Turkish Delights - Zucker und Zorn - Teil 5

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 06.10.2012


Uff!
Nach einem entspannten Urlaub, einer höllischen Schreibblockade und einer verrückten neuen Idee, die unbedingt umgesetzt werden wollte aber mal so garnichts mit dieser Geschichte zu tun hatte, habe ich endlich die Fortsetzung fertig und stelle fest: So langsam übersteigt die ganze Story meinen kleinen Horizont! Ich muss mich schon ganz schön konzentrieren, um am Ball zu bleiben.
Wenns euch zu kompliziert oder strange wird, dann bremst mich bitte aus!
Nun viel Spaß!
Güßchen, eure Maggie ♥



Kapitel 5


An dem nächsten Tag schien ihr alles übertrieben und unpassend.
Die Sonne strahlte zu grell, die Kinder lachten zu fröhlich und die Urlauber waren zu glücklich. Sie befand sich an einem Ort des Spaßes, der ultimativen Urlaubsfreude und der puren Erholung – dabei fühlte sie sich, wie von einem Vierzigtonner überrollt.
Der Tag hatte mit einem Blick auf ihre zerschrammte Hand begonnen. Die entzündeten Wundränder waren ein solch übler Anblick gewesen, dass sie ihren Appetit für den ganzen Tag verloren hatte.
Später war sie der unbekümmerten Tülin und dem dauergrinsenden Micha über den Weg gelaufen, beide hatten ihr fröhlich zugewunken. Ihr war bewusst geworden, in was für eine Gefahr sie ihre zwei Freunde gebracht hatte und das die beiden nicht die geringste Ahnung von der dunklen Bedrohung hatten, die ihnen wie ein unsichtbarer Schatten hinterher jagte. Marlena hätte am liebsten heftig losgeheult.
Sie fühlte sich wie Judas, sie war ein hinterhältiger Verräter, wenn auch ungewollt.
Noch eine Weile später, die Kinder spielten ausnahmsweise relativ einträchtig miteinander, war Yati einfach so bei ihr im Miniclub reingeschneit und hätte sie fast bei einem Nickerchen erwischt.
Sie war hochgeschreckt und fast vom Glauben abgefallen, als er leibhaftig vor ihr stand, so bei Tageslicht um etliche Nuancen schöner, allerdings mit einem griesgrämigen Gesicht, welches dem trotzigen Jordan alle Ehre machte.
Er hatte kein Lächeln für sie übrig gehabt, hatte sie paschalike zu sich gewunken und ihr dann ins Ohr geflüstert, mit Karamellstimme und Honigatem, dass das Huhn die Nacht nicht überlebt hatte. Noch während ihr die traurige Nachricht durch und durch gegangen war, war er wieder verschwunden. Er hatte sie zurückgelassen, verwirrt, voller Fragen und zu allem Überfluss war sofort Tülin aufgetaucht, mit staunenden Augen und gierigem Frageblick.
Marlena hatte sich abgewandt, eine einsame Träne von ihrer Wange gewischt und sich zu einem ruhigen Mädchen an einen kleinen Tisch gesetzt, um mit ihr ein Bild zu malen. Ein Bild, von einem weißen Huhn mit einem ungewöhnlich braunem Fleck am rechten Flügel.

„Was zur Hölle hatte Hayati vorhin HIER verloren?“
Tülin betonte jedes Wort einzeln, riss dabei theatralisch ihre Augen auf und stemmte die Hände in die Hüften.
Marlena zuckte zusammen. Gerade war sie dabei gewesen Spielzeug einzusammeln, Stifte zu sortieren und einen verdächtig schleimigen Fleck vom PVC zu schrubben, als Tülin in der Tür stand. Sie wusste was ihr jetzt blühte. Ein Verhör der allerfinstersten Sorte, geführt von einer unbarmherzigem Türkin.
Am liebsten hätte sie ihr sofort die Wahrheit gebeichtet, ihr verraten, was sie gestern getan hatte und nebenbei erwähnt, dass wahrscheinlich ein Haufen rachedürstiger Tierquäler nun hinter den Kinderclubanimateuren des Sunny Beach Resorts her waren. Es wäre zu schön gewesen, verlockend, den Ballast ihres schlechten Gewissens und ihre Sorge zu teilen, doch sie konnte nicht.
Da war sie ziemlich pragmatisch veranlagt. Je mehr Tülin wusste, umso schlechter war das für sie.
Und da Marlena den halben Tag damit verbracht hatte, über eine plausible Erklärung für ihre malträtierte Hand und den höchst ungewöhnlichen Besuch des Junior-Chefs nachzudenken und letztendlich einsehen musste, dass sie eine gnadenlos schlechte Lügnerin war und die scharfsinnige Tülin sie sogar bei der kleinsten Unwahrheit durchschaute, hatte sie sich dazu entschieden, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen: Sie würde ihr nur die halbe Wahrheit erzählen.
„Er hat mir eine Nachricht überbracht.“, sagte sie geheimnisvoll und versuchte dabei möglichst lässig zu klingen.
„Was für eine Nachricht?“ Tülin klang fast aufgebracht.
„Eine Nachricht eben!“, antwortete sie ziemlich einfallslos.
Schon war sie an ihre Grenzen gekommen, sie verfluchte sich innerlich und konzentrierte sich übertrieben auf die farbliche Sortierung der Wachsstifte, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet lagen.
„Was ist mit deiner Hand passiert?“, dabei deutete Tülin auf den Verband.
Marlena stellte fest, dass ihre Freundin die Tonart angeschlagen hatte, in der sonst nur ihre herrische Mutter mit ihr sprach. Das machte sie äußerst nervös.
„Bin gestürzt.“, murmelte sie zur Antwort.
„Wann?“
„Gestern.“
„Wo?“
Mein Gott, sie war eindeutig schlimmer als ihre Mutter. Marlena wich ihrem strengen Blick aus, erinnerte sich daran, dass sie sich das nicht gefallen lassen musste und antwortete schnippisch:
„Zu Hause. Tülin. Bist du jetzt fertig mit der Ausfragerei?“
Tülin sah nicht überzeugt aus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und verzog abfällig den Mund.
„Du verheimlichst mir etwas.“, stellte sie fest.
Marlena zuckte mit den Schultern.
„Wenn du meinst.“
„Und du verhältst dich dazu noch total kindisch!“
Da musste Marlena ihr recht geben, allerdings wusste sie sich auch nicht anders zu helfen. Sie presste die Lippen aufeinander und ignorierte ihre Freundin, die noch immer fordernd vor ihr stand.
„Kommst du mit zum Palm?“, fragte sie schließlich.
Marlena atmete innerlich auf, fürs erste war die Gefahr gebannt, doch sie war sich sicher, dass Tülin das Schweigen nicht auf sich beruhen lassen würde, das tat sie nie.

Das „Palm Restaurant“ war eine heruntergekommene Absteige in Colakli, ungefähr fünf Gehminuten vom Hotel entfernt. Dort verbrachten Marlena, Tülin und Micha meistens ihre Mittagspause, was zwei Stunden waren, in denen die Bälger selig schliefen oder bei ihren Eltern klebten.
Das kleine Bistro war schäbig, die Außenterrasse prunkte mit ausgeblichenen Plastikmöbeln, im Inneren war es dunkel und es roch nach Fett, vertrocknete Blumen zierten die Steinmauer, die die Tische draußen von der staubigen Straße trennte und der Wirt war ein mürrischer Kurde, der seine besten Tage schon hinter sich hatte. Doch das Essen war grandios.
Tülin und Marlena waren schweigend zum Restaurant gelaufen, während Micha prahlerisch von der letzten Nacht am Strand erzählte.
„Das müsst ihr euch mal vorstellen Mädels!“, sagte er begeistert. „Fünf Flaschen Raki haben wir vernichtet! Das nenne ich mal ne Hausnummer!“
Marlena schüttelte es bei dem Gedanken an das anishaltige Getränk.
„Da könnt ihr ja mächtig stolz auf euch sein.“, pflichtete Tülin voller Ironie bei.
Micha war resistent gegen Sarkasmus.
„Das war ne Nacht sag ich euch!“
Sein Gesicht verfiel in einen träumerischen Ausdruck der Erinnerung. Marlena wollte garnicht wissen, an was er gerade dachte.
Sie ließen sich an ihrem Stammtisch nieder.
Marlena spürte noch immer Tülins scharfen Blick auf sich ruhen. Die ganze Situation war ihr mehr als unangenehm. Als sie vor einigen Monaten mit der gehassten Arbeit und den vorlauten Kindern völlig überfordert gewesen war und das neue Land mit der so ganz anderen Mentalität sie zu überrollen schien, war es Tülin gewesen, die sich ihrer angenommen hatte. Die Türkin, die viele Jahre ihrer Kindheit in Deutschland gelebt hatte, mit Fünfzehn zu ihrer Großmutter ausgewandert war und trotz deutscher Erziehung sich nur in ihrem Geburtsland heimatlich fühlte, war ihr eine enge Freundin geworden.
Tülin war trotz ihrer dominanten Art ein sehr einfühlsamer Mensch und war immer für Marlena da gewesen. Es fiel ihr nicht leicht, ihr etwas zu verschweigen. Es fühlte sich falsch an.

„Ne onu yemek istiyorum?“
Der Kurde stand vor ihnen, gelangweilt und etwas dreckig, wie immer. Marlenas Türkisch reichte gerade so, dass sie es als „Was möchtet ihr essen“ übersetzen konnte, allerdings nur, da sich die Frage aus der Situation erschloss und der mürrische Ladenbesitzer sie ihnen jeden Tag stellte.
Tülin orderte in schnellem Türkisch ihre Bestellung, dann sah sie Marlena fragend an.
„Ich nehme den Salat und ein Ayran.“, murmelte sie verlegen, was Tülin für sie übersetzte.
Micha bestellte Raki und Gyros, er hatte mittlerweile keine Probleme sich mit Einheimischen fast fließend zu unterhalten.
Dann saßen sie wieder stumm an ihrem Tisch. Michas Blick ging zwischen den Freundinnen hin und her. Er schien zu überlegen.
„Stimmt irgendwas nicht?“, war schließlich seine Frage.
„Das musst du Marlena fragen -“, antwortete Tülin selbstgefällig. „- Sie ist diejenige, die uns etwas verheimlicht.“
Marlena wäre beinah entrüstet, hätte sie nicht damit gerechnet, dass Tülin diese Masche fahren würde. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah desinteressiert zu dem alten Mann, der zwei Tische weiter saß und in seiner Tageszeitung versunken war.
„Hä? Marli?“ Micha tippte sie sachte an. „Hallo?“
„Ich habe keine Geheimnisse.“, war ihre ausweichende Reaktion.
„Na dann kannst du uns ja endlich verraten, was Yati heute von dir wollte!“ Tülin schien die Geduld zu verlieren. Micha riss die Augen auf.
„Hayati war heute bei DIR?“
„Was ist daran so besonders?“, verteidigte sie sich. Dass Micha so ungläubig aussah, nahm sie fast als Beleidigung auf. Hielt er es für so abwegig, dass Yati sich für sie interessierte? Er wusste ja nicht, dass es keinen persönlichen Grund gab und sie selbst wusste, dass sie mit Yati wahrscheinlich in zehn Jahren noch kein Wort gewechselt hätte, hätte es den gestrigen Abend nicht gegeben.
Sie funkelte ihn trotzdem böse an. Er schien sofort zu begreifen, dass seine Frage unüberlegt gewesen war
„Ähm...also. Naja, weißt du...-“
„Spar dir das...“, sie winkte ab. Im Grunde hatte er ja Recht.
Micha wollte dennoch die Wogen glätten.
„Nicht, dass du nicht hübsch genug für ihn wärst Marli, so war das nicht gemeint. Nur interessiert er sich einfach nicht für Angestellte. Das hat er noch nie getan...bis jetzt jedenfalls...“
Marlena sah ihn nachdenklich an. Er wirkte auf einmal irgendwie...beeindruckt. Und Tülin zog besorgt die Augenbrauen zusammen. Beide hatten einen falschen Eindruck, schoss es ihr durch den Kopf. Sie denken, Yati würde mit mir anbändeln! Schön wärs!
Sie verfluchte sich für den kurzen Gedanken, dann sah sie sich gezwungen die Situation aufzuklären. Das war sie ihren Freunden schuldig. Sie musste ihnen dabei ja noch immer nicht verraten, was gestern wirklich passiert war.
„Ihr zieht falsche Schlüsse -“, begann sie zu erklären, Tülin fiel ihr ins Wort.
„Was soll man denn sonst für Schlüsse ziehen Marlena? Yati ist vielleicht der heißeste Halbtürke auf diesem Planeten, dennoch ist er mit allen Wassern gewaschen und verspeist solche Mädchen wie dich zum Frühstück!“
Marlena fiel die Kinnlade runter.
„Da muss ich Tülin zustimmen.“ Micha mischte sich wieder ein und klang ziemlich neunmalklug. „Du bist diesem Kerl nicht gewachsen Marli. Er hat schon ganz anderen das Herz gebrochen. Halt dich von ihm fern.“
Er sah sie mitleidig an. Marlena traute ihren Ohren nicht.
„Du klingst wie ne Schwuchtel Micha.“ Sie war sauer.
Alles an diesem Gespräch war falsch. Yati interessierte sich nicht so für sie, auch wenn sie sich vielleicht heimlich danach sehnte. Dass ihre Freunde sie vor ihm warnten und ihr von ihm abrieten, ohne dass da überhaupt etwas war, machte sie wütend und war ihr gleichzeitig peinlich.
Und zu allem Übel musste sie ihnen jetzt auch noch gestehen, dass sie wirklich nichts Besonderes war, dass sie es nicht geschafft hatte, den Unantastbaren um den Finger zu wickeln – genau das, was der Traum vieler Frauen war und tief in ihrem Herzen vielleicht auch ihrer, was sie sich zu ihrer Schande auch noch gerade eingestehen musste.
„Eure weisen Sprüche sind ja ganz nett, aber ziemlich fehl am Platz.“, begann sie resigniert.
„Hayati ist zufällig beim gleichen Tierschutzverein, wie ich. Wir sind uns gestern das erste Mal begegnet und er hat mir heute wirklich nur eine Nachricht vom Vereinsgründer überbracht.“
Sie seufzte, das klang gerade so armselig.
Tülin und Micha schnappten beide nach Luft.
„Yati ist beim Tierschutz?“ Tülin schüttelte den Kopf.
Der Kurde brachte ihnen das Essen und verschaffte Marlena eine kurze Verschnaufpause.
Der Salat vor ihr sah köstlich aus, doch sie ahnte, dass sie keinen Bissen runterkriegen würde.
„Das gibt’s doch nicht!“, war Michas verblüffter Kommentar.
Tülin biss leidenschaftlich in ihren Cheeseburger und nuschelte dann:
„Der Junge hat einen türkischen, konservativen Vater, da scheint der Rebell mit ihm durchzugehen. Ich wette mit dir, der alte Canavar hat keine Ahnung von den Machenschaften seines Sprösslings.“
Sie grinste wissentlich und schluckte geräuschvoll den Bissen hinunter.
„Also warst du gestern im Tierheim?“
Marlena nickte.
„Und deine Hand? Hat dich wieder so ein Flohteufel gebissen?“
Wieder nickte sie, auf diese Weise zu lügen war einfacher als gedacht.
Auch Micha hatte sich auf sein Mittagessen gestürzt und verspachtelte in beängstigender Geschwindigkeit die Mahlzeit. Marlena jedoch dachte über Tülins Reaktion nach und fragte schließlich:
„Was meinst du mit Rebell? Warum sollte Yatis Vater nichts von seinem Engagement wissen?“
Tülin verdrehte die Augen, legte die Kalorienbombe zur Seite, trank einen Schluck ihres Apfeltees und sah dann berechnend zu Marlena.
„Ich habe dir das schon mal erklärt...-“
Marlena erinnerte sich daran, dass Tülin alles andere als begeistert gewesen war, als sie ihr von ihren ehrenhaften Absichten erzählt hatte.
„...-Tierschützer sind hier nicht beliebt, Süße. Die Meisten von euch gehen zu radikal vor und außerdem beleidigt ihr unsere Traditionen und unseren Glauben!“
Marlena wusste, dass sie sich auf glattem Eis bewegte. Tülin war zwar selbstbewusst und modern, in vielen Hinsichten allerdings genau so konservativ wie ihre gebrechliche, kopftuchtragende Großmutter.
„Und was hat das mit eurem Glauben zu tun, wenn wir kranke Hunde und Katzen von der Straße fangen?“, konterte sie vorsichtig.
Tülin sah sie scharf an.
„Gar nichts. Doch sobald ihr behauptet, wir seien Tierquäler oder hätten keine Achtung vor den Geschöpfen dieser Welt, ist es eine Beleidigung.“
„Das habe ich nie gesagt.“ Marlena blickte verlegen auf ihren unangetasteten Teller.
Tülin lenkte sofort ein. „Du vielleicht nicht, aber es gibt eine Menge Leute, die das tun. Es ist immer problematisch, wenn Ausländer dir in deinem Land Vorschriften machen wollen.“
Zufrieden mit ihren Ausführungen nahm sie sich wieder den Burger und biss hinein.
„Mhm, der ist köstlich.“, murmelte sie ekstatisch, wie, um die Diskussion zu beenden und auf ein anderes Thema zu lenken.
Marlena beschäftigten ihre Ausführungen dennoch. Sie war zu lange und zu sehr mit dem Herzen beim Tierschutz, als dass sie diese Worte auf sich sitzen lassen konnte.
„Niemand macht Vorschriften! Es sind Vorschläge. Wir bieten unsere Unterstützung an. Wir wollen helfen, nicht stänkern.“
Tülin fragte sie mit vollem Mund. „Vielleicht will niemand eure Hilfe?“
Das verschlug ihr fast die Sprache.
„Tülin! Wie kannst du so etwas sagen? Den Tieren hier geht es schlecht und es interessiert keine Sau! Vielleicht wollt IHR keine Hilfe, aber die kleine Katzenfamilie vor meiner Terrasse sieht ziemlich dankbar aus.“
Sie schob den Salat von sich fort, trank einen Schluck ihres Joghurtgetränks und starrte dann traurig in die Landschaft.
Micha schwieg. Er blickte in verängstigter Erwartung zu Tülin, welche so aussah, als würde sie einen inneren Kampf ausfechten. Zu seinem Erstaunen antwortete sie ganz ruhig.
„Du vermenschlichst die Tiere. Das ist nicht gut.“
„Nur weil ich jedem Lebewesen eine Seele zuspreche und der Meinung bin, dass eine Maus genauso Schmerz empfindet wie ich, heißt das noch lange nicht, dass ich Tier nicht Tier sein lasse. Da verwechselst du etwas.“
Marlena hatte solche Diskussionen schon über hundert Mal geführt.
„Und du vergisst dich selbst dabei! Jedes Lebewesen hat einen Nutzen. Ein Kuh gibt Milch, ein Huhn legt Eier, Hunde sollen Einbrecher vertreiben und Katzen fangen Mäuse. Jeder hat nun mal seine Bestimmung! Und das respektieren wir.“
Marlena entging nicht der pampige Ton.
„Bestimmung?“ Sie konterte ebenso schnippisch. „Und wer hat festgelegt, welche Bestimmung, welches Tier hat? Ganz sicher hat sich die Kuh nicht ausgesucht, für den Menschen Milch zu geben. Deine Argumente werden immer schwammiger!“
Tülin funkelte ihre Freundin an. Die Spannung, die in der Luft lag, war unerträglich.
Micha versuchte noch die Stimmung zu retten.
„Mädels! Jetzt beruhigt euch mal! Das führt doch zu nichts!“
Das sah Marlena ähnlich. Wie oft hatte sie auf dieser Ebene argumentiert und war doch auf sture Köpfe getroffen. Und eigentlich wusste sie ja, wie Tülins Einstellung war. Sie fragte sich nur, ob solche grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten einer Freundschaft irgendwann das Ende bereiten könnten.
Tülin seufzte. „Du hast Recht, Micha.“
Dann sah sie zu ihr.
„Ich wollte nicht, dass dieses Gespräch so ausartet. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass du vorsichtig sein sollst.“
Bei Marlena läuteten die Alarmglocken. „Wie meinst du das?“
„Euer Einsatz wird schnell missverstanden. Und hier herrschen nun mal andere Regeln!“
Marlena schluckte einen dicken Kloß hinunter. Tülin hatte versucht, ihr zu verdeutlichen, dass die Einheimischen ihr Handeln offensichtlich als Beleidigung auffassten.
Wieder dachte sie an die Kamera und ihr brach vor Angst der Schweiß aus. Was, wenn sie gefunden worden war? Sie hatte keine Ahnung, mit wem sie sich da angelegt hatte. Vielleicht waren es sogar Leute von der Regierung? Man konnte doch nie wissen, wer bei solchen Angelegenheiten mit drinnen hängt, besonders, wenn es, wie immer, um Geld geht. Außerdem hatte der Typ offensichtlich eine Uniform an. Würden irgendwelche einschlägigen und korrupten Tierquäler so offiziell gekleidet sein? Und überhaupt, was hatte ein deutscher Junge dort verloren gehabt?
Bis jetzt hatte sie noch keine Zeit gehabt, über den Hünen nachzudenken, der sie einfach so entkommen lassen hatte.
„Das letzte Nacht war jawohl das beste Beispiel!“ fiel Tülin in ihre Gedanken.
Marlena durchfuhr ein Ruck. Letzte Nacht? Wovon sprach sie?
Tülin schien ihr die Frage vom Gesicht abzulesen.
„Es kommt heute schon den ganzen Tag überall in den Nachrichten.“ Sie klang, als spräche sie mit einem Kleinkind. Marlena sah hilfesuchend zu Micha. Dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Wir hören keine türkischen Nachrichten Tülin. Klär uns doch bitte auf!“
Diese deutete sofort auf den alten Mann, der zwei Tische weiter saß und den Marlena nicht weiter beachtet hatte. Ihr Blick fiel auf die offene Zeitung, die er hoch hielt. Nicht die Schlagzeile war es, die ihr den Schock bereitete, denn diese konnte sie eh nicht übersetzen. Es war das Bild darunter. Das Bild von einem Gebäude, welches sie kannte und wo sie schon einmal gewesen war. Gestern! Es war die Fabrik mit den gequälten Hühnern im Inneren.

Sie sprang auf und entriss dem Alten die Zeitung. Sein Protest und die türkischen Flüche waren ihr egal. Sie starrte wie paralysiert auf das Foto.
Was, zur Hölle? Wieso war dieses Gebäude auf der ersten Seite dieses Tagesblattes?
Ihr fiel keine vernünftige Erklärung ein.
Völlig aus der Fassung geraten knallte sie das bedruckte Papier vor Tülin auf den Tisch.
„Was steht da?“ Sie kreischte beinah.
Tülin sah sie erschrocken an, sie riss dabei ihre dunklen Augen auf und wirkte zunehmend geschockt über das Verhalten von ihrer sonst so besonnenen Freundin.
„Was ist denn in dich gefahren?“, fragte sie vorsichtig.
Marlenas Herz schlug bis zum Hals, ihre Hände zitterten.
„Sag mir sofort was da steht!“ Ihre Stimme überschlug sich.
Tülin und Micha wechselten einen besorgten Blick, dann stand die Türkin auf.
„Jetzt beruhige dich erstmal, ja?“ Sie nahm die Zeitung, gab sie dem Alten zurück und setzte sich dann wieder an den Tisch. Marlena starrte mit angstgeweiteten Augen zu ihrer Freundin.
„Die haben letzte Nacht ne alte Fabrikhalle voller verseuchter Hühner gestürmt.“, begann Tülin die Erklärung. Marlena traute ihren Ohren nicht.
„Wer sind „die“?“, fragte sie atemlos.
„Deutsche Soldaten!“ Bei der Antwort verzog Tülin ihren Mund.
Marlena und Micha schüttelten verständnislos ihre Köpfe. Micha stellte die entscheidende Frage:
„Was haben deutsche Soldaten hier verloren?“
Tülins Blick wurde selbstgefällig. „Das ist ja der Grund für diese ganze Aufregung. Die waren hier eigentlich nur zu Besuch, eine internationale Lehrveranstaltung, keine Pflichten und besonders keine Rechte!“ Sie schnaubte.
„Also hatten die nicht mal die Befugnisse für diesen Übergriff?“, fragte Micha fassungslos.
„Offiziell brauch man für so etwas keine Befugnisse. Das hatte doch nichts mit der Sicherheit des Landes zu tun. Es war allerdings eine Frechheit, dass die deutsche Bundeswehr sich in Dinge einmischt die sie nichts angeht...und das auch noch im Alleingang!“
Marlena verstand mal wieder so gut wie Nichts. Das Einzige, was bei ihr ankam, war die Information, dass der Junge mit diesen wunderschönen sanften Augen gestern wohl offensichtlich ein deutscher Soldat gewesen war.
Ihre Gedanken überschlugen sich.
„Stop!“ , rief sie. „Bitte, Tülin, erklär mir nochmal langsam und für Dummies, was da gestern passiert ist und was daran so schlimm war!“
Tülin sah sie leicht berechnend an.
„Die deutsche Bundeswehr, die hier zu Besuch ist, um etwas von UNS zu lernen, ist gestern ungefragt in dieses Gebäude mit diesen todkranken Viehzeug gestürmt, hat da alles evakuiert und wirft uns jetzt einige fiese Sachen vor.“
Marlena entging nicht die Empörung, die in Tülins Stimme mitschwang.
Doch sie hatte zu viele Fragen. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf und sie hätte am liebsten alles auf einmal beantwortet bekommen. Doch sie musste sich jetzt erstmal wieder sammeln, ruhig bleiben. Ihre Reaktion auf das Bild war offensichtlich genug gewesen und Tülins Stimmung nahe dem Gefrierpunkt, sie musste mehr als vorsichtig vorgehen.
„Äh...nur zum Verständnis: Wer wirft wem was jetzt genau vor?“
Micha segnete ihre Frage mit einem Nicken ab, auch er schien etwas perplex.
„Oh, da gibt es mehrere Möglichkeiten.“ Tülins Antwort triefte vor Ironie und sie lächelte ziemlich falsch. „Die Deutschen werfen uns vor, dass die türkische Regierung entweder von dem halbtoten Federvieh wusste, es aus dem Verkehr gezogen hat und an diesen Ort gebracht hat, um es da elendig verrecken zu lassen. Oder, und diese Variante klingt vielleicht netter, ist sie aber nicht, wir wussten nichts davon und irgendwelche korrupten geldgeilen Industrieleute versuchen eine Seuche unter dem Tierfleisch zu vertuschen. Vogelgrippe und so.“
Marlena rauschte der Kopf, während Tülin unbeirrt und relativ zornig weitersprach.
„Allerdings könnte es auch sein, dass alle unter einer Decke stecken oder gar, dass die Vögel aus einer missglückten Versuchsreihe entsprungen sind, vielleicht haben wir unseren Brathähnchen ja das falsche Antibiotika verabreicht, wer weiß?“
Micha und Marlena fehlten die Worte.
Dieses gestrige Abenteuer, was als harmlose Tierschutzaktion begonnen hatte, war zu solch einem katastrophalen Ausmaß herangewachsen, dass Marlena nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte.
„Und...und was steckt nun wirklich dahinter?“, fragte sie zittrig.
Tülin zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, das versucht ein Ausschuss nun herauszufinden. Die Regierung weist alle Anschuldigungen von sich. Ist ja auch egal, was da passiert ist, Fakt ist: Wir stehen wieder mal ziemlich dämlich vor dem Rest der Welt da!“
Fast hätte diese Anmerkung das Fass zum Überlaufen gebracht. Marlena fand es aberwitzig Vaterlandstolz vor Tierleid zu stellen, doch sie hatte keine Lust auf weitere Diskussionen, vielmehr brannte sie auf Informationen und versuchte aus dem Wirrwarr in ihrem Kopf, unauffällige Fragen zu formen.
„Ich brauch jetzt ne Zigarette!“, rief Tülin gefrustet aus. Sie kramte in ihrer Handtasche, während Marlena nachdachte und dann schließlich fragte:
„Stand noch irgendetwas in dem Zeitungsartikel?“, zum Beispiel, dass die Soldaten bei ihrem Einsatz auf einen Haufen Flüchtender und nicht zuordnungsbarer Menschen gestoßen war, fügte sie in Gedanken hinzu.
Tülin schüttelte leicht mit dem Kopf.
„Wie gesagt, allerhand Spekulationen, die die Deutschen nun über diesen kleinen Skandal verlauten lassen, außerdem ein paar reißerische Zeilen über die übereifrige Handlung der deutschen Bundeswehr und die damit verbundenen Konsequenzen der internationalen Zusammenarbeit beider Armeen.“
Diesmal ergriff Micha das Wort, zur Überraschung beider Mädchen, erfasste er ziemlich geschickt die Zusammenhänge.
„Willst du damit andeuten, dass es für euch ein fast größerer Skandal ist, dass Deutsche diese Tierquälerei entdeckt haben, als die Tatsache, dass ein solches Elend überhaupt direkt vor eurer Nase existiert?“
Tülin kniff die Augen zusammen.
„Natürlich lässt uns das nicht kalt, was dort geschehen ist, aber mit welchem Recht wurde euch denn erlaubt, einfach so die Macht an euch zu reißen und sich in unsere Angelegenheiten einzumischen?“
“Mit Keinem.“, antwortete er einsichtig. „Allerdings sollte das doch zweitrangig sein, meinst du nicht?“
Kurz dachte sie über seine weisen Worte nach. Marlena war ganz gerührt, von seinem Einsatz. So viel Verstand hatte sie dem Sunnyboy niemals zugetraut. Dann übertraf er sich fast selbst:
„Ich sehe ganz deutlich, dass der deutsch-türkische Konflikt sogar auf unsere kleine friedliche Gruppe Auswirkungen hat. Das sollten wir nicht zulassen, Mädels. Wir sitzen doch hier in einem Boot! Und außerdem haben wir uns doch so schrecklich lieb!“ Er grinste bei den Worten.
Tülin grinste ebenfalls, Marlena rang sich auch ein Lächeln ab. Die beiden Mädchen sahen sich an.
„Marlena, es tut mir leid, dass ich so emotional reagiert habe, aber in dem Artikel stand noch etwas, was mich ziemlich frustriert hat.“
Marlena wurde hellhörig und fragte zaghaft:
„Was denn?“
„Ein deutscher Tierschutzverein hat den Soldaten den entscheidenden Tipp gegeben und so wie ich deine dramatische Reaktion auf das Bild eben gerade interpretiere, denke ich, du wusstest davon!“
Tülins Antwort war niederschmetternd.
Marlena blieb der Mund offen stehen.
„Ein deutscher Tierschutzverein? Aber...aber das ist...“.
„Nun tu nicht so! Du kennst dieses Gebäude, du wusstest von dem Tierelend dort! Es war dein Tierschutzverein, der uns vorgeführt hat!“
Marlena war außer Stande einen klaren Gedanken zu fassen.
Wie ein Spinnennetz verkomplizierten sich die Ereignisse um sie herum. Das ergab doch alles keinen Sinn! Wieso sollte jemand von proPads deutschen Soldaten im Auslandseinsatz einen Hinweis auf türkisches Tierelend geben, danach zum Ort des Grauens fahren und dann vor den gerufenen Helfern flüchten?
Das war alles so absurd und verstrickt!
Sie hätten gestern doch nicht mal abhauen müssen! Die Männer waren auf ihrer Seite gewesen. Was für ein Irrsinn! Irgendwie überstieg gerade alles ihre Vorstellungskraft.
Und dann war da noch etwas, was an ihr nagte: Yati!
Warum hatte er ihr heute Morgen nicht erzählt, was da gestern passiert war? Warum erfuhr sie es erst jetzt, von ihrer türkischen Arbeitskollegin/Freundin?
Verdächtig?
Sie war kurz davor, einfach ihre sieben Sachen zu packen und den nächsten Flug nach Berlin zu nehmen.





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