Kämpferherzen - Teil 3

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 21.09.2012


Warme Sonnenstrahlen fielen in das Schlafzimmer.
Mina seufzte leise, sie befand sich noch immer jenseits der Realität in den schlummernden Träumen.
Sie rekelte sich auf dem Bett, drehte sich schnurrend auf die andere Seite – und kniff im nächsten Moment verwirrt und geblendet die Augen zusammen. Abrupt wurde sie aus ihrem Schlaf gerissen, der strahlende Sonnenschein streifte sie, riss Mina jäh aus ihrem Traum. Sie brummte missmutig und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Sie war wach.
Vorsichtig wagte sie es, ihre Lider zu öffnen, bereute es jedoch im nächsten Moment, als das helle Licht der Sonne sie schmerzte, für einen Augenblick blind machte. Erst als sie sich wieder auf die andere Seite gedreht hatte, sich mit dem Ellenbogen auf die Matratze abstützte, wagte sie einen zweiten Versuch. Diesmal klappte es.
Noch ein wenig schlaftrunken ließ Mina ihren Blick durch den Raum schweifen. Er war so ungewöhnlich hell im Gegensatz zu gestern. Die Sonne durchflutete das Schlafzimmer; die junge Frau hatte gestern Abend scheinbar vergessen, die Gardinen vorzuziehen. Nun wurde sie für ihre Unachtsamkeit gestraft.
Mina runzelte die Stirn.
Am vorigen Tag war die Welt noch grau und eintönig gewesen, es hatte geregnet, das Gewitter hatte für eine angespannte Unterweltatmosphäre gesorgt. Doch heute schien das Wetter sich revanchieren zu wollen.
Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Welche Ironie, dachte Mina schmunzelnd und sammelte all ihren Mut zusammen, ehe sie ihre Beine über das Bett schwang. Das Wetter passte zu ihrer Stimmung, zu ihrer Gefühlslage. Noch gestern war sie müde, traurig, gereizt und voller Sorgen gewesen. Heute ging es ihr erheblich besser. Sie fühlte sich freier, ausgelassener, als wäre eine schwere Last von ihren Schultern gerutscht.
Mina genoss dieses Gefühl. Sehr sogar.
Ein neuer Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der ihr Lächeln ein wenig vertiefte. Augenblicklich galoppierte ihr Herz schneller, als sie an Alex dachte.
Er war hier.
Ihr Bauch fing an zu kribbeln. Sie erhob sich, tapste mit den nackten Füßen über den alten Holzboden und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, welcher über der antiken Kommode hing.
Sie begegnete ihrem Blick. Dunkelbraune Augen musterten sie, betrachteten das blasse Gesicht, die schmalen Lippen und die kleine Nase. Mina hatte sich schon immer langweilig gefunden. Sie war durchschnittlich, keine besondere Schönheit, welche jegliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Braune Haare, braune Augen. Nicht mehr und nicht weniger. Ein absolut normaler Mensch, der in großen Menschenmengen nicht weiter auffiel.
Mina rümpfte die Nase.
Manchmal wünschte sie sich, ein wenig interessanter zu sein. Vielleicht eine hübsche, auffallende Augenfarbe oder ein einprägsames Gesicht. Keine 08/15- Person.
Aber Mina konnte dies nun mal nicht ändern.
Seufzend wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab, schnappte sich schnell ein paar frische Klamotten und verschwand im Badezimmer. Während sie ihr morgendliches Ritual durchführte, fragte sie sich, ob Alex noch immer schlief. Womöglich war er sogar schon wach oder – bei diesem Gedanken erstarrte Mina für einen kurzen Moment – er war schon längst mit seinem Auto wieder davongefahren, hatte sich ohne ein weiteres Wort von dannen gemacht.
Heftig schüttelte Mina den Kopf.
Nein, so durfte sie nicht denken. Alex würde nicht einfach abhauen. Zumindest nicht, wenn es wirklich dringend wäre. Die Brünette versuchte sich zu beruhigen und entspannte sich schon bald wieder. Dennoch hatte sie ihre Lippen zu einer ruhelosen, bleistiftdünnen Linie zusammengepresst.

Als Mina die Treppenstufen nach unten stieg, fing ihr Herz wieder an wild zu klopfen. Sie konnte hören, wie jemand in der Küche mit Geschirr und Besteck hantierte, Schubladen wurden aufgerissen, Schränke geöffnet.
Ein erleichtertes Seufzen entfloh ihren Lippen. Alex war nicht verschwunden.
Mina kam sich ein wenig gemein vor, weil sie so schlecht über ihn gedacht hatte. Aber andererseits waren ihre Befürchtungen auch berechtigt gewesen, wie sie fand. Bei ihm war sie sich noch immer ein wenig unsicher; es würde Zeit brauchen, bis sie beide wieder aufeinander bauen konnten.
Urplötzlich und ohne dass Mina es geahnt hätte, tauchten ein paar Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf auf; verwundert blieb sie auf der letzten Stufe stehen. Der Beginn. Der Anfang ihrer Liebe, ihrer Zusammengehörigkeit.
Der erste Schritt.


– Rückblende –
Der Winter zeigte sich von seiner besten Seite.
Mit schnellen Schritten passierte Mina die Straßenübergänge; ihr Atem kam nur stoßweise, weil sie so rannte. Ein leichter Schneeregen hatte eingesetzt, streichelte sanft ihr Gesicht, verfing sich in ihren Haaren.
Mina kannte sich nicht sehr gut in Berlin aus, doch den Weg zu dem angesagten Café hätte sie auch im Schlaf gehen können. Er war ihr so vertraut und geläufig, dass Mina es schon beinahe peinlich fand.
Erst seit Oktober lebte sie mit zwei weiteren Frauen in einer Wohngemeinschaft in der berühmt berüchtigten Hauptstadt Deutschlands, um an der »Universität der Künste Berlin« zu studieren. Bisher gefiel es Mina außerordentlich gut, auch wenn sie die Stadt selbst durch ihre Schattenseiten nicht unbedingt zu ihren Lieblingen zählte.
Mina keuchte atemlos.
In puncto Pünktlichkeit war sie - wie sie sich selbst mit knirschenden Zähnen eingestehen musste - nicht sehr zuverlässig. Schon oft hatte sie sich wegen diesem kleinen Makel aufgeregte Tiraden von ihren Freunden, Verwandten und hin und wieder auch einigen Lehrern anhören müssen. Nur während des Studiums hatte sie es bisher gut geschafft, immer pünktlich zu den Vorlesungen zu kommen. Das war in ihren Augen schon einmal ein Fortschritt.
Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie endlich ihr Lieblingscafé erreichte. Zusammen mit Alex hatte sie diesen kleinen Ort ausfindig gemacht und beide hatten sich sofort in das Café verliebt. Seitdem war es für sie zu einer Art Ritual geworden, jeden Sonntag ihr Frühstück gemeinsam dort zu verbringen.
Ein wohliges Kribbeln erfasste Mina, als sie den Blondschopf am Eingang entdeckte. Er hatte die Hände in den Vordertaschen seiner Jeans vergraben und warf ihr ein spitzbübisches Lächeln hinzu, als sie mit geröteten Wangen und schnaufend vor ihm zum Stehen kam. Ihre Lungen brannten.
Alexander Vanderzee war in den letzten zwei Jahren zu einem sehr guten Freund für Mina geworden. Grob gesehen kannten sich beide seit der fünften Klasse, doch er blieb ihr während der Schulzeit fremd und ohne Bedeutung, zumal er nur in ihre Parallelklasse ging und sie sich sehr wenig mit den anderen Schülern außerhalb ihrer eigenen Klasse beschäftigt hatte. Erst als beide die gymnasiale Oberstufe erreicht hatten und ein paar Kurse miteinander belegten, freundeten sie sich an.
Mina fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und verzog eine abschätzige Grimasse, als sie den kalten, nassen Regen spürte. Er tropfte von ihren Haaren, lief ihre Wangen hinunter.
„Sieben Minuten“, sagte Alex und grinste breit.
„Eine Besserung, oder?“, fragte Mina mit einem heiteren Lächeln und umarmte den großen Blondschopf zur Begrüßung.
„Nun, letztes Mal waren es neun Minuten, die du zu spät warst“, räumte er ein und zuckte mit den Schultern. Er öffnete die Tür zum Café und gewährte Mina den Vortritt. Über die Schulter hinweg lächelte sie ihn an.
„Siehst du, ich werde immer pünktlicher“
Sie suchten sich einen Platz am Fenster und ließen sich auf die gepolsterten Stühle nieder. Sonntag war einer von Minas Lieblingstagen. Sie gab zu, dass ihr der Tag nur deshalb so gut gefiel, weil sie sich sicher sein konnte, Alex zu sehen. Schon vor ein paar Wochen hatte Mina sich eingestanden, dass sie für ihn mehr empfand als sie sollte. Ja, sie hatte Gefühle für ihn, die weit über die freundschaftliche Ebene hinausragten. Jedoch würde sie ihm dieses Geständnis niemals erzählen, sie hatte zu große Angst vor seiner Reaktion.
„Und?“, fragte Alex neugierig und beugte sich über den Tisch hinweg zu ihr rüber. „Was hast du heute noch vor?“
Mina legte den Kopf schief. „Ich weiß noch nicht. Bei diesem Wetter kann man ja nicht viel machen, außer sich auf das Sofa zu fläzen und ein Buch lesen“
„Ach, nein?“, fragte er neckisch. „Seit wann so voller Tatendrang?“
Sie verdrehte lächelnd die Augen. „Mach dich nicht lustig über mich. Hast du etwa eine bessere Idee, was man heute machen könnte?“
„Allerdings“
Mina hob die Augenbrauen und sah ihn erwartungsvoll an.
Sein freches Grinsen ließ ihren Herzschlag unkontrolliert und heftig schnell gegen ihre Brust donnern. Beinahe befürchtete sie schon, er könnte es hören, so laut vernahm sie das Pulsieren in ihren Ohren. Ihre Hände, die vor ein paar Minuten noch fast erfroren wären, begannen nun zu schwitzen. Es war immer das Gleiche, dachte Mina höhnisch. Bei ihm in der Nähe wurde ihr immer sehr warm und ihre Hormone spielten verrückt. Wenn sie sich im Spiegel sehen könnte - so war sie sich sicher - würde sie einer 19-Jährigen mit knallroten Wangen, nassen Haaren und rissigen Lippen begegnen. Kein schöner Anblick.
Mina räusperte sich und holte sich gewaltsam wieder in die Gegenwart zurück. Es kam oft vor, dass sie mit ihren Gedanken abschweifte. Am peinlichsten war es jedoch, wenn sie aus ihren Tagträumen gar nicht mehr aufwachte. Manchmal kam es vor, dass sie sich zu sehr in die Vorstellung vertiefte, Alex zu küssen, seine weichen Lippen zu spüren und mit den Händen durch sein dichtes Haar zu fahren.
Sie seufzte frustriert. Soweit würde es nie zwischen ihnen kommen, da war sie sich sicher. Mina konnte einfach keine Andeutungen seinerseits spüren, dass er ebenfalls
mehr für sie empfand.
„Und was schwebt dir da so im Sinn?“, fragte sie Alex, als sie bemerkte, dass die Stille zwischen ihnen zu lang wurde. Erstaunlicherweise klang ihre Stimme fest und normal.
„Wie wäre es mit einem Nachmittag zu zweit“, schlug er vor.
„Ein Nachmittag zu zweit?“, echote sie verwundert. Ihr Herz machte einen freudigen Satz.
„Ja, nur wir beide“
Mina beleckte sich die Lippen. „Und wie stellst du dir das vor?“
„Wie hättest du es denn gerne?“
„Keine Gegenfragen!“
Er lachte leise. „Na gut. Dann würde ich sagen, lassen wir uns von den Ereignissen treiben“
Die Brünette warf ihm einen skeptischen Blick zu.
Auch wenn der Gedanke, den Tag gemeinsam mit Alex zu verbringen, sie freudig stimmte, wurde sie ein wenig befangen und unsicher. Hatte sie sich das vorfreudige Glitzern in seinen Augen nur eingebildet?
Sie biss sich auf die Unterlippe.
Als die Bedienung kam, bestellten sie ihr Frühstück. Dafür hatten beide noch nicht einmal in die Karte schauen müssen, denn jeder von ihnen hatte bereits seinen geschätzten Favoriten.

Manchmal fragte Mina sich, ob es Schicksal war. Alex und sie hatten beide in Stralsund gelebt, waren dort auf dieselbe Schule gegangen und hatten dieselben Lehrer gehasst. Nun lebten sie in Berlin.
Jeder von ihnen hatte einen Studienplatz in der Großstadt ergattert; um sich zu sehen, mussten sie meistens nur ein paar Stationen mit der U-Bahn fahren und dann einen kleinen Fußmarsch einlegen.
Alex und Mina plauderten locker, während sie frühstückten. Sie redeten über ihr Studium, über die Leute, über ihre WG-Bewohner, Berlin, das Essen, Vergangenheit. Mina gab zu, dass sie Stralsund ein wenig vermisste. Die Hauptstadt Deutschlands konnte es nicht mit dem zauberhaften Glanz der Hansestadt aufnehmen.
Es war schön mit Alex zu reden.
Irgendwann entschlossen die beiden aber, nun zu bezahlen und das Café zu verlassen. Draußen hatte der Schneeregen ausgesetzt, die Straßen waren rutschig und mit braunem Matsch bedeckt. Der Januar neigte sich dem Ende zu.
„Also, wo wollen wir hin?“, fragte Mina und schaute Alex neugierig an.
Er hob den Kopf und ließ seinen Blick durch die Gegend schweifen. Seine Stirn kräuselte sich, er schien nachzudenken. „Wie wäre es mit einem Spaziergang?“
Sie lächelte. „Okay, meinetwegen“
Zusammen gingen sie die Straße entlang, ihre Arme berührten sich dabei. Obwohl beide eine dicke Winterjacke trugen, prickelte die kaum merkliche Berührung. Mina presste die Lippen aufeinander.
Ein Spaziergang war für beide nichts Außergewöhnliches. Oft liefen sie durch die Bezirke Berlins, da beide noch kein eigenes Auto hatten. Mina mochte es mit Alex gemeinsam die Großstadt zu erkunden. Beide lebten sie erst seit knapp drei Monaten hier und waren blutige Anfänger, wenn es darum ging, den Treffpunkt von neu gewonnenen Freunden ausfindig zu machen.
Aber sie hausten beide in Wohngemeinschaften, so dass sie ihre Mitbewohner, welche meistens schon ein paar Monate oder Jahre länger in dieser Metropole wohnten, als Navigationssystem verwenden konnten.
Schweigend schlenderten Alex und Mina an den vielen, geschlossenen Geschäften vorbei, warfen hin und wieder einen neugierigen Blick in das Schaufenster, ehe sie ihren Gang fortführten.
Erst als sie vor seiner Haustür standen, realisierten beide, dass sie eher unterbewusst den Weg zu Alex‘ WG eingeschlagen hatten. Oder war das seine Absicht gewesen und Mina hatte es einfach nur nicht bemerkt?
Er warf ihr einen fragenden Blick zu und sie lächelte bestätigend. Warum nicht? Mit einer routinierten Handbewegung schloss Alex die Haustür auf; vor ihnen erstreckte sich eine breite Treppe nach oben und zwei Türen, jeweils links und rechts, die zum Hausmeister gehörten.
Die Wohngemeinschaft von Alex befand sich im dritten Stockwerk. Mina versuchte nicht zu laut nach Atem zu ringen, als sie die schier unendlichen Treppenstufen nach oben stiegen. Der Blondschopf warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu und grinste hämisch. Sie funkelte ihn daraufhin nur wütend an und schnaufte wie ein Ochse.
Mina lebte mit ihrer WG in einer durchaus aparteren Wohngegend – und im ersten Stock, worüber sie auch heilfroh war. Sie war nicht so ausdauernd und sportlich wie Alex, welcher die Stufen mühelos empor stieg. Im Gegensatz zu ihm spürte sie schon nach ein paar Sekunden, wie die Kälte aus ihr wich und Hitze sich in ihr breit machte. Sie hasste es immer wieder, diese Treppen hinaufzugehen.
Schließlich betraten sie die Wohnung. Erleichtert zog Mina ihre dicke Winterjacke aus und zupfte an dem Saum ihres Rollkragenpullovers. Danach schlüpfte sie aus ihren Schuhen und sah zu Alex auf.
„Keiner da?“, fragte sie verwundert.
Er zuckte mit den Schultern und ging in die Küche. Sie folgte ihm. Als er ihr ein Glas Wasser einschenkte, nahm Mina es dankbar an. „Laura ist das Wochenende über zu ihren Eltern gefahren. Sie kommt erst heute Abend wieder“
Der Blondschopf füllte sein Glas ebenfalls mit Wasser und nippte kurz daran.
„Justin ist seit gestern Abend nicht mehr da. Wahrscheinlich hat er in der Diskothek eine Frau kennengelernt. Und Oliver müsste sich nun auch auf dem Rückweg von seiner Freundin befinden“
Mina hob die Augenbrauen. „Sie wohnt in Lüneburg, richtig?“
Er nickte.
„Der Arme. Ständig muss er soweit fahren“, seufzte sie und stellte das Glas auf der Küchentheke ab.
„So ist das Schicksal“, entgegnete Alex und grinste auf einmal schief. „Da haben wir wohl mehr Glück, was?“
Mina lachte. „Stimmt. Aber wir sind ja auch kein Paar“
„Und wenn schon“, erwiderte er und lehnte sich an den Tresen. „Wenn du woanders leben würdest und ich ein Auto hätte, würde ich trotzdem versuchen, dich sooft zu besuchen wie möglich. Und wenn ich keines hätte, dann würde ich den Bus nehmen. Oder den Zug. Je nachdem“
Minas Herz schlug schneller gegen die Brust. Sie war gerührt von seinen Worten und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
Alex räusperte sich und stieß sich vom Tresen ab.
„Gehen wir in mein Zimmer?“, wechselte er unverwandt das Thema.
Die Brünette blinzelte irritiert. „Meinetwegen“

In seinen eigenen vier Wänden ließ Mina sich auf die Bettkante sinken und schaute sich im Raum um. Sie war schon oft hier gewesen. Unzählige Male.
Das Zimmer von Alex war eher spartanisch eingerichtet. All die notdürftigen Möbel waren vorhanden, mehr aber auch nicht. Auf seinem Schreibtisch lagerten sich Bücher, die er für sein Studium brauchte.
Das einzige persönliche Detail, welches Mina vorfand, waren zwei Fotos. Eines befand sich auf seinem robusten, hölzernen Nachttisch. Dort war Alex mit seinen Eltern und der kleinen Schwester abgebildet. Ein Familienfoto. Das andere hing an der Wand über dem Schreibtisch. Es zeigte seinen engsten Freundeskreis, unter anderem auch Mina selbst. Sie alle lächelten in die Kamera.
Freunde.
Mina biss sich auf die Unterlippe und warf einen verstohlenen Blick zu Alex, welcher sich auf seinen Schreibtischstuhl setzte. Für ihn würde sie nie mehr, als ein Kumpel sein. Dazu verbannt, in seinen Augen immer nur als kameradschaftliche Freundin angesehen zu werden. Dessen war Mina sich sicher.
Sie seufzte erschüttert.
Ein neuer, unmöglicher Gedanke nahm in ihrem Kopf Gestalt an. Alex und eine unbekannte Schönheit - seine Geliebte. Mina verzog das Gesicht. Ihr bester Freund würde irgendwann heiraten, Kinder bekommen. Er würde sie vergessen. Bald wäre Mina nur noch ein kleines Kapitel in seinem Leben. Eine Bekannte, die nicht weiter von Bedeutung wäre.
Diese Vorstellung stimmte sie traurig. Sollte es wirklich so sein? Sollte ihre Freundschaft wirklich so enden? Vielleicht sollte Mina sich einen Ruck geben, endlich die Karten offen legen, die Wahrheit sagen.
Nervös malträtierte sie ihre Unterlippe und warf erneut einen unauffälligen Blick zu Alex – und schaute ihm direkt in die blauen Augen. Überrascht zuckte sie zusammen. Er hatte sie die ganze Zeit offen beobachtet, ihren stillen Kampf mit angesehen. Minas Wangen färbten sich rot.
„Worüber denkst du nach?“, fragte der Blondschopf geradeheraus und legte interessiert den Kopf schief.
Ihr Herz raste. Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass sie kurz davor war, ihm ihre Liebe zu gestehen! Nein, das war absurd.
Mina schluckte hart. „I-ich denke über gar nichts nach“
Alex lachte. „Natürlich. Ich denke auch immer und sehr gerne an nichts. Das ist mein zweites Hobby“
„Blödmann!“, versuchte sie sich mit einem nervösen Lächeln zu wehren.
Sie wollte so tun, als wäre sie ruhig und gelassen. Doch, dass ihre Wangen noch eine Spur tomatenähnlicher wurden und sie hart die Lippen aufeinander presste, bewiesen, dass Mina ganz und gar nicht so nonchalant war wie Alex. In ihr tobte ein gewaltiger Wirbelsturm.
Es war ihr unangenehm, dass er sie erwischt hatte, wie sie in ihren Gedanken eine Debatte gestartet hatte. Alex war kein Einfaltspinsel. Er hatte mit Sicherheit schon längst bemerkt, dass Mina über etwas nachgrübelte. Und er würde so lange auf sie einreden, bis sie endlich mit der Sprache rausrückte.
Seufzend ließ sie die Schultern hängen.
Mina spürte, wie Alex sie skeptisch musterte. Er war ratlos. Seine Stirn hatte sich gekräuselt, er schien nachzudenken. Sie biss sich auf die Innenwange. Wenn Alex sich mit etwas beschäftigte und er anfing, Fragen zu stellen, dann konnte ihn nichts mehr aufhalten. Minas Untergang war geweiht.
„Irgendetwas liegt dir doch auf dem Herzen“, meinte er und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.
Nicht gut.
Überhaupt nicht gut.
Wäre Mina in diesem Moment Pilotin gewesen, hätte sie wohl nun tausend Mal »SOS« als Notruf gesendet und ständig »Mayday, Mayday!« in den Funksprecher gebrüllt. Vielleicht - um das Ganze noch perfekt zu machen - hätte sie ihren Copiloten mit ernster Miene angeschaut und dann die Zauberworte „Houston, wir haben ein Problem“ ausgesprochen.
Das Drama wäre vollkommen.
Unruhig rutschte sie auf dem Bett hin und her, hielt den Blick gesenkt. Womöglich hätte er sonst ihr Geständnis in den Augen gesehen.
„Mir liegt nichts auf dem Herzen“, versuchte sie ihn zu beruhigen und studierte den hellen Parkettboden. „Das bildest du dir wahrscheinlich nur ein“
„Versuch es erst gar nicht“, warnte Alex und setzt eine strenge Miene auf. „Deine Ausreden sind schlecht. Schlechter als die meiner Schwester“
Mina schaute auf.
Sie hatte aus den Augenwinkeln gesehen, wie der Blondschopf sich langsam erhoben hatte. Ein selbstgefälliges Grinsen zierte seine Lippen.
„Wenn du es mir nicht freiwillig sagen willst…“, begann er. Ein boshaftes Funkeln hatte sich in seine blauen Irden geschlichen. „…dann muss ich dich wohl dazu bringen“
Mina schluckte hart.
Automatisch wich sie zurück, als er mit schnellen Schritten auf sie zukam. Ihre Gedanken erstellten schon einen Fluchtweg in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, was Alex vorhatte. Notfalls würde die Brünette über das Bett hinweg krabbeln, um somit auf die andere Seite zu gelangen.
– Doch soweit kam sie erst gar nicht.
Sie war zu langsam.
Erschrocken quiekte Mina auf, als Alex sie plötzlich an den Schultern packte und rücklings auf das Bett drückte. Im nächsten Moment legte er seine Hände an ihre Seiten und begann sie zu kitzeln.
Mina lachte laut auf und versuchte sich gackernd von ihm zu befreien. Aber es war vergebens. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen, dass Alex ihre hohe Empfindlichkeit ausnutzte?
Sie hob ihre Hände und versuchte ihn an den Schultern wegzudrücken. Doch er neckte sie daraufhin an den Achseln, so dass Mina ruckartig die Arme wieder sinken ließ und sich unter ihm windete.
„Aufhören!“ schnaufte sie, während einzelne Lachtränen ihre Wangen hinab rollten. Ihr Gesicht war schon ganz gerötet. „Bitte!“
Sie japste nach Luft.
Es schien, als würden seine Hände überall sein. Auf ihrem Bauch, an den Seiten, bei den Achseln, am Hals. Seine Berührungen machten sie ganz verrückt!
„Alex!“, schrie sie lachend. Es sollte eigentlich warnend und sehr vorwurfsvoll klingen. Aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. „Ich kann nicht mehr!“
Er hörte auf sie zu kitzeln und beugte sich leicht zu ihr runter. Mina keuchte und versuchte ihren Gegenüber anklagend anzuschauen. Er war ihr so nah, dass ihr wild pumpendes Herz noch eine Spur schneller gegen ihre Brust schlug.
„Verrätst du mir jetzt, was dich bedrückt?“, fragte er mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen.
Mina rang nach Luft und genoss die kurze Verschnaufpause. In ihrem Kopf war alles durcheinander geraten, ihr ganzer Körper kribbelte. Noch nie war sie Alex so nahe gekommen. Natürlich hatte er sie hin und wieder mal gekitzelt, aber nicht in diesem Ausmaß. Sie hatte gedacht, sie würde gleich sterben vor Lachen. Aber es tat auf eine verrückte Art und Weise auch gut.
„Ich kann es dir nicht sagen“, erwiderte sie keuchend und pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht.
Alex runzelte die Stirn. „Warum nicht?“
„Weil… es sehr peinlich ist“, erklärte sie. Ihre Brust hob und senkte sich schnell.
Alex hatte seine Arme links und rechts neben ihr abgestützt. Am liebsten hätte Mina ihre Hände nach ihm ausgestreckt, den Blondschopf zu sich gezogen und geküsst. Doch sie beherrschte sich und verscheuchte die Gedanken schnell aus ihrem Kopf.
„So schlimm kann es doch gar nicht sein“, meinte Alex und hob eine Augenbraue. „Ich glaube eher, du bluffst“
„Gar nicht!“, protestierte Mina aufgebracht und reckte trotzig ihr Kinn. Es war ihr egal, dass sie sich wie ein störrisches Kleinkind benahm.
„Du willst es mir also nicht erzählen?“, hakte Alex nach.
„Ganz genau!“
Die Wörter waren ihr einfach aus dem Mund geschlüpft ohne, dass Mina genauer darüber nachgedacht hatte. Am liebsten hätte sie sich gegen die Stirn geschlagen.
Alex grinste. „Wie du meinst“
Er legte wieder seine Hände an ihre Taille und Mina sog scharf die Luft ein. Noch eine Tortur würde sie nicht überstehen.
„Ich habe den ganzen Tag Zeit, um es herauszufinden“, erklärte er. Und schon setzten sich seine Hände wieder in Bewegung.
Mina bäumte sich lachend auf und verfluchte im Inneren Alex, seine Beharrlichkeit, sein Aussehen, seine Art. Und auch sich selbst. Kitzeln war eine der schlimmsten Folter für Mina.
„Nein, nein, nein, nein!“, rief sie prustend. Ihr Bauch schmerzte schon vor Lachen. Mit Sicherheit nahm sie gerade schön viele Kalorien ab. Immerhin ein Pluspunkt. „Bitte, nicht!“
Sie war erschöpft und kaputt.
Noch ein paar Sekunden rekelte sie sich lachend unter ihm, ehe Alex auf einmal aufhörte sie zu kitzeln und stattdessen in ein sanftes Streicheln mit seiner flachen Hand überging. Ein wenig verstört runzelte Mina die Stirn, ließ dann aber keuchend den Kopf in das Kissen sinken und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Sie wusste nicht, was er vorhatte.
Ein erstickter Laut verließ ihren Mund, als sie plötzlich seine Lippen an ihrem Hals spürte. Fest saugte er an ihrer Haut und Mina ließ stöhnend den Kopf in den Nacken fallen. Ihre Hände krallten sich an seinen Schultern fest, sie war unschlüssig, ob sie ihn näher zu sich ran ziehen oder wegstoßen sollte.
Fragen schossen ihr durch den Kopf: Warum macht er das? Was geht hier gerade vor? Was zur Hölle soll das?
Sie fand keine Antworten.
Nachdem Alex ihr einen gehörigen Knutschfleck verpasst hatte, wanderten seine Lippen auf einmal höher, über ihr Kinn – und schließlich zum Mund. Ganz sanft legte er seine Lippen auf ihre, küsste sie zärtlich.
Mina vergaß die Welt um sich herum. Das konnte nur ein Traum sein. Ein extrem berauschender Traum, der sich verdammt echt anfühlte.
Alex‘ Lippen waren weich und warm. Er liebkoste sie auf eine absolut fabelhafte Weise, dass Mina keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ihre Hände wanderten vorsichtig von seinen Schultern zum Nacken. Dort versenkte sie sie in seinen dichten, blonden Haarschopf und seufzte wohlig.
– Aber mit einem Schlag meldete sich die Vernunft bei ihr, stieß die Tür zu ihren Gedanken auf, die geklemmt hatte.
Mina riss sie Augen auf und erstarrte. Abrupt wich sie zurück und schaute Alex verdattert an. Sein Blick war verschleiert, ein entrücktes Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er sie musterte.
„Das wollte ich schon die ganze Zeit machen“, gab er flüsternd zu.
Sein Atem streifte ihr Gesicht, Minas Herz setzte einige Male aus, als sie seine Worte realisierte. Ungläubig sah sie ihn an.
„Moment!“ Ihre Stimme war brüchig und rau. „Heißt das, du… du…“
„Ja“
Er beugte sich zu ihrem Ohr, ein schiefes Grinsen auf seinen Lippen.
Mina glaubte Sterne zu sehen, als er ihr zuflüsterte: „Ich liebe dich. Und zwar schon eine ganze Weile“
Sie schnappte nach Luft.
Ihre Augen huschten prüfend über sein Gesicht, versuchten irgendein Indiz zu finden, dass Alex log. Doch Mina suchte vergeblich.
„Meinst du das ernst?“, fragte sie vorsichtig und schaute ihn zweifelnd an.
Er grinste. „Soll ich es dir beweisen?“
Und noch ehe Mina irgendetwas erwidern konnte, legten sich seine Lippen wieder auf ihre. Diesmal fordernder.
Sie reagierte reflexartig, zog ihn am Haarschopf näher zu sich ran und erwiderte seinen Kuss mit ebenso viel Inbrunst. Seine Hände streichelten ihren Rücken, schlüpften unter den Rollkragenpullover und berührten dort sanft ihre Haut. Mina seufzte. Sie spielten mit ihren Zungen, fochten einen kleinen Wettkampf aus, keiner wollte verlieren.
Ja, an diesem Tag bewies Alex mehrmals wie sehr er Mina liebte.

– Gegenwart –

Tief holte sie Luft.
Die Erinnerung verebbte, langsam und allmählich gelang Mina wieder in die Realität zurück. Ihr Bauch kribbelte immer noch.
Sie fühlte, wie ihre Hand schweißnass auf dem Treppengeländer ruhte. Ihr war verdammt warm, das erhitzte Gesicht hatte eine rote Farbe angenommen.
Mina stand auf der letzten Treppenstufe.
Sie erinnerte sich, wie sie nach drei Jahren des Studierens ihren Bachelor-Titel erhalten hatte. Mit 22 war die junge Frau stolz nach Stralsund zurückgekehrt, in ihre erste, eigene Wohnung. Fünf Monate später hatte Alex ebenfalls eine Unterkunft in der Hansestadt gefunden.
Sie waren glücklich gewesen.
Mina fuhr sich mit der Hand durch das Haar und seufzte schwermütig.
In der Küche hantierte Alex immer noch mit dem Besteck, womöglich deckte er gerade den Tisch. Die junge Frau schluckte schwer.
Alex und sie hatten sich geliebt. Diese Liebe konnte nicht einfach verschwunden sein, dessen war Mina sich sicher. Sie mussten ihre Hinneigung wiederfinden, die tief vergraben unter anderen Gefühlen – Enttäuschung, Wut und Unsicherheit – sich danach sehnte, wieder an die Oberfläche zu kommen.
Beide hatten sie einen herben Verlust erlitten.
Beide mussten sie nun wieder aufstehen und kämpfen. Ihre Herzen waren Kämpferherzen, miteinander verschmolzen. Sie durften den Glauben nicht verlieren, mussten aus dem Leben lernen.
Den ersten Schritt wieder wagen.
Ein Neubeginn.

Minas Blick schweifte nach unten zu ihren Füßen. Nur noch eine Stufe. Ein einziger Schritt. Dann wäre sie unten, auf festem Boden.
Sie schloss kurz die Augen und sog die Luft ein – dann hob sie ihr Bein und stieg die letzte Stufe hinunter.




|Ende|


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Wie gesagt, es ist nur eine Kurzgeschichte mit einem offenen Ende.
– Fies, ich weiß. ^_^
Ich hoffe, es hat euch gefallen ;-)
& ich wollte mich noch einmal für eure lieben Kommentare bedanken :-P

LG,
I.AMsterdam






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