückten Typen hob Audrey die Hand und winkte tapsig in die Kamera, bevor sie ein kleines Lächeln zustande brachte und sagte: „Ich bin Audrey“
„Jetzt mach’ doch mal diese Kamera aus und lass’ das Mädchen ankommen“ ertönte eine Stimme von drinnen und Carter senkte seine Kamera und drückte auf den Aufnahmeknopf. „Ich will alles immer auf Band haben“ sagte er entschuldigend.
„Ach, was du nicht sagst?!“ drang eine zweite, sarkastische Stimme von drinnen an Audreys Ohr. Sie musste ein Schmunzeln unterdrücken, nahm ihre Handtasche und die Kiste und trat ein, während Carter die Tür hinter ihr schloss.
Im Inneren des Hauses hatte sich nicht viel verändert, seit Audrey es das letzte Mal gesehen hatte. Außer, dass ein dünner, schlaksiger Junge mit Brille eine Instantsuppe kochte, ein Mädchen mit schicker Bobfrisur ihre Nägel lackierte, und Carter und ein anderes Mädchen, das ihr erstaunlich bekannt vorkam, sie neugierig musterten.
„Hi, ich bin Audrey“ wiederholte sie und stellte die Kiste erneut ab. „Ich fange neu hier an“
„Ah, Audrey. Du stehst auf meiner Liste“ erwiderte das rothaarige Mädchen und nickte wissend. Dann fuhr sie fort: „Ich bin Abby. Ich bin eure Hausleiterin. Also Leiterin ist vielleicht falsch ausgedrückt. Ich bin hier im vierten Semester und in erster Linie eure Ansprechpartnerin. Nicht eure Aufpasserin“ Sie zwinkerte Audrey zu und reichte ihr dann höflich die Hand. „Carter kennst du ja schon“ Sie drehte sich über die Schulter um und deutete dann auf die beiden anderen anwesenden Personen: „Das sind Vicky und Seth“
Vicky hob die frisch manikürte Hand und knurrte: „Dann sind wir ja jetzt vollzählig“
„Bin ich die Letzte?“ fragte Audrey leise und warf einen Blick auf ihre Handyuhr. 22:32 Uhr.
„Der Letzte ist vor genau einer Stunde und dreizehn Minuten angekommen“ sagte der Junge mit der Brille, während er den Topf von der Kochplatte nahm. „Du standest im Stau, oder?“
„Ja, zwei oder drei Stunden“ Audrey merkte, dass sie müde wurde und dass sie ihre Ruhe brauchte. Zu viele Eindrücke, zu viele Gesichter. Sie fürchtete den morgigen Tag.
„Ich habe noch ziemlich viele Kisten im Auto. Vielleicht sollte ich diese auspacken, bevor es zu spät wird“ meinte sie schließlich und vergrub die Hände in ihrer schwarzen Sweatjacke.
„Da kann dir sicher einer der Jungs helfen“ meinte Abby zuversichtlich und kicherte.
„Ich?“ ertönte es geschockt von Seth.
„Nein, du nicht!“ Abby lachte herzhaft und rief dann nach irgendeinem Lucas. Es dauerte eine Weile und eine Tür gegenüber der Küchenzeile wurde aufgerissen. „Was gibt’s?“
„Helf’ der jungen Damen mal beim Kisten auspacken“ Abby lächelte immer noch und Audrey konnte sich gar nicht vorstellen, dass sie auch traurig schauen konnte.
„Ich bin Audrey“ sagte sie erneut und fragte sich selbst, ob ihr Wortschatz jetzt auf diese drei Wörter beschränkt war.
Der Junge – Lucas – musterte sie kurz und nickte dann. „Meinen Namen wirst du ja gehört haben“ Er zwinkerte ihr zu und fuhr sich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar, während er sich schnell eine Lederjacke überzog.
„Erster nächtlicher Ausflug auf dem Campus“ kommentierte Carter und schaltete seine Kamera wieder an.
Lucas lächelte kurz mit einem überheblichen Blick auf Carter, schnappte sich dann seinen Schlüssel und ging los.
„Du kommst spät. Wo kommst du her?“ fragte er, während sie neben ihm lief.
„Ich komme aus Boston“
„Was verschlägt dich dann hierher, Mädchen aus Boston?“
Mädchen aus Boston. Audrey zuckte zusammen. Ihre Mutter nannte sie immer so, wenn sie sie besuchen gekommen ist. Ihr kleines Mädchen aus dem großen Boston.
„Das ist kompliziert“
Lucas nickte, als wüsste er, was sie meinte. Dabei hatte er keine Ahnung.
„Das habe ich auch geantwortet, als ich damals hier angefangen habe. Aber lass’ dir sagen, Harbor hat seine Vorzüge“ Er deutete auf das Meer. „Ich hoffe du kannst surfen“ Er grinste sie an, doch sie musste mit dem Kopf schütteln. Sie konnte nicht surfen, und das obwohl sie aus Boston kam.
„Nachts kann es echt unheimlich sein“ ertönte plötzlich Carters Stimme hinter den beiden, dessen Schritte bis eben nur auf ihn aufmerksam gemacht haben. Dann machte er Geräusche, die wohl einen Geist imitieren sollten.
Kurz warf Audrey einen Blick über die Schulter zu ihm und musste schmunzeln. Dieser Typ sollte Komiker werden. „Du bist im ersten Semester, habe ich Rech?“
„Ganz richtig. Hauptfach Kunst. Filmkunst“ erzählte er stolz und richtete die Kamera erneut auf Audrey: „Was ist mir dir?“
„Erstes Semester. Französisch“ erklärte sie knapp, während sie ihr Auto aufschloss.
„Heißer Schlitten“ bemerkte Lucas und sie wollte sich schon bedanken, als sie den spöttischen Ausdruck in seinen Augen sah.
Sie verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern: „Mehr kann ich mir nicht leisten“
„Du musst dich nicht rechtfertigen“ meinte Lucas trocken und begann die ersten Kisten auszuladen.
Audrey musterte ihn kurz. Sie beobachtete das Spiel seiner Muskeln, während er die Kisten auslud und sofort erinnerte sie sich an ihren Bruder. Er sah ihm erstaunlich ähnlich.
Seufzend packte sie mit an, während Carter die Szene filmte. Wieder warf Audrey einen kurzen, schnellen Blick auf Lucas.
Du musst dich nicht rechtfertigen. Warum hatte sie aber das Gefühl, dass sie genau das musste? Dass sie sich ihr ganzes Leben lang schon rechtfertigen musste?






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