Das Erziehungsheim - Teil 9

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 06.09.2012


In der schummrigen Eingangshalle vom Vortag hatte er dank seiner schwarzen Haare und Augen wie ein märchenhafter Prinz der Finsternis ausgesehen, was nicht unbedingt mein Vertrauen geweckt hatte. Aber als ich jetzt genau hinsah, erkannte ich, dass es dunkelbraune Augen waren, die mich musterten, und dass die Sonne, die auf die kohlrabenschwarzen Haare schien und Lichtreflexe darauf zauberte, selbige gar nicht mehr so düster aussehen ließ.
„Du kannst ja meine Stütze sein“, erwiderte ich bissig, woraufhin er grinste. Ich fragte mich immer noch, ob er den Vorschlag bei unserer ersten Begegnung ernst gemeint hatte.
„Ja, den hab ich tatsächlich ernst gemeint“, sagte er. Seine Stimme klang klar, ohne jedes Keuchen und Schnaufen. Als der Weg leicht anstieg, kam ich mir daneben vor wie eine Dampflok.
„Dann sei mir doch auch mal eine Stü-“
Weiter kam ich nicht, denn plötzlich rutschte ich auf irgendetwas aus, was natürlich meiner eigenen Blödheit zu verdanken war, und ich fiel der Länge nach auf den steinigen Waldboden. Zuerst knallte mein Kinn schmerzhaft auf, der Rest meiner Wenigkeit folgte. Gott sei Dank besaß ich noch die Geistesgegenwart, meinen Sturz mit den Handballen abzubremsen. Gelobt seien die Reflexe! Viel brachte mir das allerdings nicht, außer abgeschürften Handinnenflächen und einer ausgerenkten Schulter.
Ich setzte mich blitzschnell auf, mehr von der Peinlichkeit geschockt als von den Schmerzen. Meine rechte Schulter pochte und mein rechter Arm hing nutzlos herab. Dass die anderen Jogger meinem Blickfeld immer weiter entschwanden, war angesichts dieses Vorfalls nebensächlich.
Der Fremde schien die Situation besser zu verarbeiten. Er griff mir sofort unter die Arme und hievte mich auf die Beine. Dabei hörte ich sein leises Lachen. „Meine Güte, mit dir wird es auch nicht langweilig.“
„Lass das!“, keifte ich zurück. Ich hasste es, ausgelacht zu werden und sah mich in meinem rothaarigen Stolz verletzt. „Ich kann alleine stehen!“
Welch eine falsche Einschätzung meiner Kräfte. Kaum ließ er mich los, da schwankte der Boden unter mir und meine Beine gaben nach. Aber mein Begleiter hatte scheinbar bessere Reflexe als ich, denn bevor ich ein zweites Mal schmerzhaft auf dem harten Boden aufkommen konnte, fing er mich an den Armen auf.
„Kannst du nicht“, antwortete er selbstherrlich. Durch meine rechte Schulter zuckte augenblicklich ein Blitz. Ich schrie auf. „Au! Mein Arm! Verdammt, tut das weh!“
„Du solltest aufhören, so viel zu fluchen, das verdirbt nur deinen lieblichen Charakter“, sagte er süffisant. Diese Spitze überging ich, da mein Arm sich gerade mit anderen Problemen meldete. Aber auch dafür schien Hilfe schon parat, denn mein Begleiter packte nach kurzem Inspizieren des Problems meinen Arm und machte damit einige blitzschnelle Bewegungen, die ich aus dem Augenwinkel mitbekam. Meine Schulter knackte hörbar, allerdings fühlte ich keine Schmerzen, und dann war sie scheinbar wieder eingerenkt. Ich hob meine rechte Hand ungläubig vor die Augen und wackelte mit den Fingern.
Ich schwöre euch, ich hätte danke gesagt, hätte er nicht ein so selbstgefälliges Grinsen zur Schau getragen. Also sagte ich nichts, sondern untersuchte meine Handinnenflächen. Aufgekratzt, schmutzig, blutig. Ebenso wie mein Kinn. Ich spürte, wie mir vor Schmerzen die Tränen in die Augen stiegen und blinzelte sie fast wütend weg.
„Das musst du sauber machen“, stellte der Fremde fest. „Komm, wir gehen zurück.“
Eine Regel brechen, in Ordnung. Wir machten kehrt.
Meine Beine waren zwar noch etwas wackelig, aber ich wäre lieber ein zweites Mal gefallen, als das zuzugeben.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich den Fremden, denn so konnte ich ihn schließlich nicht immer nennen.
„Wie nett, dass du endlich fragst“, sagte er und lächelte dabei, was fast… nett aussah. „Ich heiße Finnley. Aber nenn mich Finn.“
„Das klingt aber nicht sehr österreicherisch.“
„Stimmt. Meine Eltern waren beide Iren.“
Waren? Also wirklich eine Waise. So wie ich.
Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Die Kälte kroch unter meine dünne Jacke und ich schauderte, woraufhin Finn seine auszog.
„Oh nein-nein-nein!“, rief ich augenblicklich. „Lass bloß deine Jacke an! Wir sind doch nicht in so einer drittklassigen, irischen Liebesschnulze, wo so ein Möchtegern- Gentleman der Frau seinen Mantel gibt, um ihr Herz zu gewinnen!“
Finnley lachte, machte aber keine Anstalten, meinem Befehl nachzukommen. Stattdessen entledigte er sich weiter seiner Jacke und legte sie um meine Schultern. Ich wehrte mich nicht wirklich, da mir die Wärme willkommen war. Finn grinste.
„Junge Dame, wer hat denn behauptet, dass ich dein Herz gewinnen will?“
Darauf war ich jetzt nicht vorbereitet und brachte in etwa das gleiche Stottern zustande wie Daniela, als ich sie auf das Thema Erik angesprochen hatte.
„Na ja… w- welchen Grund s- solltest du denn sonst…“ Es half nichts, ich war aus der Reserve gelockt. Wie kam ich auch darauf, so etwas zu denken, beziehungsweise es laut auszusprechen? Manchmal könnte ich mich für mein vorlautes Maul selbst ohrfeigen.
Zu allem Überfluss spürte ich, wie meine Wangen heiß wurden. Ich lief rot an! Und da mein Gemüt es nun mal so an sich hatte, schnell aufbrausend zu werden, passierte genau das.
„Wenn es nicht aus diesem Grund ist, dann kannst du sie ja zurück nehmen!“, bellte ich plump und warf Finn seine Jacke regelrecht entgegen. Dann wurde mir klar, dass das ein Eigentor gewesen war. Das hatte ja fast so geklungen, als wäre ich beleidigt, dass es nicht dieser eine Grund war! Aber glücklicherweise ging Finnley nicht weiter darauf ein. Er grinste nur, machte eine gleichgültige Geste und meinte: „Dann frier eben weiter.“
Gott sei Dank musste ich das nicht lange, denn das Haus kam bereits nach wenigen Augenblicken in Sicht. Der Anblick der wundervollen, vollkommenen Architektur tröstete mich gleich über diese Reihe von Peinlichkeiten hinweg.
„Wir reinigen die Wunden am Besten mit Alkohol“, sagte Finnley fachmännisch, als wir in den Waschraum für Mädchen traten. Der lag übrigens direkt neben dem Speisesaal, also wusste ich schon mal den Weg dorthin.
Da sowieso alle beim Morgensport waren, achteten wir nicht auf das strenge Geschlechtertrennungsgesetz.
Ich schaute in einen der Spiegel. Die Wunde am Kinn war zwar flach, brannte aber höllisch und war mit Blut und Dreck verschmiert. Meine Handinnenflächen sahen nur halb so wild aus.
„Und wo bitteschön willst du Alkohol herkriegen?“, fragte ich wegen der Schmerzen etwas patzig. Immerhin wäre mir der Sturz wahrscheinlich nie passiert, hätte der Herr mich nicht abgelenkt.
„Da hab ich ein Ass im Ärmel, keine Sorgen. Bin gleich wieder da.“
Ein paar Minuten vergingen, bis Finnley mit einer ein- Liter Glasflasche wiederkam, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit.
„’Gordon & Macphail Glen Grant Whisky’”, las ich. “Wo hast du denn das hergekriegt?”
„Ich sagte ja, ich habe ein Ass im Ärmel“, entgegnete Finn, riss ein Stück Toilettenpapier ab und tränkte es mit dem Whisky. Ein stechender Geruch erfüllte den Raum. „Mein Vater war Whiskymacher, einer der letzen seiner Art. Die Flasche halte ich in meinem Zimmer versteckt. Und da es siebzigprozentiger Alkohol ist, kann man damit eine Wunde desinfizieren.“
Er stellte die Flasche ab und näherte sich mit dem Papier meinem Gesicht.
„Halt still.“
Der Sturz war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ich empfand, als das feuchte Tuch in Berührung mit meinem gemarterten Kinn kam. Wenn ich eben noch höllische Schmerzen verspürt hatte, explodierte jetzt ein komplettes Feuer in meinem Kinn. Das Brennen war so unerträglich, dass ich mit einem Aufschrei zurückfuhr.
„Bist du verrückt?“, kreischte ich und tränkte ein Stück Papier mit Wasser, das ich auf die Wunde presste. Wieder traten mir Tränen der Schmerzen in die Augen. Ich hätte fast wieder losgeflucht.
Finnley konnte meine Reaktion scheinbar gar nicht nachvollziehen. Er verdrehte die Augen. „Stell dich nicht so an! Willst du, dass der Dreck mit einwächst? Die Wunde muss man reinigen.“
„Den Teufel werde ich tun!“ Ich war außer mir. „Wenn du mich nicht abgelenkt hättest, wäre ich gar nicht erst gefallen!“
Seine Augen weiteten sich ungläubig. „Ach, jetzt willst du mir die Schuld an deiner Dummheit geben?“
Das saß, das traf mitten ins Schwarze. Ich war also dumm? Das war doch wohl die Höhe!
„Wenn du mich für so dumm hältst, kann ich ja gehen!“, schrie ich und rannte wütend aus dem Raum in mein Zimmer. Ich hatte es für leer gehalten. Umso demütigender war es für mich, als ich mit blutendem Kinn und tränenverschmierten Augen meine fünf Mitbewohnerinnen dort antraf. Sie waren gerade erst selbst angekommen und sahen noch etwas atemlos aus. Daniela riss erstaunt die Augen auf.
„Claire, was ist los? Wir haben uns schon gefragt, ob wir dich draußen verloren haben. Aber Claire, du blutest ja!“
„Ja, ich weiß!“, entgegnete ich aggressiver, als gewollt.
„Was ist passiert?“, meldete sich Cataleya, die mich ganz besorgt ansah. Sie sah meiner Schwester in diesem Moment furchtbar ähnlich.
„Ich bin hingefallen und dann zurückgegangen. Reicht das?“
Ich schnappte mir ein paar Taschentücher, tauschte sie gegen das feuchte, blutige Tuch aus dem Waschraum aus und ließ mich aufs Bett fallen. Meine Handinnenflächen und das Kinn pochten schmerzhaft.
Meine Zimmergenossinen tauschten- bis auf Viktoria, die sich wahrscheinlich auch noch an meinen Schmerzen ergötzte- besorgte Blicke aus. Schließlich fragte Heidi: „Wir müssen jetzt zur Schule. Sollen wir dich für heute entschuldigen? Du siehst ziemlich schlimm aus.“
„Ja“, antwortete ich dankbar. In dem Zustand könnte ich nicht in die Öffentlichkeit treten. Und damit meine ich weniger das körperliche Befinden.
Daniela tätschelte mein Knie. „Machen wir. Aber allein kannst du hier nicht bleiben.“ Sie schaute die drei anderen der Reihe nach an, dann fiel ihr Blick auf Viktoria, die mit verschränkten Armen eine gewisse Abwehrhaltung eingenommen hatte. „Tori, bleib du bitte bei Claire. Dich können wir auch entschuldigen.“
Ich musste gar nicht hinsehen, ich wusste auch so, wie Viktorias Reaktion ausfallen würde. Nämlich:
„Wieso ich? Es kann doch auch einer von den anderen hier bleiben. Ich will nicht!“
Aber Danielas Blick war unmissverständlich und unerbittlich. „Du bleibst hier. Das kann für eure Beziehung nur gut sein.“ Viktorias Einwände und ihren vernichtenden Blick ignorierte sie.







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