Gifted - Die Befreiung - Teil 16

Autor: Aven
veröffentlicht am: 01.08.2012


Hallo ihr Lieben,
vielen Dank für die schönen Kommentare :D, die machen einem richtig Lust weiter zu schreiben! Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat. Wollte den neuen Teil eigentlich schon gestern einschicken, aber er hat mir einfach noch nicht so gut gefallen. Also viel Spaß beim lesen und über fleißiges Kommentieren würde ich mich sehr freuen ;D,
LG Aven


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Aurelia kauerte in einer dunklen Seitengasse neben Aiden im Regen. Sie war ja bereits durchnässt, also nahm sie die Tropfen, die ihr den Rücken hinunter rannen nur peripher wahr. Ihre Finger zitterten vor Kälte, aber sie war so angespannt, dass sie es gar nicht registrierte. Neben sich hatten sie eine der wenigen heil gebliebenen Taschen abgestellt. Sie war vollgetopft mit Kleidung und ein paar weitere Gegenständen. Waffen besaßen sie nur noch die, die sie am Leib trugen, doch sie hoffte inständig sie würden sie nicht benutzen müssen. Denn dann hätten sie auf sich aufmerksam gemacht und Row‘s und Pareios‘ Leben waren verloren. Während sie warteten gestattete sie sich kleine Ausflüge zum gestrigen Abend, als noch alles so wunderbar nach Plan verlief und sie mit Pareios unterwegs gewesen war. Er hatte ihr eine Seite des Lebens gezeigt, die sie bisher nicht gekannt hatte. Es war wie ein Ausschnitt aus einem anderen Dasein mit einer anderen Zukunft. Sie brauchte ihn, um am Leben zu bleiben. Ansonsten, so fürchtete sie, würde sie wieder in diese Starre fallen, verbannt zwischen richtiger wacher Lebendigkeit und dem Tod, unfähig etwas anderes zu fühlen, als Selbsthass, Schuldgefühle und der unmögliche Drang, es wieder gut zu machen. Pareios hatte sie befreit, sie an der Hand genommen und war mit ihr eine Gradwanderung eingegangen. Er hatte sie aus ihrem düsteren Dornröschenschlaf erweckt und sie hatte es trotzdem geschafft, ihrem inneren Ungeheuer nicht zu erliegen. Es hatte nicht die komplette Macht über sie erlangen können, wie es es früher schon ein Mal getan hatte. Obwohl es Viktor war, der sie zurückgehalten hatte, hatte sie selbst ebenso gegen ihre Impulse angekämpft, sonst wäre auch er dem Monster zum Opfer gefallen und wie hätte sie damit erneut leben sollen? Vielleicht rief Pareios in ihr genau die richtige Mischung zwischen Verlangen und Kontrolle hervor, so dass sie sich frei von Zwängen fühlen konnte, ohne Gefahr zu laufen die Oberhand zu verlieren. Und jetzt, da sein Verlust drohte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn nicht nur mochte, nicht nur brauchte, nein, sie verliebte sich gerade in ihn! Sie erschrak selbst darüber, dass sie das Wort überhaupt gedacht hatte, aber sie konnte vielleicht andere belügen, nicht jedoch sich selbst! Der Gedanke transformierte sich zu einer unumstößlichen Tatsache, krallte seine Wurzeln in ihre Seele, bereit zu einem mächtigen Baum heranzuwachsen. Sie war gewillt, notfalls direkt durchs Fegefeuer zu marschieren, um ihn wieder zu sehen und ihn in Sicherheit zu wissen. Es war völlig belanglos geworden, was Viktor darüber dachte und ob ein Zusammensein mit seinem Bruder überhaupt klappen konnte oder nicht, sie wusste nur, dass sie innerlich draufgehen würde, wenn sie nicht einmal die Chance dazu bekommen sollte, es wenigstens zu versuchen. Wenn es überhaupt mit jemandem funktionieren würde, dann mit Pareios.

Aiden stieß sie an, wodurch sie aus ihrer Traumwelt zurück auf den nassen kalten Asphalt fiel. „Er kommt!“
Sofort war sie wieder hoch konzentriert und nickte Aiden zu. Es dauerte keine Sekunde, da hatte er den kleinen, schmächtigen Boten schon mit einem Ruck in die Gasse gezogen und ihn gleichzeitig mit einem gezielten Schlag niedergestreckt. Es war so schnell gegangen, dass der arme Junge noch nicht einmal einen Laut hatte von sich geben können. Nun lag er auf dem Rücken zwischen den beiden Elevendern in der dunklen Gasse und der Regen prasselte auf sein jugendliches Gesicht. Seine Tasche war aufgegangen und der Inhalt war über den Boden verstreut worden. In Windeseile fesselten und knebelten sie ihn, nachdem sie ihm seine gelbe Kurierjacke ausgezogen und ihn stattdessen in ein paar Decken aus dem Hotel gewickelt hatten. Aurelia schlüpfte in das gestohlene Kleidungsstück und tauschte ihre graue Wollmütze gegen sein Baseballcap, auf dem der Name des Postunternehmens stand. Aiden trug weiterhin den Trenchcoat und einen Anzug, den sie aus ihren zerstörten Zimmern hatten retten können.
„ Wir haben nur den einen Versuch! Wir dürfen nicht das geringste Aufsehen erregen. Bereit?“ fragte sie, während sie die Haare der neuen blonden Perücke unter das Cap stopfte, nur vorne hingen noch ein paar Strähnen heraus, und mit der anderen Hand nach der Tasche mit den Sendungen fischte. Er nickte zur Bestätigung und Aurelia begab sich auf die Straße. Aiden würde ihr erst in ein paar Minuten folgen.

Sie steuerte direkt auf das verglaste Hochhaus zu, in dem das Labor gelegen war. Die Tropfen lösten sich vom Schirm ihrer Mütze und fielen ihr immer wieder auf die Schuhe, als sie eilig den Vorplatz überquerte und sich schließlich, genau wie die Gorillas, unter dem Glasvorsprung vor der Nässe in Sicherheit brachte. Ihr Herz schlug jetzt vor Aufregung bis zum Hals und sie drückte die gläserne Drehtür in eine Richtung, damit sie zu rotieren begann.
Drinnen angekommen, sondierte sie die Eingangshalle sofort mit ein paar Blicken. In allen vier Ecken waren Kameras angebracht und zur Rechten befand sich ein Empfangstresen, hinter dem zwei Security-Typen in schwarzen Anzügen saßen. Sie trugen winzige Knöpfe im Ohr, über die sie sich mit dem anderen Wachpersonal verständigen konnten. Links war ein kleiner Wartebereich für Geschäftspartner eingerichtet, die wegen Terminen herkamen.
Sie verdrängte die aufkeimende Nervosität und räusperte sich, damit ihre Stimme fest und sicher klang, dann schlenderte sie lässig auf den Tresen zu. Der Dunkelhaarige der beiden Männer entdeckte sie bald und fixierte sie mit anzüglichem Grinsen. Sehr gut, dachte sie bei sich, so musste sie nur noch einen ablenken, der andere hatte es ihr soeben abgenommen. Sie zog den Reißverschluss der Jacke ein Stück auf, sodass ihr von Spitze bedeckter Ausschnitt zum Vorschein kam, sie trug immer noch das T-Shirt von gestern Abend. Der Gedanke versetzte ihr einen kleinen schmerzhaften Stich, doch sie schob ihn beiseite.
Sie lächelte jetzt dem Wachmann entgegen, legte ihre Hände auf die fein säuberlich polierte Marmorplatte des Tresens und versuchte einen charmanten Augenaufschlag.
„Ähm..., hi Jungs…“ sagte sie mit ihrer Mädchenstimme. „Ähm, heute ist mein erster Tag! Könnt ihr mir sagen, wo ich lang muss?“ Sie legte den Kopf schief und griff nach einer der blonden Haarsträhnen, um damit zu spielen, wie Row es immer tat. Row…. Ein weiterer unangenehmer Stich.
Der Eine musterte weiterhin ihren Körper, während der Andere nun widerwillig den Blick von seiner Lektüre löste. Desinteressiert erfasste er ihre Uniform, doch als er ihr Gesicht wahrnahm, wurde sein Ausdruck misstrauisch.
„Ich hab sie hier noch nie gesehen!“ sagte er dann und stand auf. „Haben sie ihren Firmenausweis dabei?“ Damit hatte sie gerechnet und sich bereits eine Antwort auf diese Frage zu recht gelegt. „Der ist noch nicht fertig, wie gesagt, es ist mein erster Tag! Aber ich hab‘ hier die Zugangsberechtigungskarte.“ gab sie dann leicht beschämt zurück und sah den Mann bittend an. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie Aiden in seinem Trenchcoat die Eingangshalle betrat. Er setzte sich in den Besucherbereich mit den vielen eleganten Stühlen auf der linken Seite, als ob er auf jemanden warten wolle.
„Ich will doch nur was abliefern. Ich kann es auch hier bei ihnen lassen, wenn sie es dann weitergeben!“ schlug sie vor und faltete die Hände. Unschlüssig sahen sich die beiden Männer an. Dann griff der eine zum Telefon. „Ich rufe schnell in ihrer Zentrale an, dann lässt sich das bestimmt gleich klären.“ Auch damit hatte sie gerechnet.
„Nein! Nein, bitte nicht…“ stotterte sie und machte ein schuldbewusstes Gesicht, als die Köpfe der Wachmänner wieder zu ihr hoch schnellten. Sie tat genervt und gab einen Stöhnen von sich, aber keiner von beiden sagte etwas. „Na gut, sie haben gewonnen, ich hab den Ausweis verloren! Sind sie jetzt zufrieden? Aber bitte rufen sie nicht meinen Boss an! Der wirft mich doch gleich am ersten Tag wieder raus!!! Bitte, ich brauche diesen Job!!!“ flehte sie jetzt und presste ein paar Tränchen aus den Augen. Beide sahen nun eher bestürzt als misstrauisch aus und Aurelia nutzte die Gelegenheit, Aiden hinter ihrem Rücken ein Zeichen zu geben. Die beiden Männer hatten die Köpfe zusammen gesteckt und berieten sich. So merkten sie nicht, wie Aiden aufstand und langsam an ihnen vorbei schlenderte. Er war gerade hinter dem Mauervorsprung zum Treppenhaus verschwunden, als der eine Wachmann, der Dunkelhaarige, seine Worte mit einem süffisanten Grinsen wieder an sie richtete. „Na gut, Süße! Aber das ist eine Sondergenehmigung! Nächstes Mal bringst du deinen Ausweis mit, verstanden?“ ‚Nächstes Mal‘ zog er lange und hob bedeutungsvoll eine Augenbraue. Sie nickte eifrig und fuhr sich mit dem Handrücken über das nasse Gesicht. „Und du musst dich hier eintragen, mit Name und Uhrzeit. Wenn du wieder runter kommst, musst du dich wieder austragen!“ Er schob ihr ein dunkles Klemmbrett mit Lederbezug vor die Hände. Darauf war eine Liste mit zwei Spalten befestigt, es befanden sich schon einige Einträge mit blauer Tinte darauf. Sie nahm den Stift entgegen, den er ihr hin hielt und trug den erstbesten Namen ein, der ihr einfiel, Leonie Schneider, dann schrieb sie noch die Uhrzeit dahinter. Sie gab ihm schließlich beides zurück, drehte sich um und ging auf die Aufzüge zu. Ihre Intuition signalisierte ihr, wann sie unbemerkt ins Treppenhaus huschen konnte, wo Aiden auf sie wartete. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, entledigten sich beide ihrer Jacken, zerrten die zwei weißen Laborkittel aus der Posttasche und schlüpften hinein. Aurelia ließ die Basecap verschwinden und strich sich ein paar Mal durch die blonden Locken. Sie waren etwas feucht, aber da sie künstlich waren, verloren sie kaum an Halt. Beide setzten sie Brillen auf und zogen Latexhandschuhe an, die sie versteckten, indem sie die Hände zu den Waffen in den Kitteltaschen steckten. Die Tasche stopften sie hinter ein Heizungsrohr und eilten dann die Treppen hinauf.
Aurelia wünschte sich sehnlichst ihren Player herbei, aber es musste jetzt eben auch so klappen. Sie sammelte ihre Konzentration und schickte ihren Geist voraus. So folgten sie schnell dem kürzesten Weg zum Labor. Die Karte in ihrem Gedächtnis war präzise und sie erreichten den Chemietrakt nach nur wenigen Minuten.
Die Tür war massiv. Sie ähnelte dem Stahlkoloss, der den Konferenzraum im Bunker verschloss. An der rechten Wandfläche daneben befand sich ein großes Schalttableau, dessen Display hellblau aufleuchtete. Darin waren zwölf blinkende Unterstriche zu sehen, die als Platzhalter für die zwölf Zeichen des Passworts dienten. Aurelia lehnte sich lässig mit dem Rücken an die Wand neben dem Tableau, während Aiden sich davor positionierte und die Hände kurz an einander rieb. Sie kannte seine Vorgehensweise, dennoch war es jedesmal etwas Besonderes, das wundersame Schauspiel verfolgen zu können. Jetzt breitete er die Hände nebeneinander aus. Die Flächen wiesen nach unten und schwebten nur 10 Zentimeter über dem Tableau. Aidens Augen waren geschlossen und er schien sich zu sammeln. Die langen hellblonden Wimpern zuckten hin und her während seine Lippen sich in schnellem Rhythmus bewegten. Das Display leuchtete kurz auf, dann flogen seine Finger über die Tastatur und gaben das Passwort ein. Seine Gabe war vielleicht keine typische Angriffswaffe, aber auf der Jagd in einer hochtechnisierten Welt war er wie ein magischer Dietrich. Er öffnete Tür und Tor und ermöglichte es ihnen, bis in die verborgensten Winkel des Kaninchenbaus vorzudringen. Das Schloss der Tür sprang wie von Geisterhand auf und sie flutschten schnell durch den entstandenen Spalt hinein. Auf dem Flur, der sich nun vor ihnen erstreckte, war keine Menschenseele zu entdecken. Aber Aurelia wusste, dass um die Uhrzeit sicher noch jede Menge Personal anwesend sein musste, deshalb entsandte sie erneut ihre Intuition und überließ sich ihren Weisungen. Aiden folgte ihr, wie schon so oft, auf dem Fuße. Auch er verließ sich nun voll und ganz auf ihre Gabe.
„Schritt, Schritt, Stopp.“ wurde sie dirigiert. So blieb sie vor einer Tür stehen, die aufging und sie beinahe im Gesicht erwischt hätte. Die Person, die das Zimmer verlassen hatte, ging allerdings unverändert weiter in die andere Richtung und verschwand dann hinter einer Ecke. Sie hatte ihnen die ganze Zeit den Rücken zugewandt und sie nicht bemerkt.
Sie befolgte die Hinweise ihres sechsten Sinnes genau. Sie bewegten sich wie Gespenster durch die Gänge. Eine Pause legten sie vor einem Flur ein, der seitlich von ihrem abzweigte. Während sie die Sekunde da standen und warteten, hörten sie, wie sich Stöckelschuhe klackernd entfernten. Dann hasteten sie weiter und stürzten sich in das Zimmer zu ihrer Rechten, als Aurelia es für notwendig hielt. Es war eine Art Teeküche mit diversen Geräten und einer Zeile aus Schränkchen. Verflucht noch eins, sie hatten gerade einen öffentlichen Raum erwischt! Wieder hörten sie Schritte vor der Tür, diesmal die von mehreren Personen. Einer hatte die Hand schon an die Tür gelegt und sie ein Stück aufgedrückt. „Warte eben, ich hol‘ mir nur noch schnell ‘nen Kaffee!“ sagte eine tiefe Männerstimme. Aurelia drängte Aiden hinter den Kühlschrank, der ihn vor Blicken vom vorderen Teil des Raumes aus, wo die Kaffeemaschine stand, schützen würde. Aber da war kein Platz mehr für sie selbst, fieberhaft betete sie um eine Eingabe.
Als die Tür aufschwang, sprang endlich ihr Hirn an. Sie konnte sich gerade noch mit dem Rücken zu dem hereinkommenden Mitarbeiter drehen, sich bücken und eine der Türchen der Küchenzeile öffnen. Als ob sie etwas suchte, streckte sie den Arm samt Kopf hinein und schob die Gegenstände darin hin und her. Der Mann blieb kurz stehen und sie fühlte seine Blicke beinahe ätzend auf ihrem Hinterteil. Langsam ging er weiter zu Kaffeemaschine und nahm sich die Kanne von der Heizplatte. Dabei räusperte er sich kurz und sagte: „Mann, Jenny, das Pilatestraining scheint sich bei dir ja echt zu lohnen.“ Er schenkte ein und nahm einen Schluck. „Also wenn du mal Bock auf eine Fortsetzung haben solltest… ich hoffe, du hast meine Nummer noch.“ fuhr er dann widerwärtig selbstsicher und aalglatt fort, wobei er sich zur Tür bewegte. Doch davor blieb er stehen. Es verstrichen einige Sekunden, bis sie begriff, dass er offensichtlich eine Antwort von ihr erwartete. Verflucht, sie brauchte irgendwas... etwas Unverfängliches, keine Worte, mit denen sie ihre Stimme verraten hätte! Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie ins Blaue hinein riet und einen überdeutlich verärgerten Grunzton ausstieß. „Himmel, Arsch und Zwirn, das wirst du wohl nie vergessen, oder?“ sagte er nun deutlich erzürnt und verließ endlich den Raum, ohne sie zu einer weiteren Reaktion zu nötigen. Erleichtert atmete sie auf, als sich der Geräuschpegel vor der Türe wieder legte und so das Verschwinden der Mitarbeiter anzeigte.
Sie flohen flink aus der Küche und setzten ihren Weg fort. Aurelias Intuition leitete sie auf diese Weise durch die Flure, passte Gelegenheiten ab, sich am Personal vorbei zu schleichen und ließ sie ungesehen an den vielen Kameras vorbeitanzen. Wenn sie doch mal eine einfing, sorgten sie dafür, dass sie nur von hinten zu sehen waren und die weißen Laborkittel wiesen sie als Personal aus. Endlich signalisierte ihr Geist ihr, dass die Luft vor dem Raum mit dem Zentralrechner rein war. Dieser war nicht an das weltweite Hegedunensystem angeschlossen, sondern konnte nur hier in diesem Gebäude bedient werden. So wollte man sich vor Hackerangriffen schützen, eigentlich. Sie lächelte kurz hämisch in sich hinein.
Aiden wiederholte die Prozedur über dem Sicherheitsschloss mit Zugangscode und verschaffte ihnen damit Zugang zu dem kleinen beengten Raum, indem ein Terminal stand. Aurelia verweilte an der Tür und behielt den Gang im Auge, während Aiden sich an den Computer setzte. Wenn sie im Bunker stationiert waren arbeitete er oft im Kontrollzentrum und half den IT-Leuten in die Systeme der Hegedunen einzudringen. Seine Gabe konnte jede noch so starke Firewall knacken, da kein einziges Passwort vor ihm sicher war. Dabei hatte er gelernt mit den Programmen der Hegedunen umzugehen, auch das Hacken hatten sie ihm beigebracht.
Sie hörte, wie seine Finger wie wild in die Tasten hämmerten. Es dauerte eine Weile und er knirschte immer wieder frustriert mit den Zähnen, dann hielt er kurz inne, der Stoff seiner Kleidung raschelte. Er hatte einen kleinen Datenstick aus der Tasche gezogen und ihn in den USB-Port des PCs gesteckt. Aurelia bekam langsam das Gefühl, dass sie sich besser verziehen sollten. „Mach schnell, ich glaube, wir müssen gehen.“ sagte sie knapp und wandte sich zu ihm um. „Moment noch, muss diesen Login verschwinden lassen, damit es nicht die leiseste Spur von uns gibt.“ sagte er angespannt.
Da fiel ihr Blick auf etwas bläulich Glänzendes, das neben dem Tischbein des Terminals, unweit eines Abfalleimers lag. Zuerst dachte sie, es wäre ein zusammengeknülltes Verpackungspapierchen, aber bei genauerem Hinsehen, war die Form zu geradlinig, um Müll zu sein. Sie wusste nicht genau warum, aber etwas in ihr bewegte sie dazu, ihren Posten an der Tür zu verlassen, um den kleinen Gegenstand aufzuheben. Aiden registrierte kaum, dass sie sich neben ihn stellte und sich bückte. Es war ein kleines blaues Kreuz aus blauem Glas. Kaum größer als ihr Daumennagel und leicht wie eine Feder lag es nun in ihrer Hand und kam ihr so merkwürdig deplatziert vor in diesem sterilen Computerraum mit der vielen empfindlichen Technik. Zur Einrichtung gehörte es sicherlich nicht.
„Ha!“ flüsterte Aiden triumphierend und zog den Stick wieder heraus. Unschlüssig über die Bedeutung ihres Fundes, steckte Aurelia das Kreuz kurzer Hand in die Hosentasche und richtete sich wieder auf. Dafür war später auch noch Zeit.
Das Passwortgenie loggte sich aus. „So weit, so gut!“ flüsterte er schalkhaft grinsend. Er sah erschöpft und abgeschlagen aus und die fahlen Lichter des Bildschirms und der vielen LED-Lämpchen an der Schaltwand hinter ihnen verstärkten den Eindruck noch. Sie lächelte müde zurück und fühlte sich für einen kurzen Moment so, wie er aussah, doch dann schossen wieder Bilder von Glühwürmchen in einer graublauen Sommerdämmerung durch ihren Kopf und sofort war sie hellwach. Keine Sekunde zu früh, denn ihr sechster Sinn drängte sie nun stärker als zuvor, den Raum zu verlassen. Er duldete keinen Aufschub, also packte sie Aiden am Handgelenk und zog ihn heraus aus der Computerzentrale, quer über den Flur in das gegenüber liegende kleine Labor. Die Tür besaß einen Glaseinsatz, durch den sie den Durchgang beobachten konnten. Sie glitt gerade hinter ihnen zu, da kam ein Mann um die Ecke und betrat genau den Raum, aus dem sie eben geflüchtet waren. Doch es war keine Zeit, sich darüber zu freuen, die Intuition drängelte sie schon wieder. Sie führte sie auf die gleiche Art zurück, wie sie gekommen waren, nur dass sie an der Tür mit Passwort nicht anhalten mussten und es keine weiteren Zusammenstöße mit irgendwelchen Menschen gab, was die Sache erheblich beschleunigte.
Im Treppenhaus tauschten sie wieder die Kleider. Aurelia schnappte sich Cap und Tasche und diesmal ging sie zuerst. „Du folgst mir in fünf Sekunden!“ zischte sie ihm noch zu, während sie das Treppenhaus verließ. Bevor sie um die Mauer davor bog, setzte sie ihr bezauberndstes Lächeln auf und steuerte nun abermals auf die beiden Wachmänner zu. Der Dunkelhaarige erkannte sie sofort wieder und zeigte sein anzügliches Grinsen von vorhin. Sie blieb am Tresen stehen, zog sich ein Stück daran hoch und lehnte sich mit dem Oberkörper weit über die spiegelnde Marmorfläche. Sie setzte den Ellenbogen auf, hob die Hand und krümmte ein paar Mal lockend den Zeigefinger, damit sich der Dunkelhaarige zu ihr vorbeugte. Das tat er dann auch, obwohl er ein ziemlich perplexes Gesicht machte. Sein Kollege verfolgte wie gebannt die Situation. Sie überbrückte mit einem Satz den kleinen Abstand zwischen ihren Köpfen und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange, jedoch verdächtig nah an seinem rechten Mundwinkel. Aiden nutzte die Überraschung der beiden Wachmänner, um sich unauffällig an Aurelias Rücken vorbei zu schleichen und war im nu durch die Eingangstür verschwunden. Das einzige, das seine Anwesenheit verriet, war, dass sich nun die gläsernen Flügel drehten. Sie seufzte vor Erleichterung, nachdem er nicht mehr zu sehen war. Dann hauchte sie dem Kerl ins Ohr „Danke Süßer!“ Als keiner von beiden in ihrem Erstaunen etwas sagte, fragte sie mit einer koketten Geste: „Muss ich mich nicht noch austragen?“ Wortlos wurde ihr das Klemmbrett gereicht, in dem sie wieder den unsinnigen Namen und die Uhrzeit, es waren keine 10 Minuten vergangen, eintrug. Schwungvoll wandte sie sich zum gehen, nicht jedoch, ohne den verdatterten Security-Männern noch ein Zwinkern zu zuwerfen. Dann hatte auch sie die gläserne Drehtür erreicht und spürte endlich den erlösenden kalten Wind im Gesicht. Der Regen prasselte auf ihren Kopf und bildete einen krassen Kontrast zu ihrem dahin rasenden Herzen, das sie nun, da die direkte Anspannung vorbei war, umso bewusster wahrnahm. Ihr Kopf war müde und sie genoss die dicken Tropfen, die ihr ins Gesicht klatschten, als sie es gen Himmel richtete.
Es war vorbei! Sie hatten es geschafft! Sie schmunzelte darüber, wie einfach es gewesen war, wo sie doch angenommen hatten, dieses Vorhaben erfordere eine enorme Menge an Planung und Vorbereitung. Aber sie hatten in genau diesem Augenblick den Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt. Dagegen waren die Ereignisse des Nachmittags wesentlich bedrohlicher und ihre Planungswut wirkte angesichts dessen beinahe absurd. Sie schüttelte den Kopf. Jetzt endlich war Zeit, sich um Pareios zu kümmern. Er flutete ihren Verstand und Körper und nahm ihn vollständig ein.
Plötzlich fühlte sie eine Hand auf der Schulter. Ihr Herz blieb fast stehen, wobei der eben gesunkene Adrenalinpegel sofort wieder in schwindelerregende Höhen schoss. Sie drehte sich blitzschnell um und hatte schon das Handgelenk des Störenfriedes gepackt und leicht verdreht, da erkannte sie den dunkelhaarigen Wachmann. Wieso hatte sie diese Gefahr nicht kommen sehen? Abrupt ließ sie ihn los, war aber immer noch bereit, ihn in Sekundenbruchteilen zu eliminieren. „Wow, du bist ganz schön wehrhaft!“ meinte er mit aufgerissenen Augen, aber dann entspannte er sich unter den Falten seines schwarzen Anzugs. Sein Gesicht nahm wieder das süffisante Grinsen an. „Gefällt mir!“ Verwundert atmete sie nicht sichtbar aus, er bedeutete also keine Gefahr. „Leo, ich darf dich doch so nennen?! Vielleicht hast du ja mal Lust auf einen Kaffee, oder ein nettes Abendessen, oder… was anderes.“ Er machte eine Pause und zog ein kleines Stück weiße Pappe aus der Tasche. „Hier hast du meine Nummer! Es wäre mir ein großes Vergnügen!“ Er sagte es so anzüglich, dass sie es schon als abstoßend empfand, trotzdem hob sie zögerlich die Hand, um ihm die Visitenkarte abzunehmen. Er leckte sich kurz über die Lippen und musterte sie noch einmal scharf, dann drehte er sich um und verschwand im Glasgebäude. Langsam verfiel ihr stotternder Herzschlag wieder in den normalen Rhythmus. ‚Männer!‘ fluchte sie innerlich über diese berechenbare Spezies Mensch, anscheinend hatte sie ein wenig zu überzeugend geschauspielert. Sogleich setzte sie sich eilig in Bewegung. Sie musste sich sputen, um ihren Treffpunkt mit Aiden zu erreichen.

Während sie in flottem Tempo die Straße hinunter hastete, kramte sie in ihren Taschen nach ihrem Handy. Auch wenn sie Viktor für seine Nachlässigkeit und Verbohrtheit verachtete, ging es hier immer noch um seinen Bruder. Er war im Moment vielleicht nicht der beste Verbündete, aber zusammen mit Aiden, waren es die beiden einzigen. Was blieb ihr also anderes übrig? Sie hatte Viktor auf Kurzwahl. Es klingelte nur ein Mal, bevor er abnahm. Er flüsterte: „Ja?“
„Erledigt!“ flüsterte sie zurück. „Wo bist du?“






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