Die Zeit unseres Lebens - 1. Semester

Autor: Issi
veröffentlicht am: 07.11.2012


Es roch nach Meer.
Nach Meer, Salz und Strand. Ein Geruch, den Victoria schon immer verachtet hatte. Er kitzelte in ihrer Nase und sie musste niesen.
Der Wind fuhr durch ihre Haare und ließ ihre Föhnfrisur durcheinander geraten. Mit einem Seufzen strich sie sich ein paar verirrte dunkelblonde Haarsträhnen hinter die Ohren und schlurfte weiter am Strand entlang.
Desert Island - eine Insel im wunderschönen Gulf of Maine. Nicht zum ersten Mal fragte Victoria sich, weshalb die Insel Desert Island hieß. Das Klima in Maine war kühl und die Küstenstürme in Bar Harbor nicht zu unterschätzen. Mit einer Wüste hatte dieser Ort wenig gemein.
Die Wellen schlugen wild gegen die Felsen der Bucht, während die Gischt weiß aufschäumte und der Wind weiter tobte.
Nur kurz blieb Victoria stehen und schaute auf das weite Meer. Doch es hatte keine blaue und schöne Farbe, wie sie es aus Australien, wo sie immer Urlaub mit ihren Eltern gemacht hatte, kannte. Stattdessen war es grau und trüb. Vielleicht konnte man noch ein wenig grün darin erkennen, doch für Victoria wirkte es trostlos.
Mit einem leisen und dennoch theatralischen Seufzen machte Victoria kehrt und blickte zurück zum College, das sich weit hinter den Dünen erstreckte. Wer erbaute ein College direkt am Strand, welcher dann auch noch Teil des Campus’ wurde?
Jeder träumte doch von so einem College, oder? Direkt am Strand. Heiße Surfer, Sonnenbaden, und Cocktails. So sähe ein College an der Westküste wohl aus.
Doch Victorias Eltern mussten sie ja unbedingt an dieses College an der Ostküste schicken.
Damit sie endlich lernte, mit wenig Geld und wenig Luxus auszukommen. Damit sie endlich lernte, worauf es im Leben ankam.
Und aus diesem Grund saß sie jetzt auf Desert Island in Bar Harbor fest und musste als Freshmen das Harbor College besuchen. Weit weg von ihren Freunden aus L.A, und vor allem weit weg von Kyle.
Bei dem Gedanken an Kyle stiegen ihr wieder die Tränen in die Augen. Kyle, ihre vermeintliche große Liebe. Kyle, der ihr die Sterne vom Himmel holen wollte. Kyle, der mit ihr Schluss machte, als er erfuhr, dass sie ans Harbor College gehen musste.
Noch immer hasste sie ihre Eltern dafür, dass sie ihr die Entscheidung, auf welches College sie gehen wollte, einfach abgenommen hatten. Ohne ihre Zustimmung wurde sie zur Aufnahmeprüfung geschickt, hatte diese erfolgreich und beabsichtigt in den Sand gesetzt. Doch ihre Eltern winkten dem Schuldirektor mit einem Bündel voller Geldscheine und die Sache war entschieden.
Wieder spürte Victoria wie die Wut in ihr aufkochte. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
Sie hätte auf jedes College gehen können. Yale, Harvard, sogar ans MIT. Sie war Jahrgangsbeste, ihre Eltern stinkreich – sie hätte alle Möglichkeiten und Chancen gehabt. Und nun war sie Studentin am Harbor College. Einen Ort, den niemand kannte.
Mit einem energischen Ruck schloss sie den Reißverschluss ihrer schwarzen Daunenweste und stapfte zurück über die Dünen zum College. Den Sand in ihren Stiefeln ignorierte sie.
Von außen sah das College aus wie ein ehemaliges viktorianisches Herrenhaus. Zwei Flügeltreppen führten zum Hintereingang und zur Terrasse der Mensa hinauf. Rechts und links von der Treppe befanden sich Skulpturen, die wohl Engel darstellen sollten.
Victoria warf nur einen kurzen Blick auf die Skulpturen, bevor sie um das Unterrichtsgebäude herum ging. Auch die Frontseite erinnerte an ein altes Herrenhaus, was es wahrscheinlich auch war. Doch die Wohnhäuser für die Studenten, die Campusgrünanlagen und die Turnhalle ließen auf ein College schließen.
Noch nicht einmal eine eigene Wohnung hatte sie in Bar Harbor. Stattdessen wurde Victoria nach Zufall mit fünf weiteren Studenten in eines der kleinen Wohnhäuser am Rande des Campus untergebracht. Auch dies wurde ohne ihr Einverständnis beschlossen.
Je länger sie darüber nachdachte, umso wütender wurde sie.
Ohne auf die anderen ankommenden Freshmen zu achten, lief sie am Parkplatz vor dem Unterrichtsgebäude vorbei und sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie ein blonder Junger mit einer Kamera aus einem mintgrünen VW-Bus ausstieg.
Freak!, dachte sie im Stillen bei sich und lief weiter.
Das kleine Haus, in dem sich ihr Zimmer befand, lag ganz am Rande des Campus. Fast zehn Minuten Fußweg vom Unterrichtsgebäude entfernt. Und vielmehr erinnerte es Victoria an die kleine Ersatzstrandhütte ihrer Eltern. Oder an das Poolhaus ihrer Freundin Tiffany. Sie musste schmunzeln. Viel war Victoria ihren Eltern wohl nicht mehr wert.
Sie rammte den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf.
Wie lange würde es wohl dauern, bis man den Geruch nach alter Frau aus dem Gemeinschafts- und Kochbereich rauskriegt?
Das Haus sah fast unbewohnt aus. Nur vereinzelt lagen ein paar Bücher herum – ein paar waren auf Französisch, ein paar andere handelten von theoretischer Physik.
Mit Physik konnte Victoria noch nie etwas anfangen. Sie wollte viel lieber in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und Ärztin werden. Luxusdoktor, wie ihr Vater sagte. Die psychischen Probleme der Schönen und Reichen lösen.
Bis jetzt hatte Victoria noch keine Menschenseele im Haus gesehen und langsam begann sie zu zweifeln, dass sie Mitbewohner hatte. Und eigentlich wäre sie darüber froh gewesen, doch sie fürchtete auch die Einsamkeit in dieser kleinen Strandhütte.
Langsam schlurfte sie in die Küche und in der Stille kamen ihr ihre Schritte ungewöhnlich laut vor. Sie riss ein paar Schränke auf, bevor sie endlich eine Tasse und einen Topf fand. An eine Gemeinschaftsküche und an Gemeinschaftsbäder müsste sie wohl noch gewöhnen.
Sie füllte den Topf mit Wasser und stellte ihn auf den alten Gasherd.
War die Einrichtung aus den Sechzigern?!
Victoria schüttelte mit dem Kopf. Warum stellte sie sich diese Frage eigentlich noch. Schon als sie ihr Zimmer im ersten Stock bezogen hatte, ist ihr die schlichte und pragmatische Einrichtung aufgefallen. Ein Bett, das direkt unter der Dachschräge stand, ein Schreibtisch mit einem knarrenden Stuhl und einen Schrank, bei dem Victoria sich fragte, wie sie nur all ihre Klamotten dort unterbringen sollte. Vielleicht musste sie sich noch eine Kommode kaufen. Hatte Bar Harbor ein Möbelgeschäft?
„Schuhe aus“ riss sie plötzlich eine männliche Stimme aus ihren Gedanken.
Victoria zuckte zusammen und wirbelte erschrocken herum. „Erschreck’ mich doch nicht so! Was hast du gesagt?“
„Ich habe gesagt, du sollst die Schuhe ausziehen“ wiederholte er und fuhr sich mit einem Handtuch über die noch vom Duschen feuchten Haare.
Lange musterte Victoria ihn noch und beschloss, dass sie ihn als gut aussehenden einstufen konnte. Seine Haarfarbe konnte sie noch nicht einschätzen, aber seine bernsteinfarbenen Augen waren definitiv schön.
„Ich bekomme schnell kalte Füße“ erwiderte sie und zuckte mit den Schultern.
„Und ich mag keinen sandigen Boden“ entgegnete er knapp und legte sich das Handtuch um den Nacken.
Kurz noch überlegte Victoria, dann seufzte sie und zog sich ihre schwarzen Stiefel über die Knöchel. „Ich bin übrigens Vicky“ meinte sie, während sie ihre Schuhe auf die schwarze Matte neben der Eingangstür stellte, wo noch zwei Paar andere Schuhe standen; einfache, weiße Turnschuhe und braune Schnürstiefel in geschätzter Größe 44.
„Derek“
„Schön, dich kennen zu lernen“ Sie schaltete den Herd aus und goss das heiße Wasser in die Tasse, die sie gefunden hatte und hängte einen Teebeutel hinein.
„Du bist neu hier. Freshmen, was?“ wollte er wissen und ließ sich auf dem braunen Stoffsofa nieder.
„Du nicht?“ war ihre Gegenfrage. Sie drehte sich zu ihm um und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Küchentheke.
Er lachte spöttisch und schüttelte mit dem Kopf. „Noch mal hier anfangen würde ich nicht“ Er griff nach einem dicken Buch auf dem fett „Integralrechnung“ stand.
„Ist es so schlimm?“ fragte sie unsicher. Sie wollte hier weg! Sie wollte nicht hier sein.
„Es ist die Hölle“ antwortete Derek todernst und sie spürte, wie ihre kühle Miene zu bröckeln anfing, als sich sein Mund zu einem breiten, spöttischen Grinsen verzog und sie bemerkte, dass er sie veralbert hatte.
Victoria wollte etwas Bissiges erwidern, als die Tür aufgerissen wurde und der blonde Junge vom Parkplatz in der Tür stand. In der rechten Hand hielt er den Schlüssel, in der Linken seine Kamera, deren rotes Lämpchen leuchtete. Er nahm also auf.
Vor sich her kickte er einen braunen Umzugskarton.
„Welcome home, Baby!“ Mit einem lauten Knall schloss er die Tür hinter sich und blickte fröhlich in die Runde: „Ich bin Carter. Carter Coleman!“
Fassungslos starrte Victoria ihn an. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit bei den 288 Studenten gewesen, dass ausgerechnet dieser Idiot mit ihr zusammen wohnen würde? Innerlich seufzte Victoria, aber nach außen ließ sie sich nichts anmerken: „Ich bin Vicky“
„Derek“ war wieder nur seine knappe Vorstellung, bevor Derek das Buch aufschlug und damit deutlich signalisierte, nicht in ein weiteres Gespräch verwickelt werden zu wollen.
„Das ist also meine neue Bude. Inklusive neuer Mitbewohner“ redete Carter weiter und schwenkte die Kamera zuerst auf Derek, dann auf Vicky, welche nur hoffen konnte, dass sie gut aussah und nicht so, wie sie sich fühlte.
„Mal sehen was die Hütte sonst noch so zu bieten hat“ Er zwinkerte Victoria zu und stürmte die Treppe hinauf, ohne seine Kiste aus dem Weg zu räumen und ohne die Tür zu schließen.
Und Derek regte sich über sie auf, weil sie ihre Schuhe nicht ausgezogen hatte. Die Zeit hier würde auf jeden Fall eine Herausforderung werden.






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