Turkish Delights - Zucker und Zorn - Teil 8

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 10.11.2012


Teil 8

Nichts ist für die Ewigkeit – und erst Recht kein Kuss von Hayati Canavar.
Während Marlena noch wie in Trance schwebte, ihr Herz an den Schläfen pochte und das Blut so richtig in Wallung geriet, löste sich Yati von ihr.
„Mist!“, entfuhr es ihm.
Marlena öffnete schlagartig die Augen, weil sie ihren Ohren nicht traute.
Er hatte sich von ihr abgewandt und sah sie in einer Mischung aus Verlegenheit, Verlangen und Panik an.
Laut stieß er Luft aus und kratze sich nachdenklich am Hinterkopf.
„Das war nicht gut...“, sagte er dann langsam.
Marlena konnte nur noch ihren Kopf schütteln, ihr Verstand weigerte sich standhaft das zu akzeptieren, was er da sagte.
Seine Reaktion war ernüchternd. Im wahrsten Sinne des Wortes. Noch eben war sie im siebten Himmel gewesen und nun stach sein Anblick ihr mitten ins Herz. Er blickte sie mitleidig an und sah gleichzeitig so aus, als hätte er einen unverzeihlichen Fehler begangen.
„Äh...hör mal. Marli...“, begann er zögerlich. „Das hätte ich gerade nicht tun dürfen.“
Entschuldigte er sich für den Kuss?
NEIN! Nein! Bitte nicht! Marlena schluckte schwer. Wieso nur?, fragte sie sich mit wild klopfendem Herzen. Eben war doch noch alles so schön gewesen.
Dieser Kuss war das einmaligste und tollste und verruchteste, was sie je erlebt hatte. Dazu ausgerechnet er, der gottgleiche Hayati mit seinem leckeren Duft, seinen forschenden Händen und dieser Leidenschaft, die über ihr wie ein Orkan hereingebrochen war.
Ihr wurde mit einem Blick in seine Richtung bewusst, dass sie ihm ab jetzt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, als hätte er sie verhext.
Nichts wollte sie in dieser Sekunde mehr, als noch einmal so von ihm berührt zu werden.
Und er war im Begriff zu gehen, sie spürte, dass er so schnell wie möglich von ihr weg wollte.
„Yati!“, sagte sie leise. „Was...warum?“ Sie stotterte und klang verzweifelt, es war ihr egal.
Wieder holte er tief Luft.
„Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Entschuldige!“ Er biss sich auf seine verführerischen Lippen. „Vergiss es am Besten, ja?“
Vergessen? Sie würde den Rest ihres jämmerlichen Lebens von diesen Moment hier träumen, der Minute, in der sie geküsst worden war, wie noch nie zuvor und in der sie ihr Herz an einen herzlosen Halbtürken verloren hatte.
Marlena nickte, ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie war dankbar für den gewaltigen Abstand, den er mittlerweile unbemerkt zwischen sie Beide gebracht hatte. Genau wie vor dem Kuss, nur diesmal in die andere Richtung, eindeutig die Falsche.
„Ich muss wieder zurück.“ Sein Blick glitt immer wieder von ihr ab. „Wie gesagt, tut mir Leid.“ Er sah sie so bemitleidenswert an, dass sie sich schon vor sich selbst schämte.
Wieder nickte sie tapfer, ohne antworten zu können.
„Wir sehen uns.“ dann fügte er noch leise „Marli.“ hinzu, zwinkerte bekümmert und entschwand der Nacht.

Marlena sackte auf der Stelle in sich zusammen.
Sie plumpste auf den immer noch warmen Sand, zog die Knie an den Körper und umarmte sich selbst. Kleine Zitterattacken durchliefen sie, obwohl es kein bisschen Kalt war.
„Verfluchte Kacke!“, stöhnte sie.
Sie wippte in einem merkwürdigen Rhythmus vor und zurück, war nicht in der Lage einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen und konnte nur noch an IHN denken.
Gefühlte zweihundert Mal ging sie im Kopf das Gespräch, den Kuss und seine Reaktion durch. Suchte nach einem Fehler, den sie gemacht hatte, einen Anhaltspunkt, warum er sofort seine Handlung bereut hatte und kam letztendlich zu keinem vernünftigem Ergebnis.

Sie hatte ihn schon seit ihrer Ankunft so anziehend gefunden, gestand sie sich endlich ein. Sein Äußeres war zu auffällig gewesen, als das eine Frau mit funktionierender Libido sich ihm hätte entziehen können.
Seine ungewöhnlichen Augen waren es gewesen, die sie so faszinierend gefunden hatte, dieses Blau, so unpassend zu seinem türkischem Gesicht und der knackig braunen Haut.
Aber er hatte sie ignoriert – und damit hatte sie sehr gut leben können.
Heimlich schwärmen für jemanden, der außerhalb seiner Reichweite lag, war okay. Das war nicht schlimm, dabei konnte einem nichts passieren.
Man konnte sich gefahrlos eingestehen, dass er der schönste Mann im gesamten Umkreis war, man konnte sich über die naiven Mädchen lustig machen, die für ihn nur eine Nummer waren und man konnte ihn trotzdem über alle Maßen anhimmeln. Das war alles egal. Er war wie ein Star aus Hollywood, weit weg, stark umschwärmt und schön unerreichbar.
Und nun hatte ihr persönlicher Brad Pitt ihr einen leidenschaftlichen Kuss verpasst und sie auf alle Ewigkeit verdorben.
Schönen Dank!

Marlena raufte sich frustriert durchs Haar, schniefte kurz und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Da war wohl kurz ihre Gefühlswelt mit ihr durchgebrannt, versuchte sie sich einzureden.
Sie schluckte schwer, raffte sich auf und trottete gedankenverloren den Strand entlang.
Es war nur ein Kuss!
Yati bedeutete ein Kuss nichts, das wusste sie doch. Wie viele Urlauberinnen hatte er schon so geküsst? Hunderte! Sie selbst war vielleicht keine Touristin, aber mit Sicherheit eine unbedeutende Ziffer in seiner endlosen Liste von Eroberungen.
Und genau deshalb, WEIL sie hier nicht Urlaub machte, hatte er nach dem Zungenspiel so reagiert.
Er hatte wahrscheinlich festgestellt, dass er sie nicht so schnell los werden würde.

Die Lichter vor ihr näherten sich und glitzerten unter ihrem tränenverhangenen Blick.
Sie erkannte das große Werbeschild der Golden Beach Bar und blieb abrupt stehen.
Ben!
Sie hatte Ben völlig vergessen. Sie wollte sich doch hier mit ihm treffen.
Wie spät war es überhaupt?
Die bunte Uhr, die aus einer Merchandising-Aktion des Hotels stammte und die genauso zu ihrer Uniform gehörte, wie der mittlerweile zerwühlte Dutt, zeigte kurz vor halb Elf.
Mit zugeschnürter Kehle eilte sie tapsig über den Sand und stieg die verwetterten Holzstufen zur Terrassenbar hinauf.
Die Lokalität war verhältnismäßig groß und bei Einheimischen beliebt. Draußen befanden sich unzählige Bänke und Tische, überdacht von Efeu und bunten Pavillons. Im Inneren spielte eine Band oder nur ein einzelner Künstler und sorgten für angenehme und nicht zu aufdringliche Unterhaltung.
Smarte Kellner servierten exotische Cocktails und landestypische Getränke für das überwiegend junge Publikum, welche in den zahlreichen Hotelanlagen der Umgebung beschäftigt waren.
Tülin ging auch sehr gerne hierher, so kannte Marlena die Bar.

Sie sah sich auf der Terrasse um, spürte ein paar Augenpaare auf sich gerichtet und entdeckte dann einen breiten Rücken, der in einer ruhigen Ecke ihr zugewandt war und nur zu Ben gehören konnte.
Sie straffte die Schultern und ging zu ihm.
„Entschuldige, dass ich so spät bin. Ich wurde...aufgehalten.“, sagte sie, als sie am Tisch ankam.
Er drehte sich um, musterte ihre Erscheinung und kniff verwundert die Augen zusammen.
„Alles in Ordnung mit dir?“
Sein Blick ruhte auf ihrer von Sand und Dreck verschmutzten Hose, wanderte dann zu ihrer zerwühlten Frisur und ruhte letztendlich auf ihren verquollenen Augen.
Marlena nickte tapfer und setzte sich ihm gegenüber.
„Alles gut.“, antwortet sie erstickt.
Ben schien zu überlegen. Zog vielleicht voreilige Schlüsse, hatte allerdings den Anstand, das Mädchen, welches er so gut wie gar nicht kannte, nicht weiter zu bedrängen.

„Meine Schwester sollte nicht unbedingt erfahren, dass wir uns hier treffen.“, wechselte er geschickt das Thema und hatte somit Marlenas volle Aufmerksamkeit.
Sie nickte. „Theresa weiß nicht, dass du gestern Abend dort warst.“
„Nein. Sie denkt, ich war bei einem Kollegen.“
„Und sie nimmt an, dass du nichts davon weißt, dass sie selbst auch da war.“
Ben biss sich auf die Lippen. „Ja, das denkt sie.“
„Aber du wusstest, dass sie da sein würde.“
Marlena war kurz über sich selbst erstaunt. Ihr Kummer wegen Yati war wie weggeblasen. Er schlummerte sicher noch irgendwo in einem Hinterstübchen und wartete nur auf einen Moment ihrer eigenen emotionalen Schwäche, doch augenblicklich war sie hochkonzentriert.
Ben ebenso. Er schüttelte mit dem Kopf und überraschte Marlena:
„Ich hatte absolut keine Ahnung, dass sie da sein würde.“
Marlena runzelte die Stirn.
„Woher weißt du dann, dass sie da war?“
„Weil ich sie gehört habe, als wir das Gebäude stürmten. Sie hat deinen Namen gerufen.“
Kurz zog er die Augenbraue hoch. Eine Art Vorwurf lag in seinem Blick.
Noch ehe Marlena antworten konnte oder ihr die Röte ins Gesicht stieg, stand ein junger und ziemlich hübscher Kellner neben ihrem Tisch und fragte sie auf türkisch, was sie trinken wollten.
Marlena räusperte sich und bestellte mit brüchiger Stimme irgendein Getränk aus der Karte, die schon die ganze Zeit vor ihr lag und leider auch nur in türkisch verfasst war.
Sie wusste, dass es noch eine deutsche Karte gab, doch die lag wahrscheinlich nicht draußen. Sie konnte zwar die Buchstaben mittlerweile lesen, doch die Bedeutung derer war ihr noch immer schleierhaft.
Ben bestellte einen Raki und war damit wenigstens auf der sicheren Seite.
Kurz sammelte Marlena sich, dann fragte sie Ben weiter ungeniert aus:
„Und warum soll sie nicht wissen, dass du da warst?“
Er antwortete ausweichend. „Sie würde sich nur Sorgen machen.“
Marlena nahm sich vor, nicht zu fragen, inwiefern sich seine Schwester deshalb Sorgen machen müsste. Schließlich war er Soldat. Der Einsatz in der Fabrikhalle war wohl ein Zuckerschlecken im Gegensatz zu dem, was ihn in einem Land erwarten würde, wo er nicht nur aus freundschaftlicher Zusammenarbeit seine Dienstzeit verbringen würde. Eine Grenze weiter zum Beispiel...
„Wieso wart ihr überhaupt dort? Ich meine, wie habt ihr davon erfahren?“, fragte sie stattdessen.
Ben kniff die Augen zusammen. Sie stellte fest, dass das unwahrscheinlich süß aussah.
„Kann ich dir leider nicht sagen.“, sagte er ernst.
„Warum nicht?“
„Schweigepflicht!“, konterte er und sah dabei ziemlich selbstgefällig aus.
Damit hatte er ihr den Wind aus den Segeln genommen und sie sah kurz schmollend an ihm vorbei.
Wenn er ihr jetzt schon mit Geheimnissen kam, würde sie ihm wohl nicht die erhofften Antworten entlocken können.
Und dabei wollte sie doch unbedingt wissen, woher der mysteriöse Tipp gekommen war.
Und vor allem wollte sie herausfinden, welchen Sinn das alles haben sollte.
Wieso gab jemand aus „ihren Kreisen“, also von den Tierschützern, der deutschen Bundeswehr den entscheidenden Hinweis, auf grausamste Tierquälerei in dem Land, in dem die Deutschen nur zu Gast waren? Dass die türkische Bevölkerung darauf nicht positiv reagiert hatte, war Marlena ja schon durch Tülins Reaktion klar gemacht wurden.
Der Kellner brachte die Bestellung.
Er stellte Marlena ein Ungetüm von Glas vor die Nase und sie roch eindeutig Rum.
Ben blickte auf ihren Becher, schmunzelte und prostete ihr dann zu.
Sie überwand sich und nahm ein Schluck, es fühlte sich an, als würde ihre Kehle verätzen und sie war sich sicher, für den Abend schon genug Hochprozentiges intus zu haben, doch sie schluckte beherzt und versuchte so gut es ging, kein angewidertes Gesicht zu ziehen.
Es war ein Cola-Rum-Mix, mit mehr Rum als Cola und sie war sich sicher, würde sie den Becher austrinken, würde sie die Nacht nicht überleben.
Marlena spürte wieder das behagliche Gefühl in ihrer Magengegend, als die Wirkung des Alkohols einsetzte. Doch diesmal wollte sie sich davon keinesfalls beirren lassen.
Sie war noch nicht fertig mit Ben. Diesem Fels in der Brandung, der so lässig vor ihr saß, immer wieder niedlich lächelte oder ernst blickte, was vielleicht zu seiner Erscheinung passte, aber nicht zu seinen Schokoaugen.
Ja, diese Augen – sanft und unglaublich warm.
Ihr fiel ein, wann ihr diese Augen das erste mal aufgefallen waren und wie sie festgestellt hatte, dass er vielleicht böse aussah, aber nie im Leben sein konnte. Und damit fiel ihr auch ein, was schon die ganze Zeit zwischen ihnen stand und sie es aus reiner Neugier fast verdrängt hätte.

„Danke“, stieß sie mit einem Mal atemlos und flüsternd aus.
Ben sah sie verwirrt an. Dann schien er zu begreifen.
„Ich hätte dich nicht gehen lassen dürfen.“, stellte er ebenso leise fest. „Nicht mit dem Huhn.“
„Ohne dem Huhn, wäre ich aber nicht gegangen.“, sagte sie ernst.
„Ich weiß, das habe ich dir angesehen.“
„Warum hast du mich trotzdem gehen lassen?“
Er sah sie einen Moment zu lange an, dann blickte er auf sein Glas. Seine Stirn zog sich in erbitterte Falten und er presste die Lippen aufeinander.
Doch er antwortete nicht.
Marlena wartete eine kleine Ewigkeit, bevor sie den Faden wieder aufnahm.
„Das Huhn ist übrigens letzte Nacht noch gestorben.“, sagte sie kühner, als sie es empfand. In Wirklichkeit ging ihr der Tod des Federviehs ziemlich nahe, auch wenn sie sich noch nicht erlaubt hatte, weiter über diesen Verlust nachzudenken.
„Das tut mir Leid.“, jetzt blickte er sie wieder an. Sah ihr direkt in die Augen, als suche er nach einer Regung oder einem Anzeichen, was der Tod ihr tatsächlich bedeutete.
Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen.
Marlena überlegte angestrengt, was sie ihn noch alles fragen wollte.
Im Prinzip war sie ihrem Ziel noch kein Stück näher gekommen. Sie wusste noch immer nicht, woher die Hühner stammten und was sie überhaupt hatten. Und er hatte ihr auch nicht sagen können, woher der Tipp gekommen war.
Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass er ihr etwas verschwieg.


***


Das Mädchen saß vor ihm und blickte ihn prüfend an.
Sie schielte immer wieder auf ihr Getränk, trank jedoch nichts. Er hatte ihr angesehen, dass sie keine Ahnung gehabt hatte, was sie sich da bestellte und den ersten Schluck hatte sie nur unter größter Selbstbeherrschung vor ihm trinken können.
Ihre strohblonden Haare waren zu so einem furchtbaren Omazopf gezwirbelt, vereinzelt hingen ihr Strähnen ins Gesicht, die sanft vom dem leichten Wind umhergeweht wurden.
Sie war ungewöhnlich blass für dieses Land, obwohl die Sonne langsam ihre Wirkung zeigte. Eine ganz leichte Bräune war auf Armen und Wangen zu erkennen.
Ihre Augen waren wunderschön. Mandelförmig und von jener Farbe, die man nie genau benennen konnte. Eine Mischung aus grau, blau und mit einem kleinen Stich ins Grüne – undefinierbar. Man konnte in solchen Augen stundenlang versinken und sich immer wieder fragen, welche Farbe sie nun hatten. Zu einem Ergebnis würde man nie kommen.
Sofort schoss ihm durch den Kopf, dass sie es genau diesen Augen zu verdanken hatte, dass er für einen kurzen Moment Schwäche gezeigt hatte, gestern, in dieser gottverlassenen Fabrik.
Normalerweise wäre kein Mensch an ihm vorbei gekommen.
Er war Soldat durch und durch – ein Befehl war für ihn Gesetz und er hätte sich eher den Finger abgeschnitten, als seinen Vorgesetzen nicht zu gehorchen.
Dafür war er ausgebildet worden und deshalb lag eine Spitzenkarriere bei der Bundeswehr vor ihm.
Er hatte sich für zwölf Jahre verpflichtet.
Die Armee war zu seinem Leben geworden, hier konnte er sich identifizieren, hier war er zu Hause.
Seine Kameraden bedeuteten ihm alles, genauso viel, wie seine Familie.
Und nun hatte er wegen diesem kleinen Mädchen alles aufs Spiel gesetzt.
Und zu allem Überfluss war sie auch noch so verdammt neugierig – das war nicht gut.
Er hatte sich den Verlauf ihres Computers im Internetcafé sofort angesehen. Sie hatte schon zu viel heraus gefunden, sogar mehr, als er selbst wusste.
Nun war es oberste Priorität, sie in dem Glauben zu lassen, dass Theresa nichts von ihrer Bekanntschaft erfahren durfte. Alles andere würde sie ihrem wissbegierigem Ziel viel zu Nahe bringen und das konnte er nicht zulassen.
Nicht – weil er sie für dumm und naiv hielt oder weil er nicht wollte, dass sie irgendetwas heraus fand. Nein. Es war, weil er sie beschützen wollte, instinktiv.
Ihre Nachforschungen könnten ihr zum Verhängnis werden. Es war einfach eine Nummer zu groß für so ein kleines Mädchen.
Sie sah eh schon mitgenommen genug aus.
Er fragte sich, was sie aufgehalten hatte. Da er mit einer Schwester aufgewachsen war, wusste er ganz genau, wann eine Frau etwas zu verbergen hatte und er sah ihr an, dass sie geweint hatte.
Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, diese zierliche und zerbrechliche Gestalt.
Es schmeckte ihm überhaupt nicht, dass er nicht ehrlich zu ihr sein konnte.



***


„Weißt du, woher die Hühner stammten?“, fragte Marlena unvermittelt.
Ben sah aus, als hätte man ihn aus einer konzentrierten Überlegung gerissen und er sah sie irgendwie merkwürdig an.
„Nein.“, er schüttelte langsam mit dem Kopf.
Sie war es beinahe Leid, immer wieder diese Antwort zu bekommen.
Frustriert griff sie zu ihrem Becher und nahm mit zusammen gekniffenen Augen einen Schluck. Danach schüttelte sie sich automatisch.
Als sie wieder zu Ben sah, lächelte dieser.
„Warum trinkst du das, wenn es dir nicht schmeckt?“
„Quatsch, das schmeckt ausgezeichnet!“, erwiderte sie gedehnt.
Beide fielen in ein Lachen.
Marlena bemerkte, dass Ben ein wirkliches nettes Lachen hatte. Tief und heiser – sehr ansteckend. Und es passte zu seinen Augen, es brachte sie zum strahlen.

Das Eis zwischen ihnen war augenblicklich gebrochen.
Marlena entschied, die Sache erstmal auf sich beruhen zu lassen. Aus diesem muskelbepacktem Jungen war im Moment nichts weiter rauszukriegen.
Vielleicht war es klug, ihm erstmal näher zu kommen und dann das Geheimnis zu lüften, welches er offensichtlich vor ihr verbarg.
Sie konnte es direkt spüren, dass er Informationen zurückhielt.
„Lass uns doch mal über etwas anderes reden!“, schlug Ben vor, als hätte er ihre Gedanken gelesen und musterte sie dabei eindringlich.
Marlena fand den Blick keinesfalls unangenehm oder hatte das Gefühl schnell wegsehen zu müssen.
Sie hielt ihm stand, verlor sich kurz in seinem markanten Gesicht und nickte dann fröhlich.
„Du arbeitest hier also in einem Hotel?“, dabei sah er auf ihr T-Shirt.
Sie nickte. „Ja, ich bin Kinderanimateurin.“
„Klingt ja nicht sehr begeistert.“, stellte er belustigt fest.
Marlena seufzte, dann erzählte sie ihm die unglückliche Geschichte, wie sie von der versprochenen Guest-Relation-Managerin zum Kinderclown degradiert wurde.

Das Gespräch zwischen den Beiden entspannte sich.
Sie führten eine lockere Unterhaltung, erzählten sich jeweils Dinge aus ihrem Leben, tratschten über das türkische Klima und die fremde Mentalität, scherzten miteinander und kamen sich Stück für Stück näher.
Marlena stellte schnell fest, dass ihr Ben sehr sympathisch war. Er war so locker und unkompliziert, vermittelte ihr nie das Gefühl, irgendwie überlegen zu sein. Im Gegenteil, sie bewegten sich auf einem Nenner.

Auch Ben schien sichtlich angetan von der kleinen Blondine. Er stellte fest, dass er ihr stundenlang hätte zuhören können. Sie erzählte mit einer solchen Leidenschaft und übersah dabei ihre eigene niedliche Tapsigkeit, die immer wieder unter der bröckeligen Selbstironie zu Tage kam.
Sie berichtete ihm von der Tierschutzarbeit und er spürte, wie wichtig ihr das Thema war. Dass sie mit Leib und Seele dabei war, wie sie ihr Leben nach dieser schierbar sinnlosen Aufgabe richtete und er schlussfolgerte, dass die kleine Tierretterin einfach nur von Grund auf gut sein konnte.
Auf eine verschrobene Weise bewunderte er ihr sie sogar. Und er verstand sie.
Er selbst hatte ja auch seine Bestimmung in der Armee gefunden. Marlenas Leidenschaft für den Tierschutz war vielleicht nicht der passende Vergleich, jedoch war es für Beide etwas, was sie antrieb.
Und das war seiner Meinung nach mehr als wichtig. Menschen brauchten eine Aufgabe.

Mittlerweile schmeckte die Rum-Cola.
Marlenas Zunge war dafür umso schwerer geworden.
Das Gespräch mit Ben hatte sie gefesselt, jedoch sah sie nun verstohlen auf ihre Uhr.
Es war weit nach Mitternacht. Als sie sich umsah, stellte sie ebenso erschrocken fest, dass sich die Bar schon beachtlich geleert hatte.
„Ben, ich muss nach Hause.“, sagte sie müde und mit einem traurigen Lächeln.
Dieser hatte gerade den letzten Rest seines mittlerweile dritten Rakis geleert.
„Gut, ich bringe dich!“, antwortete er entschlossen.
„Das musst du aber nicht.“, erwiderte sie schüchtern.
Ben lächelte. „Du bist betrunken und dieser Typ da hinten lauert schon eine ganze Weile darauf, dass du dich alleine von diesem Tisch entfernst. Keine Diskussion, ich bringe dich!“
Marlena kniff die Augen zusammen.
In ihrem Kopf drehte sich alles. So viel hatte sie noch nie getrunken und wusste jetzt auch wieder warum – sie vertrug einfach keinen Alkohol.
Sie fand Bens Fürsorge irgendwie niedlich, außerdem fühlte sie sich geschmeichelt. An seiner Seite würde sich wahrlich niemand trauen, sie auch nur anzusehen.
Doch von was für einem Typen hatte er da gesprochen?
Träge wandte sie sich um und folgte seiner Blickrichtung.
Keine zwei Tische weiter, direkt hinter ihr, saß Yati.
Er starrte sie an. In seinem Gesicht lag etwas Unheilvolles.
Sie blickte mit klopfendem Herzen in seine eisblauen Augen und war auf den Schlag wieder nüchtern.






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