Engelstochter - Teil 5

Autor: Nici
veröffentlicht am: 14.08.2012


4. Kapitel

Er führte sie in ein kleines Wohnzimmer. Dort saßen die fünf Jungs. Sie unterhielten sich, doch als sie und Elijah den Raum betraten, wurden alle Gespräche eingestellt.
„Sie weiß jetzt alles und versteht es.“
Als sie die schwarzen Augen sah, die sie misstrauisch und angewidert musterten, zuckte sie unwillkürlich zusammen und ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Elijah bemerkte es sofort, ballte die Fäuste und funkelte Jeremia wütend an: „Es ist nicht ihre Schuld. Sie hat es sich nicht ausgesucht, ein Nachkomme Uriels zu sein! Wir müssen ihr helfen und sie nicht als Feind betrachten. Ich könnte es verstehen, wenn sie wütend auf uns wäre, nachdem du sie angegriffen hast, aber sie ist es nicht! Du hast nicht geringsten Grund, sie so zu behandeln, also lass es gefälligst!“
„Er hat Recht, Jeremia“, Patrick starrte Jeremia eindringlich an und alle nickten zustimmend.
Da sprang er auf, rempelte Elijah im Vorbeigehen an und verließ das Haus. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.
Daniel wollte ihm folgen, doch Lukas hielt ihn zurück: „Lass ihn. Besser er tobt sich draußen aus, als hier.“
Elijah setzte sich auf das Sofa und bedeutete Lilli, sich neben ihn zu setzen.
Andreas wandte sich ihr zu: „Du weißt also, dass du halb Cherub bist?“
„Halb was?“
„Das habe ich vergessen dir zu erklären. Wir nennen uns selbst Cherubim. Nicht Engel. Mit Engeln verbinden die meisten Gott. Und wir haben nicht sehr viel mit Gott zu tun. Die meisten glauben nicht an ihn. Außerdem haben Cherubim ein Flügel Paar. Es gibt nämlich noch die Seraphim. Sie sind angeblich an Gottes Seite und haben drei Flügelpaare.“
Diese Ansicht faszinierte Lilli.
„Könnt ihr als … Cherubim eigentlich mehr als nur fliegen?“
„Ja, können wir“, Andreas nickte, „Als Nachkommen Raphaels wissen wir von Geburt an eine Menge über die Heilkunst, kurieren selbst sehr schnell und können teilweise kleinere Wunden an anderen heilen, ohne irgendeine Medizin. Die Nachfahren Gabriels können Träume und Visionen deuten, aber auch kontrollieren. Also können sie in den Träumen anderer erscheinen, ohne, dass er oder sie etwas merkt. Cherubim mit Michaels Zeichen können sehr gut kämpfen und die meisten sind gute Führer. Die Cherubim aus dem Heer des Uriel konnten bei Nacht sehen, wussten immer wo welche Himmelsrichtungen waren und konnten ohne Feuer ein Licht erzeugen, um andere zu leiten.“
„Eine Frage muss aber noch geklärt werden“, Lukas sah Lilli nachdenklich an, „Die Kinder von einem Engel und einer Menschenfrau werden in vielen alten Schriften als Nephilim, was so viel wie Riese bedeutet, bezeichnet. Sie werden als gigantisch und grausam beschrieben. Warum ist Lilli dann so … normal?“
„Dazu musst du die ganze Geschichte kennen“, Patrick blickte jetzt auch zu Lilli, die sich langsam wie ein neuentdecktes Tier in einem Käfig vorkam, das von allen begafft wurde, „Die Engel, die sich auf Menschenfrauen einließen, waren Teil von Michaels Heer und standen unter der Führung eines Engels namens Samyaza. Sie waren eine Art Rebellengruppe. Sie stellten sich gegen ihren Erzengel und schwängerten sterbliche Frauen. Diese gebaren jedoch keine Kinder, wie man sie normalerweise kennt, sondern Riesen. Die Nephilim. Bei deren Geburt starben die Mütter. Da die Riesen auffielen, einerseits natürlich durch ihre Größe, andererseits aber auch durch ihre Grausamkeit, wurde schnell klar, dass ein paar Engel den Eid gebrochen hatten. Sie wurden von ihrem eigenen Erzengel, Michael, verstoßen. Lilli ist aber kein Nachkomme Michaels, sondern Uriels. Offensichtlich ist das dann anders. Sie ist zwar groß, aber kein Riese. Sie hat die Größe eines durchschnittlichen Cherub. Außerdem sind die Cherubim den Menschen immer ähnlicher geworden. Das könnte auch eine Rolle spielen.“
„Was ist aus diesen Nephilim geworden?“, Lilli fand die Geschichte interessant und ignorierte die vielen Blicke, die auf sie gerichtet waren.
„Sie wurden bei der Sintflut vernichtet.“
Plötzlich klingelte ihr Handy.
„Ja?“
„Lilli! Wo bist du? Ich sterbe fast vor Sorge! Geht’s dir gut?“, ihre Mutter war den Tränen nah.
„Tut mir leid, Mam. Ich habe vergessen dir Bescheid zu sagen. Ich bin nach der Schule noch zu einem Freund gefahren, weil er etwas Wichtiges mit mir besprechen wollte. Mach dir keine Sorgen. Ich komme bald wieder.“
„Aber Lilli…“ Doch das Mädchen hatte aufgelegt.
Sie seufzte: „Ich sollte wohl besser nach Hause. Meine Mutter ist glaube ich kurz davor die Polizei anzurufen.“
Elijah lächelte sie mitfühlend von der Seite an: „Du solltest wirklich zu ihr zurück. Immerhin hast du eine Mutter, die sich Sorgen machen kann.“
Sie wusste nicht, was sie von diesem Kommentar halten sollte, also sagte sie nichts.
„Komm, ich fahre dich nach Hause“, er stand auf. Sie folgte ihm, drehte sich aber nochmal zu den anderen vier Jungen um: „Danke. Für alles.“
„Gerne. Und du bist jederzeit hier willkommen“, Andreas lächelte höflich.
Daniel sah unsicher von Lilli zu Andreas: „Also darf man in ihrer Nähe lächeln, ohne Ärger zu bekommen?“
Patrick grinste den Jüngsten an: „Ja, darfst du.“
Auch Lilli musste schmunzeln. Dann drehte sie sich um und ging zu Elijah, der inzwischen einen zweiten Helm besorgt hatte.
„Ihr seid ja gar nicht so gefühlslos wie ihr immer wirkt.“
„Nein“, er schüttelte traurig den Kopf, „Wir Cherubim fühlen sehr viel und sehr stark, dürfen es aber nicht zeigen. Es könnte Menschenleben zerstören.“
Er streckte ihr den Helm hin.
Sie nahm ihn, als ihr ein Gedanke kam: „Fahr mich bitte zur Schule. Ich muss mein Fahrrad noch holen.“
„Mir wäre es lieber, wenn ich dich vor der Haustür absetzen könnte. Jeremia ist da noch irgendwo draußen und er kann dir sehr gefährlich werden.“
Sie schauderte bei der Erinnerung an die schwarzen Augen.
„Und mein Fahrrad?“
„Ich bringe es dir später vorbei. Ich hole dich in der Früh ab und fahre dich zur Schule. Ist das in Ordnung für dich?“
Sie setzte sich hinter ihm auf das Motorrad und schlang die Arme um ihn: „Ich denke schon…“
Er startete den Motor und fuhr los. Sie dachte angestrengt nach und versuchte zu verstehen, wie er ihr Fahrrad bringen wollte. Wollte er es schieben? Oder selbst fahren?
Als sie sich der Stadt näherten, stoppte er am Straßenrand, wandte sich ihr zu und fragte: „Wohin muss ich eigentlich?“
„Oh! Tut mir leid“, dann nannte sie ihm ihre Adresse und er fuhr wieder los.
Kaum zehn Minuten später bog er auf ihren Vorplatz ein. Sie stieg ab und gab ihm den Helm wieder.
„Danke“, sie lächelte verlegen, „Wir sehen uns ja morgen wieder.“
Sie erwartete ein Lächeln, doch es kam keins. Er nickte ihr zu und verschwand um die nächste Straßenecke. Sie stand da, bis sie das Geräusch des Motorrads nicht mehr hören konnte. Dann ging sie zur Tür und klingelte. Sofort wurde sie aufgerissen.
„Lilli! Da bist du ja endlich!“, ihre Mutter umarmte sie.
Als sie drinnen in der Küche saßen und Lilli hungrig die aufgewärmte Lasagne aß, die eigentlich ihr Mittagessen hätte sein sollen, fragte ihre Mutter: „Wer war der junge Mann, der dich nach Hause gebracht hat? Und wo ist dein Fahrrad?“
„Das war Elijah. Zu ihm bin ich nach der Schule gegangen und er bringt mein Rad später vorbei. Es steht noch im Fahrradkeller in der Schule.“
„Ist er dein Freund?“
„Nein! Nicht mein Freund, sondern ein Freund.“
„Aha.“
Eine Weile schwiegen beide.
„Bitte sei trotzdem vorsichtig. Das kann so schnell gehen. Ich gehe mit dir zum Frauenarzt. Er soll es dir erklären und dir die Pille verschreiben.“
„Mam!“, Lilli legte die Gabel hin, „Ich habe nicht mit ihm geschlafen. Er ist nicht mein Freund. Glaub mir doch! Ich hätte keinen Grund dich anzulügen.“
„Und was ist mit deinem Ärmel passiert? Hat er dir wehgetan? Du musst nicht denken, dass er Macht über dich hat. Wenn er dich vergewaltigt, dann musst du das nur sagen und er ist sofort hinter Gittern.“
„Mama! Jetzt hör aber mal auf! Hörst du dir eigentlich zu? Man könnte meinen, dass ich ewig fort war. Ich habe doch nur vergessen dir zu sagen, dass ich den Nachmittag bei einem Freund verbringe. Das kommt nicht wieder vor. Versprochen.“
„Und was ist jetzt mit deinem T-Shirt?“
„Da bin ich an einem Zaun hängen geblieben. Nicht mehr. Du kannst mir doch vertrauen, Mam. Du konntest mir schon immer vertrauen. Warum sollte sich das auf einmal ändern?“
Ihre Mutter seufzte: „Das ist es nicht. Aber ich sehe in dir vermutlich immer noch dieses kleine schüchterne Mädchen, das du mal warst. Dass du jetzt eine junge Frau und fast erwachsen bist, will ich wahrscheinlich einfach nicht wahr haben.“
Eine Weile sagte keiner von beiden etwas. Plötzlich klingelte es. „Ich gehe schon“, Lilli stand auf und ging zur Tür.
Als sie diese öffnete, stand dort Elijah.
Sein Hemd war nicht zugeknöpft und neben ihr stand ihr Fahrrad: „Hier. Ich habe versprochen, dass ich es vorbeibringe.“
„Danke, aber du bist doch nicht…“, sie sprach es lieber nicht aus. „Doch.“
„Was ist, wenn dich jemand gesehen hätte?“
„Es hat mich aber niemand gesehen. Ehrlich. Ich habe jahrelange Übung.“
Sie diskutierte nicht weiter, sondern ging auf ihn zu und nahm ihm das Rad ab.
„Danke“, sie lächelte schüchtern.
Seine Augen funkelten, aber er erwiderte ihr Lächeln nicht.
„Es ist zu gefährlich. Wenn mich irgendjemand zufällig aus dem Augenwinkel sieht, dann…“, er stockte.
„Ja. Ich verstehe. Ich sehe ja, wenn du es eigentlich tun würdest. Deine Augen verraten es mir.“
Er sah ihr eindringlich in die golden schimmernden Augen: „Deine Augen…“
Gebannt wartete sie darauf, dass er seinen Satz beendete, doch er tat es nicht.
„Naja. Ich sollte besser wieder gehen“, verlegen fuhr er sich mit der Hand über den Hinterkopf, „Ich sehe dich ja morgen Früh.“
Sie räusperte sich, lächelte ihm nochmal zu und schob dann ihr Fahrrad zur Garage.
Als sie an der Küche vorbeigehen wollte, rief ihre Mutter: „Wer war das?“
Lilli holte tief Luft und drehte sich um: „Elijah.“
„Was wollte er so spät noch von dir?“
„Er hat mir nur mein Fahrrad gebracht, Mam.“
Schnell rannte sie die Treppen nach oben und schloss die Zimmertüre hinter sich. Was hatte ihre Mutter auf einmal? Sie wusste aber natürlich nicht, dass ihre Tochter halb Cherub war. Woher auch? Lilli konnte es ihr aber auch nicht sagen. Es wäre zu gefährlich. Für sie und die sechs Jungs. Das Elijah nur deswegen immer in ihrer Nähe war, konnte sie also nicht wissen. Das Mädchen bekam ein schlechtes Gewissen. Doch sie durfte es nicht überwiegen lassen. Was auch immer sie tat, sie durfte sich nicht erweichen lassen. Müde schleppte Lilli sich ins Badezimmer und duschte schnell. Danach schlüpfte sie unter ihre Decke und schlief sofort tief und fest. So bemerkte sie nicht die große Gestalt, die sich von ihrem Fenster aus in die Luft erhob und fast lautlos in der Dunkelheit der Nacht verschwand.







Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz