Schatten des Mondes - Teil 11

Autor: Ai
veröffentlicht am: 03.11.2012


Nach dem zweiten „Ding Dong“ schleppte ich mich resignierend zur Tür. Ich war gerade erst nach Hause gekommen und trotzdem hatte ich keine Sekunde Ruhe. Mit einem Schwung riss ich die Tür auf und versuchte möglichst unbeteiligt in Bills lächelndes Gesicht zu sehen.
Das gelang mir auch bis zu dem Moment, als er „Hey“ sagte. Denn ab da war es vorbei mit meiner Coolness. Ich lief knallrot an und tat nichts weiter, als ihn anzustarren. Was war nur in letzter Zeit mit mir los? Normalerweise hatte ich kein Problem mit Jungs, eher sie mit mir. Vielleicht war das ja genau der springende Punkt. Jungs hatten sich nie für mich interessiert und mir war das bis jetzt auch egal gewesen, aber jetzt interessierte sich plötzlich ein Geist für mich und die Sache mit Eric.
„Hallo?“ Bill wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. Ich stand noch immer wie benommen in der Tür und starrte ihn an. Wie peinlich.
„Eh ja“, sagte ich viel zu verwirrt. „Hallo.“
Er lächelte. Oh Gott! „Meine Mum schickt mich. Ich soll ein …“, er hielt inne und kramte in seiner Hosentasche nach einem Zettel. „Regenbogen-Pulver.“
Regenbogen-Pulver war ein magisches Färbemittel. Das besondere dabei war, dass es dem Kleidungsstück keine Farbe gab, es wechselte die Farbe einfach je nach Stimmung. Damit konnte man sozusagen ein Stimmungs-Shirt oder eine Stimmungs-Hose herstellen. Eigentlich nicht besonders nützlich, aber doch irgendwie witzig. Ich wusste, dass Mama dieses und andere mehr oder weniger Unnütze Tränke und Pulver in der Abstellkammer aufbewahrte.
Ich nickte tapfer. Reis dich zusammen, Violetta. Schnurstracks lief ich zur Abstellkammer und griff nach einem Packet mit Regenbogen-Pulver. „Hier“, sagte ich, als ich zur Haustür zurück kam und ihm das Packet entgegenhielt.
„Wie viel bekommst du dafür?“ fragte er und nahm mir das Pulver aus der Hand.
„Nichts“, warum klang meine Stimme so piepsig? Ich räusperte mich. „Ist ein Willkommensgeschenk“, das klang schon besser.
„Okay“, er wirkte überrascht. „Danke. Also dann, bis bald mal“, mit diesen Worten verschwand er wieder über die Straße ins Haus gegenüber.
Schnell schloss ich die Tür und ließ mich an ihr zu Boden gleiten. Wo sollte das noch enden? Es war schrecklich.
Ich winkelte die Beine an und legte meinen Kopf darauf. Seit letztem Freitag war es einfach nur mehr furchtbar. Ich wäre in diesem Moment am liebsten im Erdboden versunken. Was am Montag in der Schule los sein würde, darüber wollte ich gar nicht nachdenken. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass Eric seiner Clique, also dem angesagten Teil der Schule, erzählen würde, dass ich unbedingt wollte, dass er die Nacht im Stall bei mir blieb, um dann Nachts über ihn herzufallen.
Am liebsten wäre ich für immer und ewig in diesem Haus geblieben. Keinen Fuß mehr vor die Tür hätte ich gesetzt. Aber leider würde meine Mutter da nicht mitspielen. In dieser Hinsicht war sie absolut kompromisslos. Doch wenigstens konnte ich den Rest des Wochenendes in meinem Zimmer verbringen. Mama hatte einen sechsten Sinn dafür, gewisse Dinge einfach unter den Teppich zu kehren. Ich war ihr sehr dankbar dafür, dass sie kein Wort über den vergangenen Freitag verloren hat. Weder über die Sache mit den Zaubern, noch über die Tatsache, dass ich mich weigerte, zwei Tage lang aus meinem Zimmer zu kommen.
Das war einerseits eine der guten Sachen an Mama. Doch leider hatte diese Eigenschaft auch zur Folge, dass sie mit mir kaum über wichtige Dinge sprach. Ich hatte keine Ahnung, was genau Packu immer für sie erledigte. Doch ehrlich gesagt hatte es mich nie besonders interessiert. Es war schon immer so gewesen und hatte sich seit meiner Kindheit nicht geändert.
Vielleicht war das einer der Grunde, warum sich meine Eltern getrennt hatten, denn ich hatte immer den Eindruck, dass sie meinem Vater nicht viel mehr erzählte, als mir. Das hatte er aber nicht so locker wegstecken können, als ich.
Aber von diesen Dingen hatte ich auch nicht wirklich viel Ahnung. Vielleicht war ich manchmal zu desinteressiert, was meine eigene Familie anging, aber ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es besser war, nicht Alles zu wissen. Ich war sechs Jahre alt, als ich eines Nachts wach wurde. Ein Alptraum riss mich aus dem Schlaf. Ich wollte zu meinen Eltern ins Bett kriechen, wie ich es in so einer Situation immer tat. Doch in dieser Nacht lag mein Vater allein im Bett. Etwas verunsichert warf ich noch einmal einen Blick auf den Flur und flüsterte ängstlich: „Mama?“ Ich hörte Geräusche aus der kleinen Bibliothek am Ende des Ganges. Langsam schlich ich dorthin und sah durch den Türspalt. Es war dunkel, doch unter einem Bücherregal kamen komische Lichter und ein wenig grünlicher Dampf. Als ich das sah, wuchs meine Angst zwar nur noch, trotzdem hatte ich das Bedürfnis, das Regal zu untersuchen.
Vorsichtig öffnete ich die Tür gerade so, dass ich hin durchschlüpfen konnte. Langsam, den Blick immer auf das Regal gerichtet, ging ich durch den Raum. Als ich angekommen war, kniete ich mich auf den Boden und späte durch den Spalt zwischen Regal und Fußboden. Zwischen den grünen Rauchschwaden konnte ich meine Mutter erkennen, neben ihr ein riesiger Topf, aus dem es grünlich schimmerte und von wo auch der Dampf herausquoll. Schon allein diese Situation war für ein sechsjähriges Kind, das gerade aufgrund eines Albtraums aufgewacht ist, sehr beängstigend. Aber was ich dann sah, werde ich nie vergessen. Es war so traumatisch, dass ich auch heute noch manches Mal davon träume, selbst wenn ich jetzt verstehe, was das überhaupt sollte. Trotzdem war es in diesem Moment für mich so unbegreiflich, dass ich anfing zu weinen. Mit dicken Krokodilstränen, die mir über die rosa Backen rannen, rannte ich so schnell ich konnte zu meinem Vater. Diese Nacht verbrachte ich schluchzend in den Armen meines Vaters. Ein halbes Jahr später, trennten sich meine Eltern. Ich weiß nicht, ob diese Situation ausschlaggebend war, ob es überhaupt etwas damit zu tun hatte, oder ob sie schon länger beschlossen hatten, der Beziehung ein Ende zu machen.





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