Schatten des Mondes - Teil 14

Autor: Ai
veröffentlicht am: 07.11.2012


Eric ging vor. Er führte mich hinaus aus der Cafeteria in den Flur, der zu dieser Zeit vollkommen Menschenleer war.
„Was willst du?“ raunte ich ihn an, als er endlich stehen blieb und sich zu mir umdrehte.
„Mit dir reden, habe ich doch schon gesagt“, er wirkt irgendwie unsicher. Seltsam.
„Worüber?“
„Über letzten Freitag.“ So ein Mist, das hatte ich befürchtet.
„Was soll denn letzten Freitag gewesen sein?“ fragte ich so unschuldig wie möglich. Bloß nichts zugeben.
Seine Reaktion auf meine Frage überraschte mich dann doch sehr. Er wirkte traurig, ja fast schon erschüttert. Warum? War er etwa enttäuscht, dass ich mich nicht mehr erinnern konnte? Obwohl ich das natürlich tat, obwohl ich bis zu Letzt gebetet hatte, dass meine Erinnerung nur eine Nebenwirkung der Zauber wahr, dich ich auf mich gelegt hatte.
Aber so, wie Eric mich gerade ansah, war es wohl doch keine Einbildung und in mir stieg wieder die Angst hoch, was ich noch alles getan hatte. Denn ein Teil meiner Erinnerung war noch immer wie weggeblasen.
„Nichts“, sagte er dann nach einer gefühlten Ewigkeit der absoluten Stille. Er wirkte echt traurig.
„Eric?“ flötete plötzlich eine piepsige Stimme hinter mir. Ich wusste schon, bevor ich mich umdrehte, dass es Dalia war. „Eric? Wo bleibst du …?“ piepste sie und hörte abrupt auf, als sie bemerkte, dass er mit mir hier Mutterseelenallein auf dem Flur stand. Finster sah sie von mir zu ihm und wieder zurück. „Was machst du den mit DER hier draußen?“ pfauchte sie.
„Nichts“, wiederholte er mit dem gleichen Bedauern, wie schon zuvor. Er warf mir noch einen kurzen endtäuschten Blick zu und verschwand dann mit Dalia in der Cafeteria.
Ich blieb noch einen kurzen Moment stehen. Was war das nur gerade? Was wollte er mir sagen? Doch schnell verwarf ich diese Gedanken. Es war absolut egal, was er mir sagen wollte. Es war nicht wichtig.
Als ich in die Cafeteria zurück kam, saß Bill mit Kaschmir am Tisch und sie unterhielten sich. Kaschmir hatte allen Ernstes ihr Buch weggelegt und redete mit Bill. Ich habe noch nie miterlebt, wie sie für irgendjemanden ihr Buch weggelegt hatte. Eine Premiere.
Ich setzte mich so lautlos wie möglich an meinen Platz zurück und lauschte ihrem Gespräch. Es ging wohl, wie hätte es anders sein sollen, um das Buch, das Kaschmir gerade laß. Bill kannte es wohl. Soviel ich verstand, hatte er es vor dreiundfünfzig Jahren gelesen. Sie diskutierten über die Hauptcharaktere und was welche Handlung von wem für eine versteckte Bedeutung hatte. Ich verstand nur Bahnhof. Doch diese Diskussion zeigte mir, dass Bill echt klug war und das beeindruckte mich. Außerdem hatte er Kaschmir dazu gebracht, endlich einmal aufzuhören zu lesen. Ein wahres Wunder.
Mir wurde allerdings auch schnell klar, warum gerade er das geschafft hatte. Unter Kaschmirs dunklen Wangen zeichnete sich immer deutlicher ein rötlicher Schimmer ab. Ich konnte ihr nicht verübeln, dass sie ihn so sympathisch fand, ich tat es ja auch.
Ich war so darin vertieft, den beiden bei ihrem Gespräch zuzuhören, dass ich erst, als sie aufstanden, bemerkte, dass die Schulglocke schon längst das Ende der Mittagspause angekündigt hatte.
„Kommst du?“ fragte Bill mit einem umwerfenden Lächeln.
„Ja“ piepste ich schüchtern und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Wie peinlich!
Ich stand auf und trottete ihm nach. „Was hast du jetzt?“ fragte er, als wir im Flur ankamen.
Ich musste kurz überlegen. „Mathe“, sagte ich dann mit ironischer Begeisterung.
„Oh“, er klang endtäuscht. Warum waren heute nur alle von meinen Aussagen endtäuscht? „Ich hab Geographie … in Kursraum 7?“ Der letzte Teil dieses Satzes war mehr eine Frage als eine Aussage.
„Der ist im Erdgeschoss, gleich neben dem Sekretariat“, sagte ich lächelnd und er lächelte zurück. Das Blut in meinen Wangen pulsierte. Sollte jetzt jeder Schultag so ablaufen?
Die Antwort war ein ganz klares Ja. Die ganze Woche lief in etwa so ab, wie dieser Tag. Jeden Tag aßen wir zusammen Mittag, jeden Tag fragte er mich, was ich für Fächer hatte und jeden Tag war er endtäuscht, wenn wir keinen gemeinsamen Kurs hatten. Am Ende der Woche stellte sich heraus, dass wir Zaubertränke und Elixiere, Biologie und Kunst zusammen hatten. Drei Fächer, das hieß acht Stunden pro Woche zusammen mit Bill, inklusive eine Stunde Mittagspause. Und an drei Tagen hatten wir zur selben Zeit aus. Ich wurde rot beim Gedanken daran. Warum zum Teufel zählte ich unsere gemeinsamen Stunden? Warum wurde ich nur dauernd rot in seiner Gegenwart und warum brachten mich seine Fragen dazu, mit einer piepsigen Dalia-Stimme zu antworten? Ich war doch nicht etwa … nein, das war vollkommen ausgeschlossen! Ich war tausend prozentig nicht in William Wicker verliebt!
Das wäre doch total lächerlich. Vollkommen absurd. Ich war noch nie verliebt! Und Bill war ein Geist. Ein Geist! Ich konnte mich doch unmöglich in einen Geist verlieben. Aber sein Lächeln bringt mich um den Verstand. Oh Gott! Und dann ist da auch noch die Sache mit Eric. Wie sollte ich nur damit umgehen? Was sollte ich nur davon halten? Er hatte seit einer halben Ewigkeit mal wieder mit mir normal geredet. Ohne dumme Sprüche oder abschätzige Bemerkungen und er war endtäuscht. Er wollte mit mir über Freitagnacht reden. Aber warum? Ich hatte eigentlich eher angenommen, er würde es unter den Teppich kehren und nie wieder ein Wort darüber verlieren, oder in der ganzen Schule herumerzählen, ich hätte ihn angemacht.
Bis vor zwei Wochen war meine Welt noch geordnet. Ich wusste woran ich bei Eric war und Bill kannte ich noch gar nicht. Alles war in bester Ordnung, doch jetzt hatte ich das Gefühl, meine Welt würde langsam aus den Fugen geraten und ich hatte keine Ahnung, wie recht ich damit haben sollte.





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