Schatten des Mondes - Teil 10

Autor: Ai
veröffentlicht am: 27.10.2012


„Vio“, sagte Eric mit leiser, unsicherer Stimme. „Vio“, so hatte er mich schon fünf Jahre nicht mehr genannt. Es war ungewöhnlich, diesen Spitznamen nach so langer Zeit wieder zu hören, denn außer ihm, hatte mich jeder Violetta genannt. Und vor fünf Jahren hat auch er aufgehört, mich so zu nennen. Wenn man es genau nimmt, hat er vor fünf Jahren generell aufgehört, mit mir zu sprechen und ich weiß nicht, warum. Er hat es mir nie gesagt – wie auch, wenn er nicht mehr mit mir redet – und von alleine bin ich nicht drauf gekommen. Also war die Sache dann auch für mich abgehackt. Etwas anderes blieb mir nicht über.
„Vio“, sagte er noch einmal und gab mir mit einem leichten Druck seiner Hand auf meine Schulter zu verstehen, dass ich mich umdrehen sollte. Widerwillig tat ich es. Ich hatte noch immer das Gefühl, mein Körper würde mir nicht mehr gehorchen.
Wieder diese blauen Augen. Diese strahlenden, majestätischen, eisblauen Augen. Was war das nur? Und warum hörte es einfach nicht auf?
„Was?“ sagte ich mit einer viel zu leisen, viel zu brüchigen Stimme.
Seine Antwort war eindeutig. Die Hand, die auf meiner Schulter gelegen hatte, war zu meiner Taille gewandert und zog mich langsam noch weiter zu ihm. Die andere Hand malte derweil die Konturen meiner rechten Gesichtshelfe nach. Seine kalten Finger verursachten eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper. Oh Gott, wie sollte ich da nur wieder raus kommen?
Langsam kamen wir uns immer näher. Ich versuchte auf den Boden zu schauen, weg, von diesen verfluchten, wunderschönen blauen Augen. Doch es half nichts. Seine linke Hand streifte noch ein letztes Mal über meine Wange – ein eiskalter, aber irgendwie angenehmer, Schauer lief mir den Rücken hinunter – dann glitt seine Hand langsam unter mein Kinn und drückte es sanft nach oben, sodass ich ihn ansehen musste.
Es war ein seltsames Gefühl. Es war eine seltsame Situation. Einerseits wäre ich am liebsten aufgesprungen und davongerannt, andererseits hätte ich noch Stunden in diese Augen schauen können. Doch die Tatsache, dass ich wusste, dass diese Augen meinen eigenen Willen brachen und mich verzauberten, machte es mir unmöglich, mich ganz auf diesen Moment einzulassen.
Und so saß ich da, wenige Zentimeter von Eric entfernt. Einerseits mit dem Wunsch, dieser Moment sollte nie vergehen, andererseits mit dem dringenden Bedürfnis, dieser Moment sollte sofort verschwinden. Alles nur ein Traum und diese peinliche Situation hat es nie gegeben.
„Vio“, sagte er noch einmal. Diesmal war es nur ein Hauch von einem Wort. Jedoch weder unsicher, noch nervös. Stark und selbstsicher und wahnsinnig erotisch. Meine Knie wurden weich, hätte ich nicht ohnehin schon auf dem Boden gesessen, ich wäre jetzt sicher zusammen geklappt. So wie er meinen Namen hauchte, so war auch der Kuss, der darauf folgte, nur ein Hauch. Doch das genügte, um mich völlig aus der Bahn zu werfen.
Was sollte denn das alles hier? Zuerst küsse ich ihn, wobei ich nicht einmal genau weiß, warum eigentlich. Er erwidert den Kuss nicht, ich drehe mich beschämt weg und bete, dass dieser Moment, diese Nacht schnell vergehen möge und dann küsst erst wieder er mich. Was sollte denn das?
Ich war so benebelt von diesem Kuss, dass ich beim besten Willen nicht mehr sagen kann, was genau danach passiert ist. Ich weiß nur noch, dass Eric wieder „Vio“ gesagt hat und dann ist meine Erinnerung wie weggeblasen.
Am nächsten Morgen wachte ich im Stall auf, weil mich ein Strohhalm an der Nase piekste. Etwas verwirrt sah ich mich um. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich war und was letzte Nacht passiert ist. Mir schoss sofort das Blut in die Wangen, als mir klar wurde, dass ich Eric Marley vergangene Nacht tatsächlich geküsst hatte und er mich. Noch beunruhigender fand ich allerdings die Tatsache, dass danach für mich nur noch ein schwarzes Nichts kam. Keine Erinnerung mehr an das danach.
Schnell sprang ich auf und lief aus dem Stall. Das Tablett neben dem Haufen Stroh, auf dem ich geschlafen hatte, bemerkte ich dabei nicht. Es war ein Silbertablett mit kunstvollen Verzierungen an den Griffen. Darauf stand ein Teller mit Pfannkuchen, ein Glas Orangensaft und eine Vase mit einer einzelnen roten Rose, anderen Stiel ein Zettel befestigt war. „Für Dich, meine süße Vio, in Liebe Eric“, stand in akkurater Handschrift darauf.
Das alles habe ich nicht gesehen. Hätte ich es gesehen, wäre der Verlauf dieser Geschichte sicher anders gewesen. Aber ich habe es nicht gesehen. Ich bin hinaus gestürmt, habe meinen Besen geholt und mich auf dem schnellsten Weg auf nach Hause gemacht.
Zuhause war niemand, bis auf Chica, die schnarchend in ihrem Körbchen im Wohnzimmer lag. Zum Glück. Ich hätte Mama in diesem Moment nicht verkraftet. Dieser Abend hatte schrecklich angefangen und schrecklich aufgehört und eigentlich war alles die Schuld von diesem William Wicker, denn jetzt setzte langsam die Erinnerung an das Gespräch im Wandschrank wieder ein und an das, was davor geschehen war. An diesem Abend hatte eine peinliche Situation die nächste gejagt. Ich wusste ja, warum ich diese Dinner Freitagabends auf den Tot nicht ausstehen konnte.
Zu allem Überfluss würde mir dann auch noch mehr als deutlich bewusst, dass die Wickers ja unsere neuen Nachbarn waren, denn Bill war gerade dabei, auf unser Haus zu zu marschieren. Bevor ich mich noch richtig auf diese neue, ebenfalls schreckliche Situation vorbereiten konnte, ertönte schon das liebliche „Ding Dong“ der Türglocke. Meine Begeisterung würde kein Ende nehmen, dass sah ich jetzt schon.





Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14 Teil 15 Teil 16 Teil 17 Teil 18 Teil 19 Teil 20 Teil 21 Teil 22


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz