Kämpferherzen - Teil 2

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 18.09.2012


Dankbar schlüpfte der Blondschopf an ihr vorbei und schälte sich sogleich aus seiner Strickjacke, während die junge Frau den Regen wieder aussperrte und die Tür verriegelte. Sicher war sicher.

**
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete Alex. Seine Präsenz war ihr vertraut und gleichzeitig fremd. Lange hatte sie ihn nicht gesehen. Zu lange.
Als er sie mit einem zerknirschten Blick ansah, seufzte Mina ergeben. Aus dem Gäste-WC holte sie ein Handtuch, welches sie Alex in die Hände drückte. Eine peinliche Stille dehnte sich zwischen den beiden aus.
„Gehen wir ins Wohnzimmer“, meinte Mina schließlich. „Dort können wir reden“
Ihr Gegenüber nickte nur.
Schweigend setzten sie sich beide auf das Sofa, ein dezenter Abstand zwischen ihnen. Niemand sagte etwas. Das Herz der jungen Frau klopfte, sie hörte ihr Blut rauschen, ähnlich wie das Meer.
Zögernd warf sie einen Blick auf den blonden Schönling.
Mina versuchte, sich über ihren Gefühlen im Klaren zu sein. Alex hatte sie ziemlich überrumpelt, sie hatte geglaubt ihn nie wieder zu sehen. Er war damals einfach verschwunden, hatte sie im Stich gelassen. Und das nahm sie ihm immer noch übel.
Sie fühlte sich verletzt von ihm, war gekränkt.
Alex und Mina waren ein Paar gewesen. Vier Jahre lang hatten sie eine glückliche Beziehung geführt, bis…
Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Heute ist ihr Todestag«, hatte Alex gesagt. Er erinnerte sich also auch, es verfolgte ihn ebenfalls. Der Schmerz, der Verlust. Er konnte es nicht abschütteln.

„Wieso bist du hier?“, wiederholte Mina ihre Frage und schaute Alex mit einer Mischung aus Verwirrung und Schwermut an.
„Ich… hatte einfach das Gefühl, dich sehen zu müssen“, erwiderte er ohne sie anzuschauen. Seine Wangen waren gerötet, das Haar zerzaust.
„Du hattest das Gefühl, mich sehen zu müssen?“, hakte Mina entgeistert nach und schnaubte verächtlich. „Nach einem Jahr, in dem ich kein einziges Wort von dir gehört habe, dachtest du dir, dass es mal wieder Zeit wäre, mir einen Besuch abzustatten?“
„So einfach ist das nicht“, erwiderte Alex kleinlaut.
Mina war fassungslos und empört. Beinahe bereute sie es schon wieder, Alex hereingelassen zu haben. Dabei hatten sie kaum ein paar Worte gewechselt.
Er fuhr sich durch die nassen Haare, huschte mit seinen Augen verzweifelt durch den Raum. Er wirkte hilflos.
„Ich habe an dich gedacht“, erwiderte er. „Das ganze Jahr über habe ich an dich gedacht! Ich habe dir Briefe geschrieben, jede Woche“
Mina war skeptisch. „Ich habe nie einen bekommen“
„Weil ich sie nicht abgesendet habe“, erklärte Alex und schaute sie an. „Sie liegen bei mir Zuhause auf dem Schreibtisch“
In seinem Blick konnte die Brünette etwas Verletzliches erkennen. Er war so offen und ehrlich, das hatte sie nicht erwartet. Seine Worte berührten sie ohne dass Mina es verhindern konnte.
Erneut schwappten die Erinnerungen über sie ein wie eine große Welle. Ein Tsunami. Es erdrückte sie, zwang sie in die Knie. Die junge Frau senkte den Blick, konnte den blauen Irden nicht länger standhalten und fummelte am Stoffbezug des Sofas. Auf einmal war sie unsicher und befangen.
„Du warst nach der Beerdigung einfach weg“, flüsterte sie. „Sogar deine Eltern wussten nicht, wo du warst“
„Ich weiß“
„Du hast dich nie gemeldet“
„Ich weiß“
Sie schaute auf. „Wieso?“
Diesmal war er es, der den Blick abwandte. Mina musterte sein Seitenprofil, die gerade Nase, das spitze Kinn. Er hatte sich nicht verändert. Noch immer besaß Alex die sonnengebräunte Haut, das Grübchen am Kinn.
Sein Adamsapfel zuckte.
„Ich konnte nicht“, sagte er schließlich. „Es war alles zu viel für mich, ich brauchte Abstand. Das alles… hatte mich aus der Bahn geworfen“
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du verschwinden würdest? Ich war wie vor den Kopf gestoßen, als ich bemerkt habe, dass du nicht mehr da warst. Du hast dich noch nicht einmal verabschiedet!“
„Hättest du mich gehen gelassen?“, fragte Alex und schaute ihr ernst in die Augen.
Sie runzelte die Stirn, öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn dann aber wieder. Ertappt presste sie die Lippen aufeinander.
„Ich konnte den Tod nicht verarbeiten“, fuhr Alex fort. „Ich musste einfach weg. Weg von dir. Weg von der Familie. Ich brauchte wieder Luft zum Atmen“
„Aber warum so lange? Ich habe Tag und Nacht auf dich gewartet“, erzählte Mina und schaute ihn traurig an. „In dem Moment, wo ich dich am meisten gebraucht habe, hast du mich im Stich gelassen“
Alex biss sich auf die Unterlippe. „Es war nicht geplant. Ich hätte selbst nicht gedacht, dass ich so lange weg sein würde. Ich hatte Angst dich anzurufen, weil ich glaubte, du würdest mich auf ewig hassen. Ich war ein Feigling“
Mina konnte sehen, wie er zitterte.
In ihrem Kopf rumorte es; sie wusste nicht, was sie denken, sagen, fühlen sollte. Ihre Gedanken schwirrten wild umher, orientierungslos und ungenau. Sie fragte sich, ob sich heute ihre Wege wieder trennen würden. Oder ob sie einen gemeinsamen Nenner fanden, sie ihm vielleicht verzeihen und verstehen konnte.
Mina seufzte.
Sie fühlte sich mit der Situation überfordert. Eigentlich hatte die junge Frau vorgehabt, an diesem Ort die Erinnerungen in den Hintergrund zu rücken. Doch das Schicksal hatte ihr mal wieder einen Streich gespielt. Denn ihr Vorhaben wurde genau ins Gegenteil umgesetzt.
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, fragte sie, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
Alex lächelte matt. „Deine alte Wohnung war von einer anderen Frau besetzt. Da wurde mir bewusst, dass du wieder zu deinen Eltern zurückgezogen bist. Als ich vor ihrer Haustür stand, hatten sie ähnlich reagiert wie du - Bestürzt, fassungslos und wütend. Verständlicherweise“
Mina nickte.
Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihre Eltern ebenfalls empört reagiert hatten, als Alex aus heiterem Himmel bei ihnen vor der Tür stand. Nachdem er ihre einzige Tochter einfach verlassen hatte und ein Jahr lang Funkstille zwischen den beiden herrschte, war es auch nicht weiter verwunderlich, dass Minas Eltern für ihren Exfreund wenig Sympathie fanden. Sie hatten die junge Frau in der schweren Zeit unterstützt und mit den Wochen, die zu Monaten wurden, war aus der Erschütterung Verächtlichkeit geworden, die sie für Alex empfanden.
Aber jetzt?
„Deine Eltern wollten mir nicht sagen, wo du warst, aber ich konnte es mir bereits denken“, fuhr der Blondschopf fort und starrte aus dem Fenster. „Es war nicht schwer zu erraten“
Natürlich war es nicht schwer.
Mina hatte hin und wieder mal ein Wochenende mit Alex hier verbracht, er hatte sich von der Faszination anstecken lassen und ihre Vorliebe geteilt. Es musste für ihn ein Leichtes gewesen sein, sie hier zu vermuten.
Sie seufzte, fuhr mit der Hand über das Sofa und streichelte den Stoff.
„Ich verstehe immer noch nicht, wieso du zurückgekommen bist“, meinte sie und runzelte die Stirn. „Du hättest doch für immer fortbleiben können. Dann wären dir eine Menge Unannehmlichkeiten erspart geblieben“
„Um dann auf ewig mit einem schlechten Gewissen zu leben? - Nein, danke“, entgegnete Alex und schüttelte den Kopf. „Indem ich dich verlassen und mich nicht bei dir gemeldet habe, habe ich einen großen Fehler gemacht. Das hätte ich nie tun dürfen“
„Stimmt“, erwiderte Mina ein wenig verbittert. „Aber was erhoffst du dir durch deinen spontanen Besuch? Dass ich dir verzeihe und wir beide wieder dort anfangen, wo wir aufgehört haben?“
„Nein“, antwortete er ernst. „Das kann ich nicht von dir verlangen. Ich möchte einfach nicht, dass du mich hasst“
In seinem Gesicht stritten sich viele Gefühle um die Oberhand. Mina wusste nicht, was sie antworten sollte; ihr war klar, dass sie Alex nicht hasste. Und sie würde ihn wohl auch nie hassen können.
Die Stille dehnte sich zwischen den beiden aus, stieg empor und umhüllte sie wie ein dichter Nebel. Im Hintergrund knisterte der Kamin, draußen tobte das Wetter, es fiel kein Wort. Mina starrte unentwegt in die blauen Augen ihres Gegenübers.
Es war seltsam, fand sie.
Der heutige Tag, der sie vor knapp einem Jahr voneinander getrennt hatte, führte sie nun wieder zusammen. Ein Zeichen?
Alex meldete sich wieder zu Wort, womöglich wurde ihm die Stille zu lang. Er räusperte sich kurz. „Manchmal stelle ich mir vor, wie mein Leben wäre, wenn–“
„Bitte, nicht“
Mina schloss gequält die Augen. Eine Vorahnung beschlich sie, was Alex nun sagen wollte. Sie befürchtete, dass ihr kummervolles Herz es nicht aushalten würde, sollte er es tatsächlich wagen…
„–wenn Lucy noch leben würde“, beendete er seinen Satz ohne auf Minas Einwurf einzugehen. Sie zuckte zusammen und versteifte sich augenblicklich.
…sollte er es tatsächlich wagen, ihren Namen auszusprechen.


Der Groschen war gefallen.
Mina starrte Alex mit großen Augen an, ihr Blick war verletzt und unendlich traurig. Auch ein wenig Vorwurf blitzte aus ihren dunkelbraunen Irden.
Sie hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Ihre Hände zitterten, nur mühsam faltete sie sie in ihrem Schoß zusammen. Die Lippen waren zu einem dünnen Strich verzogen, ihre Mundwinkel zuckten kaum merklich.
Lucy.
Lange hatte Mina den Namen nicht mehr gehört. Sehr lange. Das letzte Mal war er auf der Beerdigung gefallen, danach hatte ihn niemand mehr in den Mund genommen, worüber die junge Frau auch heilfroh gewesen war.
Doch jetzt?
Es fiel ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Die Wunde platzte wieder auf, ließ sämtliche Erinnerungen auf sie einströmen. Rasselnd holte sie Luft.
Mina schaute Alex an.
In seinen Augen konnte sie denselben Kummer, denselben Schmerz erkennen. Er fühlte genauso wie sie. Sie hatten den gleichen Verlust erlitten. Er verband sie, verknüpfte sie miteinander.
Die junge Frau ließ ohne weiteres ihre beherrschte Fassung fallen und überbrückte kurzerhand den letzten Abstand. Schluchzend drückte sie sich an Alex Brust.
Sofort umschlag er sie mit seinen Armen, verlor sich in diesem Moment. Es war lange her, als er sie das letzte Mal umarmt hatte.

Sie waren ein Paar gewesen.
Sie hatten beide Pläne für die Zukunft gehabt und Wünsche miteinander geteilt. Sie waren jung und glücklich gewesen. Vielleicht ein wenig zu glücklich.
Mina hatte Alex überrascht, als sie ihm nervös, aber auch mit einem aufgeregten Lächeln die Schwangerschaft verkündet hatte. Der Blondschopf konnte es gar nicht glauben; der Gedanke bald Vater zu sein, entzückte ihn von Zeit zu Zeit mehr.
Fasziniert hatte er zugeschaut, wie das Baby in Minas Bauch immer größer wurde. Die skeptischen Blicke der anderen Leute ignorierten beide geflissentlich. Sie wussten, dass sie sich mit 22 Jahren nicht unbedingt im Alter befanden, wo man laut Studie die Elternzeit antrat.
Doch das war ihnen egal.
Sie widersetzten sich der Moral und konnten auch schon bald ihre Eltern überzeugen, dass sie die Verantwortung und Entschlossenheit besaßen ein Kind großzuziehen. Jeden Tag träumten Alex und Mina vom trauten Glück zu dritt.
– Knapp 9 Monate später war es dann auch soweit. Beide waren nun 23 Jahre alt und mehr als zuversichtlich.
Tränen der Freude standen in ihren Augen, als sie zum ersten Mal die kleine Lucy in ihren Händen hielten. Mina erinnerte sich noch genau an diesen wunderbaren, kostbaren Moment. Der Gedanke, dass dies ihr Fleisch und Blut war, welches sie in den Händen hielt, war unglaublich. Mit einem erschöpften, aber zufriedenen Lächeln schaute sie ihrer Tochter beim Schlummern zu.

Doch das Familienglück sollte nicht lange anhalten. Es stand um die Gesundheit von Lucy nicht sehr gut. Die Ärzte machten sich Sorgen und Mina und Alex ahnten Schlimmes, klammerten sich dennoch an der letzten Hoffnung fest. Aber es war vergebens. Nach ein paar Wochen kam die unheilvolle Verkündung, welche den Eltern den Boden unter den Füßen wegnahm: Lucy litt unter der seltenen und unheilbaren Krankheit »Morbus Pompe«.
Eine Welt brach für Mina zusammen.
Von da an nutzte sie jeden Tag, um ihre Tochter zu sehen, ihre kleinen Hände zu berühren, ihrem abgehakten Atem zu lauschen. Der Gedanke, dass ihr Kind keine Zukunft hatte, machte sie zu schaffen.
Sie hatte Lucy angefangen zu lieben, als sie in ihrem Bauch heranwuchs. Und nun sollte man ihr sie wieder einfach wegnehmen? Mina konnte es nicht verstehen, es war ihr unbegreiflich.
Mit gerade einmal 8 Monaten starb ihre Tochter.
Durch Muskellähmungen wurde ihr die Kraft zum Atmen geraubt und das Herz versagte. Man konnte ihr nicht helfen.
– Damit begann die schrecklichste Zeit für Mina und Alex. Von der Euphorie, welche sie zu Beginn gespürt hatten, war nichts mehr übrig. Das Familienglück existierte nicht mehr, wurde mit einem heftigen Tritt niedergestampft.
Mina fiel in ein Loch.


„Wo warst du?“, fragte sie leise, das Gesicht an seine Schulter gepresst.
Ihr Herz klopfte in einem wilden Galopp gegen ihre Brust; die Geborgenheit und der sichere Schutz, den sie bei dieser Umarmung spürte, war ihr so vertraut und doch gleichzeitig fremd.
Alex strich mit seinen Händen über ihren Rücken.
Mina konnte sich nicht erinnern, wann sie ihm das letzte Mal so nah gewesen war. Wann sie sich das letzte Mal in den Arm genommen, klärende Worte ausgetauscht hatten. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
„Überall“, murmelte Alex. „Ich habe mir mein Auto geschnappt und bin einfach losgefahren. Mit ein wenig Gepäck, Geld und dem Ausweis in der Tasche. Irgendetwas hatte mich damals gepackt, ich wollte einfach nur noch weg“
Weglaufen, dachte Mina.
Er war geflohen, hatte sich versteckt. Wollte die Probleme und Sorgen vergessen, einen klaren Kopf bekommen. War seine Reaktion verständlich?
Sie zog die Stirn kraus.
Hatte Mina im Grunde genommen heute nicht genau das Gleiche getan? Abstand genommen, die Flucht ergriffen und sich in diesem Holzhaus verbarrikadiert, um mit ihren Gedanken allein sein zu können? Der einzige Unterschied war: Ihre Eltern wussten davon.
Aber Alex hatte damals seinen Eltern einen Zettel hinterlassen, auf dem nur ein paar Worte standen, die sie beruhigen sollten. »Bitte, macht euch keine Sorgen. Ich werde bald wieder da sein.«
Wobei ›bald‹ relativ war.
„Die ersten zwei Wochen bin ich planlos durch Deutschland gefahren“, erzählte Alex. „Dann hat es mich an den Bodensee verschlagen. Dort habe ich schließlich die ganze Zeit gelebt und mich in die Wohnung eines Freundes von mir eingenistet. Er hat auch dafür gesorgt, dass ich mir ein wenig Geld verdienen konnte“
Mina runzelte die Stirn. „Und was ist mit deinem alten Arbeitsplatz?“
„Ich habe gekündigt“
Das überraschte sie. „Tatsächlich? Einfach so? Aber wo arbeitest du jetzt? Und überhaupt: Seit wann bist du hier? Bleibst du für immer oder gehst du schon bald wieder? Wenn ja, wohin?“
Die Fragen sprudelten einfach aus ihr heraus, sie konnte es nicht aufhalten. Mit einem Mal war Mina sehr aufmerksam und hellhörig. Gespannt hob sie den Kopf und sah Alex an. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, als er ihrem interessierten und erwartungsvollen Blick begegnete.
„Ich bin seit gestern hier“, sagte er schließlich. „Meine Eltern waren völlig aus dem Häuschen, als sie mich gesehen haben. Ich lebe vorerst für ein paar Tage bei ihnen, bis ich eine neue Wohnung gefunden habe“
„Das heißt, du bleibst? Dass du sesshaft wirst?“, hakte Mina aufgeregt nach.
„Genau“
Sie wusste nicht warum, aber bei dieser Vorstellung klopfte ihr Herz eifrig gegen ihre Brust. Freude erfüllte sie. Dabei hätte Mina doch eigentlich gar nicht so fröhlich reagieren dürfen, oder? Immerhin hatte Alex sie verletzt, war einfach verschwunden ohne ein weiteres Wort.
Und dennoch…
„Was bedeutet das?“, fragte sie nun wieder ernst und musterte den Blondschopf skeptisch. Sie zog die Augenbrauen zusammen.
„Was meinst du?“
„Du bist wieder da. Was bedeutet das für die Zukunft? Für uns?“
Alex‘ Hände, die immer noch auf Minas Rücken ruhten, verspannten sich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, in was für einer Position sie sich auf dem Sofa befanden. Sie kniete neben ihm, die Hände an seine Brust gestemmt. Seine Arme umfingen sie. Beide waren sich sehr nah.
Prompt stieg Mina die Röte ins Gesicht.
Alex biss sich auf die Unterlippe, er schien sich den Umständen nicht bewusst zu sein, dachte immer noch über ihre Frage nach. Verwirrt kräuselte er die Stirn.
„Ich… ich weiß nicht“
Sein Blick streifte ihren und nahm sie augenblicklich gefangen. Mina betrachtete seine hellblauen Augen, las mehrere Gefühle darin. Beinahe konnte sie das vertraute Prickeln wieder spüren, welches sie damals bei der ersten Begegnung mit ihm empfunden hatte. Beinahe.
Erneut strömten Erinnerungen auf sie ein, diesmal jedoch überwiegend positive. Als sie an ihren ersten gemeinsamen Kuss dachte, fing ihr Bauch an zu kribbeln. Als die erste Liebesnacht mit Alex vor ihren Augen lebendig wurde, nahm Minas Gesicht eine krebsrote Farbe an. Als sie sich an ihren Urlaub erinnerte, huschte ein versonnenes Lächeln über ihre Lippen. Mina seufzte.
Warum kamen ihr auf einmal solche Gedanken in den Sinn?
Lange hatte sie mit Alex Namen nur Schmerz und Enttäuschung verbunden. Doch es schien, als würde sich das Blatt nun wenden. Die dunkle Farbe der Trauer und Wut verblasste allmählich, wurde vom Regen verwischt. Ein alter Glanz stach hinter der der Schattierung hervor, blitzte schalkhaft auf.
„Mina“
Alex schaute sie ernst an. In seinem Blick konnte sie ein Drängen erkennen, was sie ein wenig nervös machte.
„Ich weiß nicht, was die Zukunft mit uns vorhat. Ich weiß nur, dass ich in der Vergangenheit einen Fehler gemacht habe und ich es in der kommenden Zeit besser machen möchte“
Unsicher legte Mina den Kopf schief.
Sie wusste nicht, worauf er hinaus wollte. Hatte er ihr gerade ein Versprechen gegeben? Wollte er ihr eine versteckte Botschaft übermitteln? Sie war sich nicht sicher; ihr Herz pumpte aufgeregt. Die Situation war mit einem Mal sehr bedeutend geworden. Mina hatte das Gefühl, dass jedes Wort, jeder Satz schwerwiegend und entscheidend für die Zukunft war.
Sie kam sich vor wie bei einer mündlichen Prüfung. Nur kämpfte sie jetzt nicht um eine gute Punktzahl für ihr Abitur - sondern für den richtigen Weg in ihrem Leben.
„Und… das heißt?“, fragte sie zaghaft nach.
Seine Antwort war präzise und einfach: „Das heißt, dass dich nicht verlieren will. Nicht noch einmal“


Mina hatte nicht damit gerechnet, dass er diese Worte aussprechen würde. In keinster Weise. Ihr Herz setzte einen kurzen, verwirrten Schlag aus, ehe es gespannt weiter trabte. Kalte und warme Schauer überfielen sie gleichzeitig.
Sie war ihm wichtig.
Aus irgendeinem Grund erleichterte Mina diese Erkenntnis. Vielleicht konnte doch noch alles gut werden. Die Kluft, die in diesem einen Jahr zwischen ihnen entstanden war, würde niemals verschwinden, da war sich die junge Frau sicher. Aber sie könnte passierbar werden. Gemeinsam mit Alex könnte sie eine Brücke, einen Übergang bauen - sicherfest und stabil.
Mit einem Mal war Mina zuversichtlich.
Sie und Alex könnten sich wieder kennenlernen, dem anderen Vertrauen schenken, über ihren Schatten springen. Noch lag alles in weiter Ferne, aber bald - bald wären sie mit Sicherheit wieder soweit, einen neuen Beginn zu starten. Sie mussten nur geduldig sein.
Mina lächelte unsicher. „Ich… möchte dich auch nicht verlieren“
Jeder hatte eine zweite Chance verdient. Alex hatte seinen Fehler eingesehen und die junge Frau war sich sicher, dass er eine neue Gelegenheit nicht in den Ofen schießen würde. Er war nicht begriffsstutzig, sie würde ihm verzeihen. Ein letztes Mal.
Schweigen umhüllte die beiden.
Mina hatte das Gefühl, die blauen Augen würden versuchen, sie in einen Sog zu ziehen. Unentwegt starrte sie in die kristallen Irden, dieser unergründliche Blick schien sie zu hypnotisieren.
Als sie blinzelte, war der Effekt vorbei. Endlich riss sie sich los, stand abrupt auf und strich sie nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Wangen hatten einen leichten, zarten Rotschimmer angenommen.
„Ähm, möchtest du vielleicht etwas trinken? Ich hätte auch noch Suppe da, falls du Hunger hast“, schlug sie verlegen vor und erinnerte sich wieder an ihre Rolle als Gastgeber.
„Etwas Warmes wäre schön“, meinte Alex nickend und schenkte ihr ein kleines Lächeln.
Mina verschwand schnell in der Küche, schaltete den Gasherd ein, um die Suppe neu zu erwärmen und stützte sich dann mit den Händen am Tresen ab. Ihre braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, sie musste ihre Gedanken erst einmal sortieren.
Sie hatte gerade Frieden mit Alex geschlossen.
Diese Tatsache war noch zu neu, um sie wirklich zu realisieren. Mina dachte daran, wie enttäuscht und gekränkt sie immer von ihm gewesen war. Oft hatte sie in ihrem Kopf eine fiktive Begegnung mit ihm ausgemalt. Wie selbstbewusst und sicher sie agieren würde. In ihren Visionen hatte sie ihn ausgeschimpft, so dass er wie ein geprügelter Hund seinen Abgang machte. Doch in echt war alles anders.
Er hatte sie überrumpelt, den Boden unter den Füßen weggenommen und ihr Erklärungen gegeben. Mina hatte ihm verziehen. Sie hoffte, dass dies keine falsche Entscheidung war; ein unüberlegtes Handeln ihrer Naivität. Sie glaubte an das Gute im Menschen, hatte schon immer ein schwaches Herz gehabt, war zuversichtlich gewesen und konnte nur schwer Absagen erteilen.
Sie wollte so gerne an das Glück glauben.
Ihr Blick schweifte aus dem Küchenfenster. Es regnete noch immer in Strömen, das Gewitter befand sich jedoch in weiter Ferne. Mina fragte sich, ob Alex hier übernachten wollte. Bei dem Gedanken wurde ihr ein wenig mulmig zumute, aber dagegen hätte sie trotzdem nichts einzuwenden.
Sie war gastfreundlich und eine gute Freundin. Außerdem hatte sie eine sehr soziale ausgeprägte Ader. Bei einer Bitte würde sie nur schwer Nein sagen können.
Mit einem Seufzen nahm sie einen Teller aus dem Schrank und füllte ihn mit warmer Kartoffel-Kräuter-Suppe. Danach rief sie Alex zum Essen.
Seine Haare waren schon leicht angetrocknet, dennoch hatte er sich das Handtuch um die Schultern gelegt. Er setzte sich schweigend an den Küchentisch und begann zu essen. Das stetige Klimpern des Löffels gegen den Teller war das einzige Geräusch, welches den Raum erfüllte.
Mina lehnte sich an den Küchentresen und beobachtete den blonden Schönling. Zögernd führte er das Besteck zu seinem Mund, pustete vorsichtshalber, ehe er es mit einem zufriedenen Lächeln in den Mund schob.
„Schmeckt’s?“, fragte Mina, um die Stille zu unterbrechen.
Alex nickte bestätigend. „Sehr gut. Aber anders war es auch nicht zu erwarten“
Sie lächelte über sein Kompliment, fühlte sich geschmeichelt. Mit flatterndem Herzen knetete sie ihre Hände, ihre Mundwinkel hoben sich unsicher.
„Fährst du gleich wieder zurück oder… bleibst du?“, stellte sie die nächste Frage und schaute ihn gespannt an.
Alex hielt in seiner Tätigkeit inne, hob verwundert die Augenbrauen. „Möchtest du denn, dass ich bleibe?“
Mina biss sich auf die Unterlippe, ehe sie sich traute, ihre Antwort auszusprechen, die sie erneut verlegen machte: „Ja“
Der Blondschopf lächelte. „Dann bleibe ich“


Der Nachmittag verging schnell.
Schon bald wurde es sehr dunkel draußen, das stetige Trommeln des Regens erfüllte den Raum, wenn es zu still wurde. Mina rieb sich über die Arme, das Feuer im Kamin drohte zu ersticken.
Sie und Alex hatten nach einiger Zeit ihre scheue Zurückhaltung abgelegt und offen miteinander geredet, sich interessiert gezeigt. Viele Fragen wurden gestellt, auf die meisten fanden sie auch eine Antwort. Hin und wieder lachten sie gemeinsam, dann wiederum entstand eine peinliche Stille. Mina spürte, dass über all diesem lockeren Plaudern, eine Decke der Unruhe hing.
Die Standuhr zeigte, dass es halb Zehn war. Die junge Frau musste gähnen und rieb sich müde über die Augen. Der Tag war trotz der wenigen Aktivitäten anstrengend gewesen. Mina bemerkte, wie die Erschöpfung an ihr nagte.
Ermattet lächelte sie Alex an. „Ich glaube, es wird Zeit für mich ins Bett zu gehen“
Er nickte. „Für mich auch“
Sie erhoben sich, erstickten das warme Feuer und stiegen dann die Treppe nach oben. Mina deutete auf das Schlafzimmer, wo sie früher immer alleine geschlafen hatte. In diesem Raum befanden sich zwei getrennte Betten.
„Du kannst dort schlafen. Ich habe die Bettwäsche leider nicht neu bezogen, die Decke wird ein wenig klamm sein“, entschuldigte sie sich.
„Das macht nichts“
Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und seufzte. Die Brünette fühlte sich ausgelaugt und entkräftet. „Also… Gute Nacht“
Alex schwieg.
Mina runzelte die Stirn, als sie bemerkte, dass er sich nicht bewegte. Stattdessen bedachte er sie mit einem undeutlichen, intensiven Blick. Seine blauen Augen bohrten sich wieder in ihre, nahmen sie erneut Gefangen.
Unwillkürlich hielt Mina den Atem an.
„Ich geh dann mal…“, versuchte sie sich schnell aus der Affäre zuziehen und drehte sich um. Doch Alex hielt sie noch einmal auf.
„Mina“
Seine Stimme war ein sanftes Raunen. Mit erhobenen Augenbrauen drehte sie sich zu ihm um und schaute den Blondschopf fragend an.
Alex ging ein paar schnelle Schritte auf sie zu und beugte sich leicht zu ihr runter. Mina rechnete jeden Augenblick damit, er würde sie küssen. Sein Gesicht war ihrem so nah, sie konnte seinen Atem spüren.
Doch er küsste sie nicht.
Stattdessen hob er seine Hand, strich ihr eine vorwitzige braune Strähne hinter das Ohr und lächelte schief. Seine Augen funkelten geheimnisvoll.
„Danke, dass du mich nicht weggestoßen hast“, flüsterte er. „Ich bin froh, dich wiederzusehen. Ich habe dich vermisst“
Mina lächelte nervös. „Hoffentlich bereue ich meine Entscheidung nicht“
Alex schüttelte entschlossen den Kopf, sein Blick war ernst. „Mit Sicherheit nicht“
Dann beugte er sich wieder zu ihr und drückte sie in seine Arme. Die junge Frau war zu überrascht, um Gegenwehr zu leisten - und selbst wenn sie es geahnt hätte: Die Umarmung erwidert hätte sie trotzdem.
„Gute Nacht“, hauchte Alex, ehe er sich von ihr löste und sich umdrehte. Er öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer und schloss sie leise hinter sich.
Mina atmete tief durch.
Ihr Kopf war seltsam leer, sie hörte keine griesgrämige Stimme der Vernunft, die ihr riet, ihren Entschluss zu ändern. Da war nichts. Außer Zufriedenheit.
Die Brünette schüttelte den Kopf.
Sie verschwand im Elternzimmer, zog sich dort rasch um, ehe sie sich mit einem Schnaufen auf das Bett fallen ließ. Der Tag fühlte sich an wie ein Traum. Sie hatte heute Alex wiedergesehen. Ihren Alex!
Mina grinste.
Sie breitete die Decke über sich aus und drehte sich auf die Seite. Ihre Gedanken schweiften zum Vater ihres verstorbenen Kindes. – Aber diesmal empfand sie keine Enttäuschung, als sie an ihn dachte. Nur Wohlgefallen.
Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen schlief sie schließlich ein.






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