Kämpferherzen

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 17.09.2012


Weiße Nebelschwaden hingen in der feuchtkühlen Luft und versperrten Mina zum Teil die Sicht. Nur sehr langsam fuhr sie die einsame Straße entlang, welche sich am Rande des Meeres und somit auch in der bedächtigen Nähe der bekannten Kreidefelsen schlängelte.
Es war ein trostloses Bild, das sich vor ihren Augen abzeichnete. Die Blätter an den Bäumen, welche zu dieser Jahreszeit normalerweise in einem herbstlichen Rotton leuchten sollten, wirkten farblos und trüb.
Eine unheimliche Stille hatte sich an diesem Morgen über die wunderbare Landschaft gelegt; die lebendigen Geräusche der Natur waren verstummt. Eine schlichte, fahle Decke umhüllte den kleinen, idyllischen Ort, der für Mina schon wie ein zweites Zuhause war. Hier fühlte sie sich wohl.
Doch noch nie hatte sie diesen bezaubernden Landstrich so trist und eintönig gesehen. Das Surren des Motors vermischt mit dem leisen Geplänkel aus dem Radio war das Einzige, was Mina vernahm.
Ein wenig mulmig im Bauch konzentrierte sie sich weiterhin auf die Straße. Sie war soeben an dem beschaulichen Städtchen »Sassnitz« vorbeigefahren und befand sich nun auf dem Weg, der sie zum nördlichen »Lohme« führen würde. Doch das war nicht ihr Ziel. Zwischen den beiden Städten von Rügen befand sich der Nationalparkt Jasmunds, wo das Fahren mit dem Auto verboten war. So lenkte Mina ihren Wagen auf eine vertraute Nebenstraße, die auf den ersten Blick nicht sehr vertrauenserweckend wirkte und auch auf dem zweiten Blick für keinen besseren Eindruck sorgte. Doch Mina kannte diese Strecke.
Durch die vielen Schlaglöcher wurde sie im Auto kräftig durchgerüttelt, aber dieser holprige Weg sollte sich lohnen. Die junge Frau befand sich immer noch in der Nähe von »Sassnitz«, jedoch etwas isolierter und abgeschiedener. Das kleine Wäldchen lichtete sich schon bald und nun konnte Mina ihr aufgeregtes Grinsen nicht mehr unterdrücken.
Schon beinahe euphorisch fuhr sie die Straße hinunter; ihr Herz donnerte nun kräftig gegen ihre Brust, ungezügelt und voll Vorfreude bockte es auf, wollte wild und frei davon rasen. Beim Anblick des kleinen Häuschens machte es einen Freudensprung.
Sie war da.

Mina holte den Schlüssel aus dem Zündschluss, ließ den Motor ersterben und blieb noch für einen kurzen Moment im Auto sitzen.
Ihr Blick ruhte auf dem kleinen, hölzernen Anwesen. Versteckt von den Bäumen war es vor neugierigen Blicken geschützt. Mina liebte das Holzhaus. Früher hatte sie mit ihren Eltern oft ein paar Tage dort verbracht; sie mochte die Ruhe und genoss den Anblick, der sich ihr bot.
Die Zeiten, wo sie ihre Eltern ungeduldig fragte, wann sie endlich wieder diesen einsamen, geheimnisvollen Ort besuchen würden, waren vorbei. Mina war nun unabhängig, 24 Jahre jung und durfte selber Entscheidungen treffen.
Das bescheidene Häuschen gehörte ihren Großeltern, jedes Jahr gestattete sie ihrem zweiten Zuhause einen Besuch ab. Mal im Frühjahr, oft im Sommer, hin und wieder im Herbst und selten im Winter. Sie musste ihre Großeltern nur bitten, dann überreichten sie ihr schon mit einem wissenden Lächeln den Schlüssel.
Mina stieg aus dem Wagen.
Eine kalte Windböe blies ihr ins Gesicht, wirbelte die braunen Haare auf und sorgte für einen eisigen Schauer auf ihrem Rücken. Automatisch glitt ihr Blick zum Ufer des Meeres, dessen Wellen sich schäumend gegen die umliegenden Felsen aufbäumten. Ein kleiner Trampelpfad führte nach unten in die Nähe zum Gewässer. Dort gab es eine schmale Bucht mit einem steinigen Strandufer.
Mina schloss für einen kurzen Moment die Augen, ließ den Augenblick auf sich einwirken. Die Seeluft tat ihr unheimlich gut.
Der Kurztrip für zwei Tage sollte ihr helfen, Erinnerungen und Schmerzen zu vergessen, sie in den Hintergrund zu rücken. Es war Samstagmorgen, schon am nächsten Tag würde Mina sich wieder gen Abend auf den Heimweg nach Stralsund machen. Die Strecke war nicht weit, knapp eine Stunde war man nur unterwegs.
Mit einem Seufzen klappte Mina den Kofferraum auf und hievte ihre kleine Reisetasche heraus. Das triste Wetter sollte sie eigentlich nicht wundern. Es passte zu dem heutigen Tag und dessen Bedeutung…
Energisch schüttelte sie den Kopf.
Nein, sie wollte nicht daran denken. Deswegen war sie hier, um Abstand zu gewinnen. Mina befürchtete, dass alte Wunden wieder aufplatzen könnten und der Schmerz des Verlustes sie wieder übermannte. Sie wollte stark bleiben, aus diesem Grund verscheuchte sie jeden Gedanken, der auch nur entfernt mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, aus dem Kopf.

Entschlossen marschierte sie zum Holzhaus, zückte den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Sie klemmte wie eh und je. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie eintrat. Ein vertrauter Geruch hing in der Luft, den Mina nicht genau beschreiben konnte. Aber sie verband eine äußerst positive Erinnerung damit.
Die kleine Diele war winzig und in dunklen Brauntönen gehalten, die Wände waren mit verschnörkelten Mustern verziert. Minas Großmutter liebte so etwas.
Eine schmale Treppe führte in das nächste Stockwerk, wo zwei Schlaf - und ein Badezimmer vorhanden waren. Zu Minas Rechten befanden sich zwei Türen. Die erste der beiden führte in ein kleines Gäste-WC im Stil der 70er Jahre. Die zweite verbarg einen Abstellraum, wo sich auch der Stromzählerkasten befand, welchen Mina sogleich bediente. Danach drehte sie den Hauptwasserhahn auf. Eine Zentralheizung gab es nicht, doch das war nicht sonderlich schlimm.
Im Wohnzimmer gab es einen Kamin, Mina kannte sich mit den kleinen Nachteilen dieses bescheidenen Häuschens auf, wusste also, wie sie die Probleme beheben konnte. Die Küche war ebenfalls nicht sehr modern, ein alter Gasherd und dunkle Arbeitsplatten fielen ihr ins Auge. Doch Mina fand, dass gerade diese sonderbare und überholte Stilrichtung dem Haus das »gewisse Etwas« verlieh.
Es war, als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Es änderte sich nichts, alles blieb beim Alten und genau das gefiel Mina. Sie warf einen Blick durch das schmutzige Fenster nach draußen und ließ es kurz zu, dass ihre Gedanken abschweiften.
Zwei Tage hier wohnen zu dürfen, waren mehr als ausreichend. Länger dürfte es auch gar nicht sein. Nicht nur, weil Mina danach wieder arbeiten musste, sondern auch, weil diese Isolation und Ruhe einen schon bald um den Verstand bringen würden. Vor allem, wenn man die Tage ganz allein im Haus verbrachte. Irgendwann könnte es für einen zu still werden, und Mina wollte es nicht überstrapazieren.
Der Morgen war noch frisch, es war gerade einmal halb acht in der Früh. Mina hatte es irgendwann nicht mehr ausgehalten, der Schlaf schenkte ihr nur Alpträume, gestrickt aus Erinnerungen, so dass sie nach einem abrupten Erwachen kein Auge mehr zumachen konnte. Sie war hellwach gewesen, als sie ins Auto gestiegen war. Doch nun fühlte Mina, wie ihre Muskeln anfingen zu protestieren. Der Tag war noch jung, sie würde genügend Zeit haben, um ihn zu genießen.
Schwerfällig stampfte die junge Frau die Treppe nach oben. Mit einer Hand fuhr sie sich über das Gesicht, die andere hievte ihre Reisetasche. Im Elternschlafzimmer mit dem großen Doppelbett durchlief Mina erst einmal den gewöhnlichen Vorgang. Als erstes bezog sie die Bettwäsche neu, durchlüftete die Räume und machte noch einmal kurz das Badezimmer sauber, ehe sie sich erschöpft in die weichen Kissen fallen ließ. Träge lauschte sie dem Rauschen des Meeres. Es lullte sie ein, zog sie in eine andere Dimension – und schon bald fielen ihr die Augen zu.


Ein kalter Luftzug weckte Mina.
Verwirrt öffnete sie die Augen und hob intuitiv die Schultern hoch, als eine klamme Kühle über sie strich. Für einen kurzen Moment wusste sie nicht, wo sie war, ehe sie sich erinnerte.
Ächzend setzte sie sich im Bett auf. Noch nicht einmal eine Decke hatte sie über sich gelegt, so schnell war sie eingeschlafen. Sogar zum Umziehen war sie zu erschöpft gewesen. Mina schüttelte den Kopf und seufzte laut.
Das Zimmer war hell erleuchtet, sie vernahm ein leises Klopfen, als würden Finger gegen eine Platte trommeln. Irritiert lauschte sie den leisen Geräuschen und runzelte die Stirn. Erst dann drehte sie ihren Kopf zur Seite, zu der einzigen Lichtquelle: Das Fenster.
Regentropfen hämmerten gegen die Scheibe, veranstalteten ein Wettrennen. Mina hatte das Fenster auf Kipp gestellt, daher kam auch der kalte Luftzug. Sie fühlte sich, als wäre es Winter.
Ungelenk stand sie auf, tapste noch ein wenig schlaftrunken zur Lichtquelle und schloss mit einem Ruck das Fenster. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, ein kalter Schauer fuhr ihr den Rücken hinab.
Sie streckte sich, betrachtete skeptisch den wolkenverhangenen Himmel und seufzte erschüttert. Mina hatte gehofft, den Tag draußen verbringen zu können. Doch wenn es weiterhin unaufhörlich regnete, dann konnte sie diesen Plan wohl vergessen.
Nachdenklich holte sie ein paar Lebensmittel aus der Kühltasche hervor, die sie mitgenommen hatte und lief die Treppe nach unten. Schnell hatte sie ihr Proviant im Kühlschrank verstaut, danach zündete Mina noch den Kamin an und genoss die wohlige Wärme, die ihr bis unters Mark ging.
Es war Mittag, der Magen der jungen Frau begann zu knurren. Kurzerhand gestattete sie sich aus dem mitgebrachten Vorrat eine einfache, aber leckere Suppe zu kochen. Sie hatte alles dabei, was sie brauchte. Schon ein paar Tage zuvor hatte Mina sich über die Verpflegung Gedanken gemacht, alles gekauft, was sie brauchte. An die Küchengeräte hatte sie auch gedacht.
Sie schaltete das Radio ein, während sie begann Zwiebeln, Knoblauch und Kartoffeln nach gründlichem Waschen klein zu schneiden. Eher desinteressiert hörte sie den Nachrichten zu, spitzte dann aber wieder die Ohren, als das Wetter verkündet wurde. Ein paar Sekunden später ließ sie stöhnend die Schultern sinken.
Es war keine Verbesserung in Sicht. Der Tag würde auf Rügen nicht mehr viel herbringen außer Regen, Regen und noch mehr Regen. Ein typischer Herbsttag.
Mina versuchte ihre Enttäuschung in den Hintergrund zu schieben und biss sich fest auf die Unterlippe. Dass ihre Augen tränten, lag allein am Zwiebelschneiden. Sie hätte damit rechnen müssen, dass das Wetter sich gegen ihre Pläne aufbäumte. Und doch hatte sie gehofft, dem würde nicht so sein.
Aber was waren schon Hoffnungen? Mina hatte gelernt, dass sie schnell zerplatzten und ein unerfüllter Wunsch für viel Kummer und Schmerz sorgen konnte. Sie selbst hatte am eigenen Leib gespürt, wie es war, wenn eine Hoffnung niedergeschmettert wurde. Bloß hatte sie es auf eine unerträgliche Art und Wiese erleben müssen.
Ihre Hände begannen zu zittern, ruppig strich sie sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Fest presste Mina die Lippen aufeinander und legte nach kurzer Zeit das Schneidemesser weg.
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, diesmal konnte sie nicht einschätzen, ob es nur an den Zwiebeln lag, dass sie weinte. Brüsk fuhr sie mit dem Kochen ihrer Suppe fort und stellte nach ein paar Minuten fest, dass ihre Tränen immer noch nicht versiegten.

Deswegen wollte Mina allein sein. Sie hatte sich dieses bescheidene Holzhaus ausgesucht, um den schrecklichen Tag unbegleitet zu durchstehen. Damit niemand sehen konnte, wenn die Trauer sie überrollte.
Mina war nach dem Vorfall, der ihr Leben geprägt hatte, zurück zu ihren Eltern gezogen. Sie hatte ihre erste, eigene Wohnung verlassen, die Selbständigkeit aufgegeben und war wieder in das traute Heim gewechselt. Sie hatte Unterstützung gebraucht, Nähe von Menschen, die sie liebten und sie niemals fallen lassen würden.
Doch für den heutigen Tag brauchte Mina Ruhe.
Es wäre ihr peinlich gewesen, hätten ihre Eltern sie weinen gesehen. Außerdem wollte die junge Frau nicht den mitfühlenden Blicken begegnen. Sie wollte niemandem begegnen. Nur allein sein.
Nach ein paar Minuten war die Kartoffel-Kräuter-Suppe fertig. Mina setzte sich an den kleinen, runden Esstisch und seufzte wohlig, als der erste Löffel in ihrem Mund verschwand. Sofort verstummte ihr knurrender Magen.
Draußen begannen sich die Bäume im Wind zu wiegen, das Meer tobte und stemmte sich herausfordernd gegen die naheliegenden Felsen. Mina hatte das Gefühl, dass sich ein Unwetter ankündigte. Der Himmel wurde zusehends schwärzer, der Regen heftiger und der Wind wütete angriffslustig.
Obwohl sich im Haus Wärme ausgebreitet hatte, war ihr mit einem Mal eiskalt. Sie konnte nicht verhindern, dass eine Spur der Angst in ihr aufwallte, als sie mit skeptischen Augen das fauchende Wetter beobachtete.
Mit einem mulmigen Gefühl wusch sie ihr Geschirr ab und blieb für einen kurzen Moment unschlüssig in der Küchentür stehen. Was sollte sie nun machen?
Das Klima zeigte sich erbarmungslos.
Seufzend stieg Mina die Treppen hinauf, fischte sich zwei Bücher aus der Reisetasche und lief die Stufen wieder nach unten. Im Wohnzimmer machte sie es sich vor dem Kamin auf dem durchgesessenen Sofa gemütlich und schlug die erste Seite ihres neuen Buches auf. Schon bald wurde sie von der fiktiven Welt in den Bann gezogen, tauchte hinab und verlor sich in den Buchstaben.


Mina hatte das Gefühl, abrupt aus einem Traum aufzuwachen, als ein bekanntes Geräusch in ihre Ohren drang. Verwundert hob sie den Kopf, legte den Schädel schief und lauschte konzentriert.
Das Wetter draußen hatte sich nicht gebessert - Im Gegenteil. Grelle Blitze zuckten am Himmel, kurz darauf folgte ein grollender Donner. Es war duster, unwillkürlich fragte sie sich, wie spät es war. Ein Blick auf die Standuhr gab ihr Antwort: 16:38 Uhr.
Mina runzelte die Stirn, legte ein Papierschnipsel zwischen die Buchseiten und stand auf. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, sie war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass sie eben eine spannende Verfolgungsjagd gelesen hatte, oder sie gerade tatsächlich das Knirschen von Kies gehört hatte.
War da jemand?
Mina schlich auf Zehenspitzen zur Tür und biss sich fest auf die Innenwange. Im nächsten Moment meldete sich die Vernunft bei ihr: Wer würde sich bei solch einem Wetter schon hierher trauen? Nur sehr wenige wussten von diesem niedlichen Haus in der Nähe von »Sassnitz«.
Die junge Frau schüttelte über sich selbst den Kopf. Es war lächerlich. Mina hatte sich selbst einen Schrecken eingejagt, war mit ihren Gedanken noch bei Mördern, Verfolgungsjagden und verängstigten Opfern gewesen. Es gab keinen Grund zur Sorge, immerhin…
– Auf einmal vernahm sie das Zuklappen einer Autotür.
Erschrocken zuckte sie zusammen, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Nun tauchte doch wieder die Angst in ihr auf. Und gewann beinahe die Oberhand, als sie hinter der Haustür Schritte hörte. Sie kamen schnell näher.
Alleine in einem einsamen Haus, jenseits der Zivilisation. Es gewitterte. Das war doch die perfekte Szene für einen Horrorfilm, dachte Mina verbittert und wich zurück. Ihr Herz pochte wild gegen ihre Brust, wäre am liebsten verängstigt aus ihrem Körper gesprungen und davongelaufen.
Mina schluckte hart und versuchte schnell irgendwelche rationalen Lösungen für diese eindeutigen Geräusche zu finden. Vielleicht waren es ihre Eltern? Ihre Mutter? Ihr Vater? Womöglich war etwas passiert, was sie ihrer Tochter unbedingt persönlich mitteilen wollten.
Doch auch dieser Gedanke erschien ihr abwegig.
Es klopfte an der Tür.
Minas Atem stockte. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Zugang an, rechnete damit, dass sie jeden Moment aus den Angeln fiel und ein Monster über sie herfallen würde. Ihr ganzer Körper zitterte vor Spannung.
Es klopfte noch einmal.
Vielleicht war es nur die Polizei?, dachte Mina und ein kurzer Hoffnungsschimmer flammte in ihr auf. Doch dieser wurde sogleich zunichte gemacht, als eine gedämpfte, männliche Stimmte ihren Namen rief.
„Mina, mach die Tür auf!“
Sie schnappte nach Luft.
Unwillkürlich stellte sich bei ihr die Frage auf: Wer war das?
Die Stimme kam ihr entfernt bekannt vor, aber Mina konnte sie keinem Gesicht zuordnen. Ihr Herz raste. Nervös presste sie die Lippen aufeinander, traute sich nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Als das dritte Mal gegen die Haustür gehämmert wurde, bemerkte Mina die Ungeduld des fremden Besuchers. Auch die Stimme bebte nun ein wenig.
„Mina, bitte! Es regnet, ich werde klitschnass! Du kannst mich nicht einfach hier draußen stehen lassen, während es gewittert! Ich weiß, dass du da bist“
Die junge Frau erstarrte.
War das… war das etwa…? Sie schluckte hart.
Langsam ging sie auf die Tür zu, holte tief Luft und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. In ihrem Kopf herrschte ein heiles Durcheinander, sie war verwirrt, hin und hergerissen. Eine vage Vermutung beschlich sie, wer da draußen stehen könnte. Aber sie wollte es nicht glauben. Es war unmöglich! Und dennoch… – sie schüttelte den Kopf.
Ihre Hand, die nun die Türklinke umfasste, war eiskalt und schweißnass. Ein gewaltiges Beben durchzuckte ihren Körper, Mina versuchte ruhig zu bleiben.
„Ha-hallo?“, fragte sie mit dünner, aber lauter Stimme.
„Mina!“
Durch die Tür hindurch konnte sie ein erleichtertes Seufzen hören. Sie biss sich auf die Unterlippe und zögerte. War es richtig?
Vorsichtig schob sie den Sicherheitsriegel zur Seite, ehe sie langsam die Tür öffnete. Nur einen Spalt breit. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Ihre unheilvolle Vermutung bestätigte sich.
„Alex?“, stieß sie keuchend aus und starrte ihn mit großen Augen ungläubig an.
Er war es. Er war es wirklich!
Mina konnte es nicht fassen, sie hatte das Gefühl, um sie herum würde sich alles drehen. Ihre Gedankengänge wurden lahm gelegt, sämtliche Denkfunktionen waren außer Betrieb.
Durch klare, blaue Augen schaute er sie an.
Mina glaubte, gleich einen Herzinfarkt zu erleiden. Zu ihrer Fassungslosigkeit, dem Schock und die Bestürzung gestellte sich nun auch ein neues, weitaus lebendigeres Gefühl dazu: Wut.
Sie presste die Lippen zu einer harten Linie zusammen und setzte eine kühle Miene auf, wo sie wusste, dass Alex sie hasste.
„Bitte, Mina!“, flehte er.
Sein dunkelblondes Haar war nass und hing ihm im Gesicht. Minas Augen schweiften kurz über seine Erscheinung; Jacke und Jeanshose hatten das Regenwasser erfolgreich aufgesogen. Wenn er sich nicht bald trockene Kleidung anziehen würde, konnte er mit aller Wahrscheinlichkeit mit einer Erkältung rechnen.
Ihr Blick blieb distanziert.
Obwohl in ihrem Inneren ein tornadoähnliches Durcheinander herrschte, versuchte Mina sich nichts anmerken zu lassen. Alex sollte nicht wissen, dass sein plötzliches Auftauchen bei ihr für Herzrasen und Schmerz sorgte. Dass sie ihn immer noch unverschämt gutaussehend fand. Und sämtliche Erinnerungen sie wieder überrollten. Unvorbereitet. Qualvoll.
„Warum bist du hier?“, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme anklagend und ein wenig verletzt klang. „Was willst du von mir?“
Alex machte ein bedrücktes Gesicht.
In seinen hellblauen Augen konnte sie Kummer und Reue erkennen, Schmerz flackerte kurz in seinen Irden auf. Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
„Heute ist ihr Todestag“, murmelte er leise, aber laut genug, dass Mina ihn verstand.
Ihre Fassade begann zu bröckeln.
Fest presste sie die Lippen aufeinander, als sie merkte, dass ihre Augen anfingen verräterisch zu brennen. Alex‘ Worte hatten sie genau an der richtigen Stelle getroffen, der Stich in ihrem Herzen war unerträglich.
Sie wusste nicht so genau, was sie letzen Endes dazu bewegte, einen Schritt zur Seite zu machen, um ihm Eintritt zu gewähren. Vielleicht war es ihre soziale Ader, die sich aufbäumte. Oder sein Anblick. Oder weil Mina genau wusste, dass Alex und sie reden mussten. Dringend.
Dankbar schlüpfte der Blondschopf an ihr vorbei und schälte sich sogleich aus seiner Strickjacke, während die junge Frau den Regen wieder aussperrte und die Tür verriegelte. Sicher war sicher.
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Hey Leute! :-)
Dies ist meine erste Kurzgeschichte.
Es ist keine allzu große Spannung zu erwarten, aber ich hoffe doch, dass die Story gut ankommt. ;-)
Vielleicht lasst ihr mir ja ein paar Kommentare da? :D

- I.AMsterdam






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