Das Erziehungsheim - Teil 3

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 07.07.2012


Auch auf den Gängen, die mit demselben abgelaufenen Holz ausgelegt waren, setzte man hier wohl nicht allzu viel auf Beleuchtung. Das übliche, schummrig gelbe Licht und ein paar kleine, hoch gelegene Fenster mussten genügen. Aber es reichte aus, um meine Künstlerseele höher schlagen zu lassen. Ich ließ meinen Blick von den Säulen, von denen alle fünf Schritte auf der rechten Seite des Ganges eine folgte, senkrecht nach oben schweifen. Über meinem Kopf an der Decke prangten die schönsten Verzierungen und die herrlichsten Stuckarbeiten, die ich je gesehen hatte. Hauptsächlich schlängelten sich dort oben weiße Blumen und Ranken die Decke entlang. Manche liefen auch an den wunderschönen Säulen hinunter, bis zum Boden.
Ich ließ meine Hand darüber gleiten. Fast konnte ich den alten Geist in diesen Gemäuern spüren. So rau, so altehrwürdig, so antik.
Das Zimmer siebenundfünfzig lag am Ende des Ganges. Ich riss mich vom Zauber, die diese herrlichen Ornamente ausstrahlten, los, und steckte den Schlüssel ins Schloss. Dann hielt ich inne und drückte die Metallklinke runter. Die Tür ging ohne das leiseste Geräusch auf.
Begeisterung machte sich nicht gerade in mir breit, als ich das Innere des Raumes sah. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht sechs steinalte Himmelbetten, einen dreihundert Jahre alten Kamin und verstaubte Öllampen.
Jedenfalls standen in dem kleinen Zimmerchen lediglich drei moderne Doppelstockbetten aus Holz, das garantiert nicht aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte, zwei schmale Schränke, ein kleiner Tisch und eine winzige Nische mit einem Waschbecken. Für mehr blieb hier auch kein Platz, denn der Raum war sehr klein. Genauso wie das einzige Fenster, aus dem man einen direkten Waldblick hatte.
Mein Blick fiel auf eins der drei Betten, das direkt am Fenster stand. Die untere Matratze war unbezogen, ein Bettlaken und ein winziges Kopfkissen lagen darauf. Das war dann wohl mein Schlafplatz.
Ich ließ meine Reisetasche neben dem Bett fallen und versuchte, mich mental mit dieser Situation anzufreunden.
„Verdammt noch mal!“, entfuhr es mir. Ich war nicht sonderlich gut im Anfreunden, weder mit Menschen, noch mit irgendwelchen Situationen.
Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Erst jetzt fiel mir die penible Ordnung auf, die hier herrschte; keine Bücher oder sonstiger Kram lag auf den Betten, der Tisch war leer, der Spiegel über dem Waschbecken hatte nicht eine Schliere und der Fußboden war blitzblank. Die Betten hatten keine einzige Falte, keinen Fleck, nichts.
Ich stand auf und öffnete einen der zwei Schränke, die jeweils für drei Leute gedacht waren. Der Schrank, vor dem ich stand, war in drei waagerechte Fächer unterteilt. Das oberste Fach war leer und
die Kleidung in den beiden anderen Abteilen bestand größtenteils aus Uniformen.
Ich fragte mich, weshalb hier wohl so eine akkurate Ordnung vorherrschte, aber zum Nachdenken kam ich nicht, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und fünf Mädchen kamen herein.
Diese fünf waren eindeutig fünf zu viele, ich war wirklich nicht in der Stimmung für Gesellschaft.
Aber ich konnte mich nicht unsichtbar machen, also entdeckten sie mich auf den ersten Blick.
„Oh!“, sagte die erste, eine lächerlich kleine Blondine, schlicht. Bevor sie zu mehr kam, trat eine andere auf mich zu und fragte freundlich:
„Bist du Claire Winkler?“
„Ja. Na und?“, blaffte ich.
Sie zog nur eine Augenbraue und einen Mundwinkel nach oben, ließ sich aber nicht einschüchtern.
„Du hast wohl Bekanntschaft mit Fräulein Meier gemacht, was? Na, da wäre ich auch nicht gerade gut auf andere zu sprechen. Ich bin übrigens Daniela.“
Sie hielt mir die Hand hin und lächelte freundlich. Sie war fast so groß wie ich, braunhaarig, dünn und hübsch. Zwar nicht so hübsch wie ich, aber schon ganz ansehnlich. Auf die Hand, die sich mir da erwartungsvoll entgegenstreckte, reagierte ich trotzdem nicht. Ich wollte ihr gerade ins Gesicht sagen, dass ich nicht hier war, um mir Freunde zu machen, als sie ihre Hand auch schon wieder herunternahm und mit ungetrübter Freundlichkeit flötete: „Nun ja, nicht jeder bevorzugt die Handschüttelmethode.“
Sie ging zu den anderen vier Mädchen, die sich- mit Gesichtsausdrücken von schüchtern bis hin zu feindselig- in einer Reihe aufgestellt hatten.
„Das“, sagte Daniela, und zeigte auf die kleine blonde, die übrigens ein paar Pfunde Übergewicht hatte, „ist Lisa- Marie.“
Lisa- Marie lächelte kurz. „Meine Eltern sind vor drei Jahren gestorben. Ich hab keine anderen Verwandten, also hat man mich hierher geschickt. Leider!“
Denkt jetzt bloß nicht, ich würde mich tatsächlich für Pummelchens Geschichte interessieren. Aber ein Satz ließ mich doch aufhorchen.
„Moment mal. Ich dachte, das hier wäre ein Erziehungsheim und kein Waisenhaus.“
„Oh nein“, antwortete Daniela. „Hier werden auch Elternlose aufgenommen. Das ist ein Kinder- und Erziehungsheim.“
Toll! Durfte ich mich hier jetzt auch noch mit Mündeln herumschlagen?
„Ich bin übrigens fünfzehn Jahre alt“, sagte Lisa-Marie gerade.
Ich musterte sie mit spöttischem Blick von oben bis unten, was bei ihrer Körpergröße nicht viel Zeit beanspruchte. „Ach was, nicht zwölf?“
Pummelchen lief rot an, aber Daniela lachte und sagte: „Ich weiß, besonders groß ist sie nicht. Wir können ihr so viel Hefe geben, wie wir wollen, aber sie wächst einfach nicht! Dafür ist sie aber umso hilfsbereiter.“ Sie zwinkerte Lisa-Marie zu, diese lächelte daraufhin wieder versöhnt. Ich runzelte die Stirn. Eines musste ich Daniela wirklich lassen. Sie war extrem hartnäckig in ihrer Nettigkeit! Die meisten Menschen finden mich nach den ersten gewechselten Sätzen unausstehlich, aber Daniela scheinbar nicht.
Nicht, dass ich ihre Sympathiegefühle erwidern würde, aber diese Art von Halsstarrigkeit überraschte mich einfach.
Mittlerweile hatte sich das nächste Mädchen vorgestellt. Sie hieß Heidi, war wie die drei anderen Mädchen etwa so groß wie Daniela, und sechzehn Jahre alt. Auch sie war ein Waisenkind; mit dunkelbraunem, kurzem Haar und dunklen Augen.
„Der Großteil hier besteht aus elternlosen Jugendlichen, wie du noch feststellen wirst“, sagte Daniela ernst. „Früher war dies ein richtiges Erziehungsheim, nur die schwersten Fälle von Ungehorsam oder Boshaftigkeit wurden hierhergeschickt.“ Ihr Blick wurde merkwürdig verschleiert. „Das Heim lag im Wald, damit man die furchtbaren Schreie der Kinder nicht hörte, wenn sie von den Erziehern oder Aufsehern verprügelt wurden. Nur Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder überhaupt nicht am Herzen lag, schickten sie hierher.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf mich. „Leider wird der Gertenstock hier immer noch allzu häufig benutzt. Wenn du nicht sehr schnell sehr unterwürfig wirst, bekommst du einige altmodische Erziehungsmethoden noch am eigenen Leib zu spüren.“
Ihre Stimme, die sich bei diesem Satz verdüstert hatte, hellte sich wieder auf, als sie zu einem blonden, langhaarigen Mädchen schaute und ihr zunickte. Das Mädchen lächelte scheu, was kleine Grübchen auf ihren Wangen erscheinen ließ. „Also mein Name ist Cataleya. Ich bin keine Österreicherin, jedenfalls nicht ursprünglich. Meine Eltern stammen aus Brasilien. Sie kamen hierher, um ein besseres Leben zu führen. Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein Vater kurz danach an einer Infektion. Bis vor Kurzem wohnte ich bei einer Freundin meiner Mutter, aber die war schon sehr alt und starb auch. Na ja, und jetzt bin ich hier.“
Sie schenkte mir ein bezauberndes Grübchenlächeln, was mich allerdings kalt ließ. Wie kamen diese Mädchen darauf, dass ich mich für ihre Lebensgeschichten interessierte?
Daniela nahm Cataleya in den Arm. „Sie ist unser Nesthäkchen, erst vierzehn. Aber wir müssen ganz schön auf sie aufpassen, sonst wird sie bei ihrem Lächeln irgendwann mal entführt.“
Cataleya wurde leicht rot, dann aber lächelte sie mich bewundernd an.
„Du bist übrigens wahnsinnig hübsch, Claire! Das ist mir schon aufgefallen, als ich reingekommen bin.“
Na, das war doch mal was Positives. Komplimente konnte ich immer vertragen, egal, von wem.
Ich lächelte süffisant. „Das weiß ich doch.“
„Pah!“, kam es umgehend aus dem Mund des vierten Mädchens. Sie hatte pechschwarzes Haar, das ihr in dicken Locken bis zur Brust reichte, und hellbraune Augen, die mich in diesem Moment mit unverhohlenem Hass anschauten.

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