Turkish Delights - Zucker und Zorn

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 23.08.2012


Da bin ich schon wieder :D
Die Idee schwirrte mir schon länger im Kopf umher, ich habe angefangen zu schreiben und war plötzlich bei sechs Seiten.
Mal sehen, wo mich diese Geschichte hinführt ;)
Ich bin gespannt, was ihr davon haltet!


Kapitel 1

Kleinkinder und Spaghetti – eine wahrlich schlechte Kombination.
Marlena beobachtete halb belustigt, halb angewidert, wie der kleine Jeremy-Jason-Fynn mit den langen Nudeln kämpfte, sich die rote Soße ins ganze Gesicht schmierte und angeknabberte Fleischstücken in den kleinen Mund schob. Die Hälfte der Portion war schon mal zwischen seinen Milchzähnen gewesen, er hatte es ausgespuckt, weil er sich zu viel auf einmal in den Rachen gestopft hatte, jetzt aß er die angesabberten Nudeln zum zweiten Mal.
Bei dem Anblick drehte sich langsam aber gründlich ihr Magen um.
Sie wandte den Blick ab und sah sich den Rest der riesen Sauerei an. Acht Kinder im Alter zwischen vier und sieben standen unter ihrer Verantwortung, die sogenannten „Minis“.
Sie saßen an dem Miniaturtisch des Kinderclubs und verspeisten voller Inbrunst die ungesalzene Mahlzeit. Kaum eines der verwöhnten Gören konnte ordentlich mit Besteck umgehen, also aßen sie mit ihren kleinen, dreckigen Fingern und veranstalteten dabei eine majestätische Schweinerei – und Marlena würde später alle verräterischen Spuren beseitigen müssen.
Sie stöhnte innerlich und strich sich eine vorwitzige Strähne aus der Stirn. Obwohl sie ihr Haar gern offen trug, hatte sie es in den letzten zwei Monaten jeden Tag zu einem Knoten im Nacken gebunden. Das war Vorschrift.
Am Anfang war sie über diese Bevormundung noch still empört gewesen, doch spätestens nach einer Stunde im Miniclub war ihr klar, dass diese Anordnung mit Sicherheit praktischen Überlegungen entsprang. Bei 40 Grad im Schatten wollte niemand mit offenen Haaren arbeiten.
Es war absurd heiß, die schwüle Hitze war fast unerträglich. Sie stand auf, kehrte den kleinen Ferkeln den Rücken zu und stellte sich direkt vor den Ventilator.
Ein Königreich für eine anständige Klimaanlage, schoss es ihr durch Kopf, während sie den lauen Luftzug genoss und im Hintergrund das Schmatzen und Grunzen der Kinder vernahm.
„Marli!“, etwas zupfelte an ihren Shorts. Sie blickte hinab und entdeckte Jeremy-Jason-Fynn, der sich verräterisch den Schritt hielt, ihre Arbeitshose mit roten Flecken versaute und ziemlich verkniffen zu ihr hinauf blickte. Sie rechnete mit dem Schlimmsten.
„Was denn?“, fragte sie ihn vorsichtig. Der kleine Junge kniff die Augen zusammen.
„Ich muss mal!“ Sein Ton duldete keinen Widerspruch, Marlenas Handflächen wurden schwitzig.
„Jetzt?“ Wieso musste er ausgerechnet während des Mittagessens aufs Töpfchen? Nicht mal Hunde folgten solch niederen Instinkten und verrichteten ihre Notdurft während des Essens.
Der pausbäckige Junge fasste sich nun demonstrativ mit der anderen Hand an seine heiligste Stelle, presste die Lippen aufeinander und hüpfte von einem Bein auf das andere.
„Jahaaa!“, schrie er sie an. Marlena versuchte sich für das weniger schlimme Übel zu entscheiden: Den Rest der Kinder kurz unbeaufsichtigt lassen und eine mittelschwere Spaghettischlacht riskieren oder die vollgemachte Unterhose von Jeremy-Jason-Fynn beseitigen, der ausgerechnet gestern eine astronomische Menge Spinat verdrückt hatte.
Kurzerhand nahm sie die verschmierten Finger des Querulants, rief Lydia, eine der Ältesten zu, kurz aufzupassen und stiefelte dann aus dem stickigen Zimmer, um die Sanitäranlagen aufzusuchen.
„Ich glaub, ich kanns nicht halten!“, rief der Junge gequält.
Marlena machte große Augen, legte einen Zahn zu, schliff den Kleinwüchsigen über den Flur des Kinderclubs und warnte ihn eindringlich: „Du bist doch schon ein großer Junge. Halt es einfach zurück.“
Im letzten Moment bogen sie um die Ecke, Marlena zog dem Jungen hektisch die Hose runter, setzte ihn auf die kleine Toilette und hörte ein erleichtertes Seufzen, während er zufrieden gen Himmel blickte und brav die Hände im Schoß faltete.
Wer behauptete eigentlich Kinder seien süß?, fragte sie sich kopfschüttelnd und lauschte den Geräuschen, die ein Vierjähriger bei seinem großen Geschäft so von sich gab.
„Ähhh, Marlena?“ Ein dunkler Kopf schaute um die Ecke, Marlena erkannte ihre Freundin und Arbeitskollegin Tülin, eine türkische Frohnatur mit dicken schwarzen Locken, die genauso viel Zeit in der Türkei verbracht hatte, wie die blasse Blondine vor ihr. Tülin sprach fließend deutsch, da ihre Eltern noch vor ihrer Geburt ausgewandert waren.
„Ja?“, gab Marlena zurück.
„Ich glaub in deinem Zimmer ist der erste Weltkrieg ausgebrochen!“, sagte sie zaghaft.
Marlena stieg augenblicklich die Hitze ins Gesicht und sie bekam einen hochroten Kopf. Ohne zu antworten ließ sie den Jungen auf dem Klo zurück, stürzte an ihrer grinsenden Freundin vorbei, hechtete durch den Flur und bremste erst kurz vor dem bunten Zimmer, welches man in ihre Obhut gegeben hatte.
Sie traute ihren Augen nicht.
Hier war der wahre Schauplatz eines Massakers. Blut, überall Blut. Oder Tomatensoße. Jedenfalls bedeckte eine rote Flüssigkeit Wände, Tische und Boden. Die Kleinkinder krieschen und grölten, jagten sich durch den Raum und beschmissen sich gegenseitig mit Nudeln und Gehacktesklößchen.
Marlena war vollkommen handlungsunfähig, sie stand da wie versteinert und war geschockt.
Wie lange war sie weggewesen, zwei Minuten? Das war doch absolut unmöglich!
Wieder zupfte jemand an ihrer Hose. Sie sah hinab und blickte entsetzt auf Jeremy-Jason-Fynn, dessen kleine Hände nun auch noch von einer braunen Masse bedeckt waren.
Sie würgte.
„Ich kann mich schon allein abwischen!“, sagte er voller Stolz, dann sah er das Schlachtfeld im Zimmer. „Cool!“, schrie er und warf sich ins Chaos.
Marlena schoss nur noch ein Gedanke durch den Kopf. „Ich hasse diesen Job!“

*

Seid zwei Monaten arbeitete Marlena Kuntze als Animateurin im Kinderclub eines Vier-Sterne-Hotels an der türkischen Riviera, dabei hatte sie das nie vorgehabt.
Nie im Traum wäre sie auf die Idee gekommen, die verwöhnten Bälger von gestressten Eltern zu betreuen, ihnen die Hintern abzuwischen oder deren Essensreste zu beseitigen.
Man hatte sie einfach überrumpelt, vor vollendete Tatsachen gesetzt und sie hatte es ganz ihrer Natur stillschweigend hingenommen, obwohl es sie maßlos ärgerte.
Ursprünglich hatte man ihr den Job als stellvertretende Guest-Relation-Managerin versprochen, schon in Deutschland hatte sie dafür die schriftliche Zusage in den Händen gehalten und gewusst, dass sie diese Chance nur ihren Eltern zu verdanken hatte. Immerhin hatte Marlena gerade erst ihr Abitur bestanden und nur gelegentlich Erfahrungen in dieser Branche gesammelt. Ab und zu den angestellten der Eltern über die Schulter zu gucken, machte aus einem neunzehnjährigen Mädchen noch lange keine flexible Allround-Gästebetreuerin. Doch ihre Erzeuger hatten ihr dieses hohe Maß an Verantwortung selbstverständlich zugetraut und ein Empfehlungsschreiben an den türkischen Hotelmanager gemailt, der zufällig selber ein Stammkunde bei ihnen war.
Garantiert hatten sie aber nicht damit gerechnet, dass man ihrer talentierten Tochter bei deren Ankunft mal so richtig gründlich vor den Kopf stoßen würde. Die Stelle war vergeben, einfach so und es schien dem Manager nicht mal peinlich zu sein, als er ihr das mitteilte.
Stattdessen bot er ihr den Animationsjob an. Die letzte Betreuerin der „Minis“ war abgesprungen.
Wahrscheinlich hätte sie spätestens an diesem Punkt protestieren sollen, doch sie war so geschockt gewesen, dass sie den Vertrag schnellentschlossen unterschrieben hatte und sich am nächsten Tag der Aufgabe gegenüber sah, eine kleine Schar von Monstern mit einem Dauergrinsen zu beschäftigen, während die Eltern faul in der Sonne lagen.
Schon nach den ersten fünf Minuten war klar gewesen, dass das junge Mädchen nicht die besten Voraussetzungen für diesen Job mit sich brachte: Sie konnte sich nicht durchsetzen, hatte eine viel zu piepsige Stimme und einfach keine Erfahrungen im Umgang mit Miniaturmenschen.
Im Prinzip gab sie ihren Eltern die Schuld an diesen Defiziten.
Marlena war das einzige Kind von Paul und Viola Kuntze, ein erfolgreiches Ehepaar, karriereorientiert, Workaholics und stolze Franchisenehmer einer angesagten Hotelkette. Sie lebten in der Hauptstadt in einer prachtvollen Villa, hatten ihrer Tochter stets nur das Beste gegönnt, von ihr aber auch jede Menge erwartet. Und den Wünschen und Forderungen hatte sich das Mädchen ihr Leben lang gebeugt.
Sie hatte in der Schule nur die besten Noten gehabt, hatte in ihrer Freizeit oft gemeinnützige Arbeit verrichtet, nie Alkohol getrunken oder Zigaretten geraucht, war immer pünktlich am Wochenende nach Hause gekommen, hatte ihren Eltern nie einen tätowierten Punker als neuen Freund vorgestellt, war strebsam, artig, uneigennützig und letztendlich von diesem langweiligen Leben endlos frustriert.
Hätte sie ihre Eltern nicht dauerhaft angefleht, dieses Auslandsjahr machen zu dürfen, dann würde sie jetzt brav zur Uni gehen, noch immer unter der Fuchtel ihrer dominanten Mutter stehen und langsam aber sicher mit dem ein oder andren Selbstmordgedanken spielen.
Nach endloser Bettelei und ein paar strategisch gut durchdachten Argumenten war Familie Kuntze dann doch einverstanden gewesen. Schließlich machte sich ein Jahr im Ausland immer gut im Lebenslauf und es wäre eine tolle Grundlage für das zukünftiges Studium ihres Sprösslings.
Doch warum ausgerechnet die Türkei? Warum nicht Amerika, Vietnam oder Kuala Lumpur?
An dieser Stelle hatte Marlena das erste Mal in ihrem Leben Standhaftigkeit bewiesen. Für sie kam kein anderes Land in Frage. Ihren Eltern hatte sie glaubhaft gemacht, sie sei von Landschaft, Kultur und Mentalität fasziniert, wolle nicht so weit fliegen und schließlich war sie ja schon oft dort im Urlaub gewesen. Den wahren Grund enthielt sie ihnen vor.
Marlena war vielleicht schüchtern, von ihren Eltern unterdrückt und auch sonst ein ziemlich braves und stilles Mädchen, doch trotzdem war sie fast erschreckend idealistisch. Sie glaubte an eine bessere Welt und hatte sich denen verschrieben, die sich am wenigsten wehren konnten. Den Tieren.

Mit elf Jahren hatte sie heimlich, während ihre Eltern auf einem Meeting waren, die beliebte Fernsehserie \'Die Simpsons\' geguckt, ausgerechnet die Folge, in der Lisa den Verzehr von Fleisch in Frage stellte. Das gelbe Mädchen mit den gezackten Haaren hatte Marlena imponiert. Seid diesem Tag war sie Vegetarierin und hatte nie wieder ein Stück Tier gegessen.
Sie begann, sich für den Tierschutz einzusetzen, trat dem städtischen Verbund bei, half ehrenamtlich in Tierheimen und protestierte vor pharmazeutischen Versuchslaboren. Ihre Eltern hatten es anfangs für einen Splin gehalten, es jedoch akzeptiert, solange die Schule nicht darunter litt. Sie belächelten das Engagement ihrer Tochter, interessierten sich keinen Pfifferling für ihre Bemühungen und verspeisten vor ihren Augen weiterhin Schweineschnitzel und Lammbraten.
Marlena hatte jedoch ihre größte Leidenschaft entdeckt. Bei der Arbeit blühte sie auf, jedes gerettete Tier war ein Erfolg und jede noch so kleine Protestaktion konnte etwas bewirken.
Und nun wollte sie ihre Arbeit globalisieren, sie wollte über den Tellerrand des deutschen Tierelends blicken und sich in einem Land engagieren, welches sich für seine Tiere so stark interessierte, wie für die Müllentsorgung – so gut wie garnicht.

*

„Marli! Ich spritz dich nah-hass!“ Ein Sechsjähriger stand mit funkelnden Augen vor ihr, bekleidet mit Badehose und Schokoladenbart und sah sie herausfordernd an.
Marlena stand am Beckenrand des Kinderpools, schwitzte in ihrer Arbeitskleidung wie ein übergewichtiger Handtuchwedler in der Finnensauna und blickte sehnsüchtig auf das kühle, blaue Nass vor sich.
Dann meldete sich ihr überhitzter Verstand zurück und sie registrierte die über fünfzehn Kinder in dem viel zu klein geratenem Abkühlungsloch. Ohne es zu wollen, dachte sie daran, wie oft einer von diesen Zwergen in der letzten Stunde schon in das Wasser gepinkelt hatte und sie wich automatisch vor dem braunhaarigen Unruhestifter zurück.
„Jordan! Ich warne dich, du darfst -“ Patsch. Schon hatte sie eine Ladung von verdünnten Kinderurin im Gesicht, gefolgt von einem johlenden Lachen.
Angeekelt wischte sie sich mit ihrem T-Shirt das Gesicht trocken und sandte wüste Verwünschungen in Richtung des adipösen Jungen, welcher in diesem Moment schon wieder den Rest ihrer Gruppe tyrannisierte. Sie war sich fast sicher, dass auch er der Verantwortliche für die Nudelschlacht war. Jordan war der klassische Unterdrücker-Typ und würde wahrscheinlich nach seinem Urlaub die gesamte erste Klasse terrorisieren, hoffentlich hatte seine Lehrerin bessere Nerven, dachte Marlena und sah noch immer finster zu dem Jungen.
Hinter ihr kicherte es.
„Dem hast du es aber gezeigt!“, lachte Tülin und kam mit einem süßen rothaarigen Mädchen an der Hand auf sie zu. Die Haare der Türkin waren ebenfalls im Nacken verknotet, sie trug die gleichen hellgelben Shorts und ebenfalls dieses hässliche, orangene T-Shirt, welches mit einem Namensschild versehen war.
Dass auf Marlenas Schild „Marli“ stand, war die nächste Frechheit, die sie sich hatte gefallen lassen. Nie im Leben hatte sie irgendwer Marli genannt, sie fand den Spitznamen bescheuert, nun nannte sie fast jeder so.
„Der Junge ist die wahre Ausgeburt Satans, glaub mir das!“, flüsterte Marlena und sah dabei verschwörerisch in Tülins dunkelbraune Augen. Diese lachte wieder.
„Deine Wimperntusche ist verschmiert Süße.“, entgegnete sie ihr und sah dann streng zu dem Becken. „Jordan! Lass Emily sofort los!“, brüllte sie in einem Ton, der einem amerikanischen Drillinstructor Konkurrenz machte. Selbst Marlena fuhr erschrocken zusammen, beobachtete dann neidisch, wie der fette Junge das kleine Mädchen los ließ und sah bewundernd zu ihrer hübschen Freundin.
„Du machst mir Angst, ehrlich!“, sagte sie ernst. Tülin lachte herzhaft.
„Das nennt man türkische Erziehung. Ihr deutschen Mädchen seid einfach zu leise, das ist dein Fehler. Jetzt schmier dir endlich das schwarze Zeug aus dem Gesicht!“, dabei deutete sie auf Marlenas Wangen. Diese wischte eifrig unter ihren Augen hinweg und dachte neidvoll, dass Tülin mit ihren langen schwarzen Wimpern noch nie Wimperntusche nötig gehabt hatte, geschweige denn, irgendeine andere Art von Schminke. Sie war einfach nur unglaublich hübsch und erschreckend natürlich, mit ihrer goldenen Haut, den dicken schwarzen Locken, den geheimnisvollen Augen und einem üppigem Vorbau. Eine südländische Schönheit.
Marlena dagegen war das deutsche Pendant - helle Haut, graublaue Augen, zierliche Statur und leider genauso helle Wimpern, wie die Farbe ihres Haupthaares aufwies: Blond.
Die Wimpern waren zwar lang und dicht, doch ungetuscht sah sie aus wie ein Albino, wie sie selbst fand. So waren ihre Augen schon immer die einzige Stelle, die sie sorgsam geschminkt hatte.
Und jetzt war sie weg, die Tusche. Und sie sah wieder aus, wie ein Albino.
Ein Albino mit sonnverbrannter Nase, Haaren voller Chlor und Pipi, einer Hose voller Tomatensoße und...sie wollte garnicht darüber nachdenken, was es war, sowie einem nassen, zutiefst hässlichem T-Shirt und genau in diesem Augenblick, drehte sich Tülin um, sah an Marlena vorbei und riss ihre exotisch schönen Augen auf.
„Yati! Auf sechs Uhr!“,wisperte sie und vergaß die Welt um sich.
Dieser Spruch kam häufiger am Tag über die dunklen Lippen ihrer Freundin. Und zwar immer dann, wenn Hayati Canavar wie ein stolzer Gockel durch die Hotelanlage schlenderte, nach Opfern Ausschau hielt und gleichzeitig die Angestellten seines Vaters kontrollierte.
Auch wenn Marlena es wirklich und aufrichtig nicht wollte, so durchfuhr sie bei diesen Ansagen trotzdem immer ein kleiner Blitz und ihr Herz klopfte kurzzeitig schneller.
Er hatte sie zwar noch nie eines Blickes gewürdigt und das würde sie ihm tatsächlich krumm nehmen, wenn er nicht auch mit dem restlichen Personal so umgegangen wäre. Sein Interesse galt ausschließlich jungen, schlanken Touristinnen, bevorzugt jene, deren Abreise in nicht allzu weiter Ferne lag.
Ansonsten erzählte man sich nicht viel über Hayati Canavar, dem Sohn des Managers. Man wusste, dass er hart arbeitete und in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, dass er die schon erwähnten Liebschaften pflegte und einfach nur unglaublich gut aussah.
Seine Mutter war wohl Deutsche, von ihr hatte er jedenfalls diese strahlenden blauen Augen.
Augen, die Marlena auch aus zehn Metern Entfernung weiche Knie verschafften. Dazu pechschwarzes Haar, ein dunkler Teint, dichte Augenbrauen und eine gottgleiche Verteilung von Schönheit auf seinem durchtranierten Körper. Er war der Wahnsinn – und unerreichbar.
„Sucht er wieder nach einer blutjungen Urlauberin, deren Herz er brechen kann?“, gab sie spöttisch zurück. Tülin strahlte an ihr vorbei, ließ den jungen Mann nicht aus den Augen und leckte sich die Lippen.
„Er ist so heiß! Ich glaub, ich muss hier mal Urlaub machen.“, scherzte sie. „Wobei er wohl eher auf deinen Typ steht.“ Dabei sah sie Marlena an. Diese riss überrascht die Augen auf.
„Was bin ich denn für ein Typ?“, fragte sie aufgebracht.
„Blond, blass und naiv, Schätzchen!“ Sie klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter, dann erklärte sie liebevoll. „Er steht auf deutsche Mädchen, Marlena. Hübsche, junge, arische Frauen, die ihm jeden Wunsch von seinen göttlich blauen Augen ablesen.“
Marlena nickte beklommen und wagte einen kurzen Blick über die Schulter. Just in diesem Augenblick kniete er neben der Poolliege einer solchen Person und man konnte seinen Charme sogar aus ihrer Entfernung spüren. Mal wieder musste sie sich eingestehen, dass er nicht nur gut aussah, sondern dass er einer der schönsten Menschen war, den sie in ihrem kurzen Leben je gesehen hatte. Sein Lächeln zog einen in seinen Bann, der südländische Touch war faszinierend, diese Augen leuchteten fast unnatürlich in seinem braunen Gesicht. Auch wenn die Touristin es nicht verdient hatte, so beneidete Marlena sie doch ein kleines bisschen um ihre derzeitige Situation. Sie beneidete sie darum, wenigstens einmal diesen Blick auf sich zu spüren, der wie Feuer auf der Haut brennen musste.
„Sei froh, dass du hier zum Kinderclown degradiert worden bist, ansonsten wärst du wohl schon längst zu seinem Opfer geworden.“, riss Tülin sie aus ihren fragwürdigen Gedanken.
In diesem Augenblick vernahm sie ein Schreien, ein animalischer Laut und er kam immer näher.
Verängstigt sah Marlena sich um.
Es war der dicke Jordan, der in einem Affenzahn auf sie zuraste. Ihr blieb keine Zeit zum Weglaufen. Jordan stürzte sich auf sie, schrie lauthals „Attaa-hacke!“ und riss das zierliche Mädchen, welches beinah weniger wog als er und dabei fast dreifach so alt war, mit sich in die uringetränkten Tiefen des Kinderpools.
Marlena knallte volle Wucht auf die Fliesen, begraben von den unzähligen Fettschichten Jordans und dem pisswarmen Wasser. Sie strampelte sich angewidert frei, stand triefend nass auf und stapfte zornentbrannt aus dem Pool. Um sie herum vernahm sie lautstarkes Gelächter, Tülin hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund, die Urlauber klatschten dem vollschlanken Angreifer Beifall und ein türkischer Sicherheitsangestellter des Hotels kam mit fuchtelnden Armen auf sie zu.
„Nix baden! Du nicht in Pool für Cocuk! Verboten für sie!“, drohend zeigte er mit dem Finger auf sie, las geschäftig ihr Namensschild und nickte dann verwarnend. „Merke mir Namen!“ Er tippte sich an den Kopf.
Marlena tippte sich innerlich ebenfalls an den Kopf. Hatte dieser wichtigtuerische Vollidiot nicht gesehen, dass sie hinterhältig angegriffen worden war? Von einem Sechsjährigen!
Natürlich nickte sie nur gehorchend, drehte sich verbittert zu Jordan, welcher schallend lachte und eine Zahnlücke zeigte. Oh, wie sie diese Jungen hasste.
Tülin reichte ihr ein Handtuch.
„Ich wäre ja dafür, wieder die Prügelstrafe einzuführen.“ , flüsterte sie ihr zu.
„Und ich wäre dafür, dieses Kind zu ertränken.“, gab Marlena mit knirschenden Zähnen zurück.
Tülin lachte. „Na na! Jetzt wirst du aber ungehalten junges Fräulein!“
Marlena trocknete sich ihre langen Locken mit dem Handtuch, die nassen Klamotten musste sie leider anbehalten. Nach Feierabend würde sie in einer Wanne voll Desinfektionsmittel baden oder sich die verseuchte Haut von den Knochen schrubben. Sie fühle sich widerlich.
Und sie spürte tausend Augenpaare auf sich gerichtet, so dass sie wie automatisch den Kopf über ihre Schulter drehte. Yati kniete noch immer bei der blonden Urlauberin und würdigte sie – wie sollte es auch anders sein – keines Blickes.
Wahrscheinlich hätte sie hier ertrinken, ersticken oder gar von Jordan verspeist werden können – kein Spektakel dieser Welt hätte seine Aufmerksamkeit erregt. Es frustrierte sie, dass sie überhaupt darüber nachdachte. Er war ein arroganter Mensch. Der reiche Sohn des Hotelmanagers, der sich seiner Ausstrahlung und seines Aussehens bewusst war und dies schamlos ausnutzte – nicht ihr Typ, ganz klar.
Sie wandte sich ab und sah direkt in die wissenden Augen ihrer Freundin.
„Keine Sorge, er hat es nicht gesehen.“, zwinkerte sie ihr zu.
„Wer soll was gesehen haben?“, fragte Marlena ungewohnt pampig und wich ihrem Blick aus. Tülin grinste.
„Niemand.“, war ihre verschmitzte Antwort. Dann drehte sie sich zum Pool und sagte trocken: „Ich glaube Jeremy-Jason-Fynn hat ins Wasser gekackt.“





Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz