Gifted - Die Befreiung - Teil 14

Autor: Aven
veröffentlicht am: 27.07.2012


„So, also du und Pareios?“ fragte Viktor ungehalten flüsternd, als sie sich langsam um die Ecke schlichen und möglichst unauffällig an der großen Mauer der Anlage entlang liefen. Schon nach wenigen Metern waren sie wieder bis auf die Konchen durchnässt und ihre Kleidung, die im Wagen ein wenig getrocknet war, verfärbte sich dunkel.
Sobald sie seinen Bruder im Auto zurückgelassen hatten, kam das ausgesprochen miese Gefühl wieder. Es war, als würde es ihr die ganze Zeit mit einem kleinen Hämmerchen gegen den Hinterkopf klopfen. Erst als sie endlich die Seite erreichten, die man von der Straße aus nicht mehr einsehen konnte, gab sie Viktor eine Antwort, obwohl sie nicht geringste Lust hatte ihm Rede und Antwort zu stehen, vor allem nicht in diesem Moment. Schließlich musste sie sich konzentrieren!
„Ich hab’s nicht drauf angelegt, das weißt du!“ Zumindest hätte er es früher mal gewusst. Sie sah wie er sie entgeistert von der Seite anstarrte. So langsam stieg auch in ihr die Wut auf. Diesen Viktor da neben sich kannte sie nicht mehr. Warum war er so offensichtlich gegen diese Geschichte zwischen seinem Bruder und ihr?
„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ fragte er weiter deutlich verstimmt. „Ich meine, du warst immer so… kalt. Und er ist, sagen wir mal genau das Gegenteil von dir! Und er… er ist mein Bruder!“ Er zischte es erbost, als ob sie die ganze Sache geplant hätte, um ihm damit eins auszuwischen.
„Viktor, worum geht’s hier eigentlich? Ich wusste nicht dass du irgendein Vetorecht besitzt!“ konterte Aurelia nun fauchend und stieg dabei in Viktors verschränkte Hände, die sie mit einem schnellen Ruck in die Höhe katapultierten. Nach einer graziösen Schraube landete rittlings auf der ca. 3 Meter hohen Mauer, kniff die Knie für einen besseren Halt zusammen und beugte sie runter, um ihrem Begleiter die Hand zu reichen. Er sprang ab und sie zog ihn zu sich hoch. Dann rollten sie sich geduckt auf die andere Seite und landeten in der Hocke im Staub vor der Mauer.
„Ich meine, er hat das nicht verdient…! Nicht noch ein Mal!!!“ raunte er dann. Aurelia traute ihren Ohren nicht und riss die Augen auf während sie Viktors Blick suchte. Ihr Mund der ebenfalls aufgeklappt war, wollte gerade eine Entgegnung formulieren, da legte er sich den Finger auf die Lippen und zog mahnend die Augenbrauen zusammen, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nun gefälligst die Klappe halten solle. Aurelia kochte innerlich. Er durfte sie mit all diesen mysteriösen Vorwürfen bombardieren und sie durfte sich noch nicht einmal danach erkundigen, was zur Hölle er damit meinte! Sicherlich war ihr klar, dass jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt für weitere Diskussionen war, aber er hatte doch mit diesem verflixten Thema angefangen. Sie biss die Zähne zusammen, um sich einen wüsten Kommentar zu verkneifen, doch ein verächtliches Schnauben entfuhr ihr trotzdem. Viktor bedachte sie mit einem weiteren zurechtweisenden Blick, dann setzte er sich in Bewegung.
Aurelia wusste, dass sie ihre Konzentration nun auf das was vor ihnen lag richten sollte, aber es gelang ihr nicht so ganz. Ein Teil ihres Hirns war immer noch mit dem kurzen Intermezzo mit diesem fremden Viktor beschäftigt und fragte sich lebhaft, warum er so reagiert hatte.
War es verletzter Stolz, der da aus ihm sprach? Das passte so gar nicht zu ihm, doch Aurelia erinnerte sich nun an das Gespräch, das sie vor den Duschen im Bunker geführt hatten. Da hatte er etwas angedeutet, was hier wieder ins Bild passen könnte. Dann fiel ihr ein weiteres Detail dieser Unterhaltung ein. Er hatte sehr bitter über ihre Eigenart, unzugänglich zu sein geredet und plötzlich erkannte sie, was in seinen Worten gesteckt hatte.
Natürlich war verletzter Stolz darin enthalten, wenn es stimmte, dass er sie für so lange Zeit mehr gemocht hatte, als es für eine Freundschaft üblich war. Aber vor allem, und das traf sie nun zutiefst, ging er davon aus, dass Aurelia seinen Bruder auf irgendeine Weise verletzten würde, vielleicht genauso wie ihn selbst. Und so weit weg von Pareios und hier zusammen mit dem ungnädigen Viktor, der nun ein für alle Mal genug von ihren Macken zu haben schien, meldete sich wieder der Selbsthass, der sie so lange gequält hatte. Er vergiftete ihren Geist und sie fragte sich, warum sie dazu verdammt war, egal was sie tat, den Menschen in ihrer Umgebung weh zu tun. Jeden dem etwas an ihr lag, stieß sie zurück oder trat ihm auf die Füße. Heiß brannte der Hass jetzt in ihrem Herzen und in den Augen. Vielleicht hatte Viktor Recht und sie sollte Pareios zu seinem eigenen Wohl in Ruhe lassen, bevor auch er sich so tief in die Geschichte verstrickte, dass es kein Zurück mehr gab. Für sie selbst gab es das ja sowieso schon nicht mehr, aber sie musste ihm nicht auch noch diese Qualen aufbürden.
Während ihr Hirn diese Gedanken wieder und wieder durchspielte, folgte sie Viktor geduckt durch die Haufen von Restmüll und verharrte dann und wann hinter einem, wenn sie meinte ein Geräusch zu hören. Nirgends war jemand zu sehen nur die Limousine stand einsam und verlassen am gegenüberliegenden Ende des Geländes. Sie steuerten geradewegs auf ein heruntergekommenes Gebäude in der Mitte des Platzes zu. Der eierschalenfarbene Putz war von der Witterung verfärbt und bröckelte an einigen Stellen ab. Manche Fensterläden, waren halb herausgerissen und hingen nur noch an einer Angel herab, was das Gemäuer wie ein Geisterhaus wirken ließ. Als Viktor die letzte schützende Deckung verlassen und darauf zu schleichen wollte, packte sie ihn an der Schulter, weil sich trotz ihrer Gedankengänge ein massives Gefühl der Irritation meldete. Es ließ alle Haare zu Berge stehen und den Atem schneller gehen. Die plötzliche Aufregung kurbelte die Adrenalinausschüttung in ihrem Körper an und nur eine Sekunde später, war ihr gesamtes System wach und in Reaktionsbereitschaft.
Wenn Viktor schon den Verstand zu verlieren schien, dann musste sie wenigstens voll da sein und ihren Weg gegen alle Eventualitäten absichern. Sie fummelte in ihren Taschen nach ihrem Player, beförderte ihn schließlich zu Tage und verschloss ihr Gehör gegen störende Einflüsse von außen. Im Moment reichte ihre Konzentration sicher nicht aus, um es ohne zu schaffen. Augenblicklich wummerten die Bässe gegen ihr Trommelfell und erfüllten ihren Geist mit der gewohnten Jagdlust.
Sie schickte ihre Intuition aus, um die nächsten Sekunden zu erkunden. Der Weg zum Haus schien erst Mal ungefährlich, also ließ sie Viktor gewähren. Er stand blitzschnell auf und war schon an die gegenüberliegende Hauswand gepresst, ehe sie überhaupt blinzeln konnte. Sie tat es ihm nach, natürlich nicht ganz so schnell, dann schoben sie sich langsam zur Ecke vor, um einen Blick zu riskieren. Sie nutzte wieder ihre Gabe, um einen unbeobachteten Moment abzupassen, dann streckte sie den Kopf so weit vor, dass sie den Eingang erkennen konnte. Dort standen wieder die beiden Gorillas und sahen unbeteiligt auf dem Gelände umher. Es wirkte nicht so, als ob sie erwarteten angegriffen zu werden. Sie erklärte Viktor mit einem Handzeichen was sie sah und er nickte Richtung Haus. Er wollte irgendwie hinein, um zu belauschen, was darin vor sich ging. Also bewegten sie sich wieder in die entgegengesetzte Richtung um das Gebäude herum, bis sie auf der Seite zur Straße im 2. Stock ein beschädigtes Fenster entdeckten, das sachte im Wind hin und her schaukelte. Es war riskant an diesem gut einsehbaren Ort in das Haus einzusteigen, aber Aurelia war klar, dass sie Viktor sowieso nicht davon abbringen konnte. Wieder wagte sie sich ein paar Sekunden in die Zukunft und wartete auf eine gute Gelegenheit. „Jetzt!“ gab ihr ihre Intuition grünes Licht und sie lief los. Flink sprang sie auf einen der mannshohen Container, die dort standen und konnte mit einem weiteren Satz den Fenstersims erreichen, an dem sie sich sogleich hochzog. Sie stoppte kurz und warf einen schnellen Blick in den Raum, doch alles schien ruhig und ungefährlich. Also ließ sie sich drinnen leise auf die Zehenspitzen fallen und half Viktor hereinzuklettern. Der Dielenboden unter ihnen knarrte verräterisch unter seinem Gewicht, als er sich neben ihr hinein gleiten ließ, Aurelia konnte die feine Vibration durch ihre Fußsohlen wahrnehmen. Ihre beiden Köpfe flogen gleichzeitig zur Tür herum, die nur angelehnt war, dort rührte sich jedoch nichts. Der Raum schien genauso verlassen, wie das Gelände. Dicke Spinnweben hingen in den Ecken und die schönen alten Holzbretter zu ihren Füßen waren mit Vogeldreck verkrustet, der unter ihren Sohlen leise knirschte. Sie nahm nur das Gefühl unter ihren Schuhen wahr, das Geräusch wurde durch die Musik überdeckt.
Still durchquerten sie den Raum und machten an der Tür abermals Halt. „Los!“ befahl wieder die Intuition und sie schob sich durch den Spalt ohne das Holz zu berühren, Viktor folgte ihr auf den Fersen. Hier im Kampf waren sie wieder ein eingespieltes Team, aber sie wusste, dass dieser Eindruck trog. Das miese Gefühl, das sie schon die ganze Zeit beherrschte war mittlerweile zu einem einzigen großen Ball an Abneigung heran gewachsen und sie musste alle Macht zusammenkratzen, um ihre Beine von der Flucht abzuhalten. Sie sah sich kurz zu Viktor um, suchte seine Augen und gab ihm zu verstehen, dass sie sich mehr als unwohl fühlte, doch er überging es einfach und stieß ihr die flache Hand in den Rücken um sie voran zu treiben. Was sollte sie bloß mit diesem Viktor anfangen, zu dem er jetzt geworden war?
Am Treppengeländer angekommen blieben sie kurz stehen. Die Miene ihres Begleiters verhärtete sich und sie ahnte, dass er unten leise Stimmen gehört hatte. Dies veranlasste ihn dazu, sich an ihr vorbei zu drängen und den Fuß auf die oberste Treppenstufe zu stellen.

Im selben Moment ging ein Ruck durch Aurelia. Ihre Alarmglocken schrillten durchdringend und ihre Intuition brüllte ihr beinahe zu: „RAUS!!!“ Ehe sie wusste, was eigentlich los war und was ihre Muskeln da taten, hatte sie zum Sprung angesetzt. Sie hatte in einer Millisekunde bevor sie sich in Bewegung gesetzt hatte, den Flur und die Wände um sie herum gecheckt. Etwas unterhalb von Viktors Position befand sich ein Fenster, welches sie nun zu ihrem Ziel auserkoren hatte. Sie prallte im Flug von hinten gegen Viktor, der völlig überrascht war und das Gleichgewicht verlor, sodass sie ihn mitreißen konnte. Sie kettete ihre Arme um seinen Brustkorb und beugte ihren Kopf über seinen, um ihn vor Glassplittern zu schützen als sie so umschlungen durch dieses Fenster knapp unterhalb des 2. Stocks hindurch brachen.
Gerade spürte sie an ihrem linken Bein einen spitzen Stich, da erfasste sie schon eine heiße Druckwelle am Rücken. Es entstanden ein paar feurig brennende Stellen daran und sie wusste, dass ihr Sweater durch gesengt wurde. Der Knall der Explosion ließ ihr Trommelfell trotz der Ohrstöpsel des Players ächzen und vernichtete ein Paar Härchen in ihrem Gehörgang. Die Druckwelle erfasste sie nun ganz und unterbrach die Flugbahn, die Aurelia eingeschlagen hatte. Stattdessen schleuderte sie sie gemeinsam mit einer Unmenge an feurigen Hausteilen mit voller Wucht etwa 10 Meter weiter, wo sie auf den staubigen Boden aufschlugen und noch ein Stück durch den Dreck rutschten. Sie lag seitwärts neben Viktor, einen Arm um seine Schultern geschlungen, mit dem anderen drückte sie sein Haupt gegen ihre Brust, während es um sie herum brennende Trümmer und dicke fette Regentropfen regnete. Aurelias Atem ging schwer und Wellen von Aufruhr durchfluteten sie.
„Drehen!“ befahl die Intuition. Aurelia packte Viktor am Kragen und zog ihn mit aller Kraft auf sich, um sich mit ihm ein Stück nach links zu rollen. Keinen Moment zu früh, denn schon krachte ein ehemaliger Dachbalken an der Stelle zu Boden, wo Viktor eben noch gelegen hatte. Er zersplitterte in tausend Einzelteile, die nun auf sie hinab fielen.
Sie hatten keine Gelegenheit auch nur ein Wort zu wechseln. Beiden war klar, dass das hier eine Falle gewesen war und sie nicht wussten, ob sie noch immer hinter ihnen her waren. Sie kamen strauchelnd auf die Beine und stolperten Richtung Mauer. Sie liefen von Schrotthaufen zu Schrotthaufen, um dort Deckung zu suchen, doch nirgends regte sich etwas, außer dem brennenden Schutt der immer noch vom Himmel herab kam.
Sie hatte schon fast die Hände an den roten Backstein gelegt, da kam erneut eine Eingabe. Sie schubste Viktor hinter einen alten, halb verrotteten VW Tuarek und hechtete dann selbst unversehens hinter einen weiteren Haufen an Schrott. Sie brauchte die Schritte nicht zu hören, obwohl ihre Kopfhörer bei der Explosion den Geist aufgegeben hatten, um zu wissen, dass es die zwei Gorillas waren, die vor dem Haus gestanden hatten. Sie durften sich jetzt auf keinen Fall verraten. Sie sah sich nach Viktor um, auch er hatte die beiden bemerkt und kauerte mucksmäuschenstill hinter den zerstochenen Reifen des blauen Kleinbusses. Die herabstürzenden Holzteile hatten ihre Spuren verwischt und wenn sie sich jetzt ganz ruhig verhielten, würden die beiden Gegner wahrscheinlich annehmen, dass sie direkt bei der Explosion zerfetzt worden waren…. genauso, wie der Rest deren Teams! Was zum Teufel lief hier? Ihr Herz raste wie wild, als ob es ihr aus der Brust springen wollte. Sie betete, dass Pareios nicht kommen würde, wo er die Explosion doch sicher mitbekommen hatte.
Die Männer waren stehen geblieben. Sie hörte ein metallisches Klicken, dann ein Ratschen und kurz darauf das Aufzischen einer Flamme. Einer der beiden steckte sich wieder eine Zigarette an. Sie vernahm das Knistern des verbrennenden Tabaks, als er genüsslich daran zog. Dann sagte eine tiefe sonore Stimme: „Ich glaube das war’s. Wir können gehen!“ Der andere ließ daraufhin ein zustimmendes Brummen verlauten und sie setzten sich langsam in Bewegung. Ihre gemächlichen Schritte verklangen langsam, während sich weit entfernt eine Sirene in die Geräuschkulisse mischte. Die Bullen, die Feuerwehr, was auch immer, war unterwegs hier her. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, sie mussten dringend hier weg! Sie riskierte einen Blick, doch sie konnte keinen der beiden Männer mehr entdecken. Erleichtert atmete sie aus und bemerkte dabei, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
Als ob sie sich abgesprochen hätten, trafen Viktor und sie gleichzeitig an der Mauer ein und überwanden sie auf die gleiche Weise, wie vorhin. Auf der anderen Seite sondierten sie sofort geübt die Lage, suchten die Straße nach Gefahr oder anderen auffälligen Indizien ab. Doch sie konnten nichts weiter entdecken, also rannten sie sogleich los.

Aurelia hatte tausend Fragen im Kopf und beschleunigte ihre Schritte, um dem fast von Sinnen davon sprintenden Viktor nicht verloren zu gehen. Sie riss die Beine weit auseinander, machte große Sätze und flog jetzt beinahe die Straße hinunter auf ihr Fluchtfahrzeug zu. Sie konnte schon die schwarze Schnauze mit der silbrigen Stoßstange erkennen, wobei ihr Blickfeld durch ihren sich verändernden Winkel zur Hausecke mit jedem zurückgelegten Meter größer wurde. Sie war so fixiert darauf, Pareios wieder zu sehen, dass sie nicht bemerkte, dass Viktor stehen geblieben war. Sie wollte gerade um die Ecke schlittern, als Viktor sie am Schlafittchen packte und sie zurück gegen die Hauswand des Eckgebäudes schleuderte. Er drückte sie mit dem ausgestreckten Arm an die Wand, aber all seine Aufmerksamkeit galt der Szenerie hinter der Ecke.
Was…?“ setzte sie ärgerlich an, aber er presste ihr die Hand auf den Mund. Wutentbrannt befreite sie sich aus seinem Griff, quetschte sich an ihm vorbei und schielte um die Ecke, doch was sie sah ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren!

Hinter ihrem dunklen SUV parkte ein weiteres großes schwarzes Auto. Es war ein Escalade mit getönten Scheiben und in der Sonne blitzenden Chromfelgen. Zwei Männer saßen auf Fahrer- und Beifahrersitz. Die Türen ihres eigenen Wagens waren wie in einem wilden Durcheinander aufgerissen worden und standen nun alle in verschiedenen Winkeln vom Auto ab. Ein ihr unbekannter Mann saß hinterm Steuer und drehte einen weißen großen Pinsel schnell zwischen seinen Fingern. Der Staub, der daraus herab rieselte, verteilte sich überall auf dem Lenkrad und dem Armaturenbrett, woraufhin er sich, mit einigen Klebestreifen bewaffnet, auf Fingerabdruck-Suche begab.
Ein weiterer Kerl stand an das Auto gelehnt mit dem Rücken zu ihnen und murmelte einen Befehl in die andere Richtung. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte, aber sie vernahm den herrischen Ton. Dann hörte sie, wie ein Dritter etwas hochhievte und dann rückwärts gehend hinter sich her schleifte. Sie wusste, bevor sie es sehen konnte, dass es Pareios lebloser Körper war, der da über den Asphalt gezogen wurde. Sie erkannte ihn, sein fahles, aber noch lebendig wirkendes Gesicht war gerade zwischen den beiden Wagen aufgetaucht und dann sah sie rot. Eine bombastische Woge des Zorns überkam sie, nahm jede Vernunft mit sich und enthemmte sie vollends. Er hatte einen winzigen Pfeil im Hals stecken, mit blauer Spitze und einem Federpaar am Ende, er sah aus wie ein Dartpfeil. Der Kerl der ihn zog zeigte deutlich Brandspuren. Das Haar auf der linken Kopfhälfte war verschwunden und die Haut dort, sowie die des halben Gesichts war mit bösen Blasen verunstaltet. Der schwarze Anzug hing in verkohlten Fetzen an seinem Oberkörper.
Aurelia fühlte Mordlust. Es war, als ob sie sich aus einem Fallschirm ausklinkte und dann ins bodenlose Nichts fiel. Alles, was von jetzt an passieren würde, könnte sie nicht mehr steuern. Das schreckliche Ungeheuer in ihr hatte die Führung übernommen. Es dürstete nach Rache und nach dem Blut von Pareios‘ Peinigern. Sie würde sie einfach hier und jetzt zerfleischen!
Sie hatte schon einen Fuß vorgeschoben, die Zähne gefletscht und die Muskeln zum Angriff angespannt, da riss sie Viktor abermals an den Schultern zurück. Wie von Sinnen schlug sie nach ihm, biss in alles das sie erwischen konnte und setzte auch ein paar Tritte ein. Doch Viktor war mit seiner Schnelligkeit einer der wenigen ernsthaften Gegner für Aurelia und so hatte er sie, dank ihrer Besinnungslosigkeit bald unter Kontrolle, indem er ihre eigenen Arme um ihren Körper gedreht hatte und diese hinter ihrem Rücken mit einer Hand fixierte. Er drückte sie mit seinem ganzen Gewicht gegen die raue Mauer und schüttelte sie an den Schultern, dass ihrer Zähne aufeinander klapperten.
„Komm zu dir, verdammt!“ zischte er ihr ins Ohr, doch sie überlegte nun ernsthaft, ob sie erst Viktor beseitigen musste, bevor sie ihre Aufmerksamkeit den Schergen der Hegedunen widmen konnte. Eine uralte Erinnerung traf sie wie ein Blitz, versengte ein paar Gehirnzellen und ließ ihr Herz beinahe stehen bleiben. Im selben Moment erschlaffte ihr Körper reflexartig, als hätte sie sich die Hände an einer heißen Herdplatte verbrannt. Dieser Gedankengang, indem sie Viktors Tod ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf genommen hatte, lichtete ein wenig den Nebel, der ihren Geist erfasst hatte. Diese Vorstellung kam ihr beängstigend bekannt vor und ließ grauenhafte Bilder vor ihren inneren Augen aufsteigen. Es widerstrebte ihr zutiefst, Viktor zu verletzten, sie konnte nicht schon wieder die selben Fehler begehen, die sie so lange in ihren selbstgeschmiedeten Käfig aus Selbsthass gebannt hatten. Er kannte sie lange genug, um sich dessen bewusst zu sein und ließ ihr keine Wahl, als die Woge mühevoll abebben zu lassen. Erleichterung durchströmte sie jetzt, da Viktor sie davon abgehalten hatte, ihrem Drang blindlings zu morden, nachzugeben. Doch gleichzeitig war sie wütend auf ihn, sie mussten schließlich Pareios retten. Wieder bäumte sie sich gegen seinen Schraubstockgriff auf, doch er war wesentlich stärker als sie und sie war wieder so weit bei sich, dass sie selbst gegen den Anfall ankämpfte. Er drückte seinen Unterarm gegen ihren Hals, damit sie endlich Ruhe gab. „Aurelia, wir können nicht gewinnen, die sind zu fünft und es sind alles Elevender! Du hast keine Ahnung, welche Kräfte sie besitzen!“
Das wusste sie selbst, sie hatte es in dem Moment gespürt, als sie den Ersten erblickt hatte. Doch sie war so in Sorge, dass es dem Ungeheuer gleich war, was aus ihr selbst werden würde. Sie war definitiv zu allem bereit!
„Wenn sie ihn töten wollten, dann hätten sie es doch schon längst getan, oder?“ knurrte er jetzt.
Und endlich konnte sie die Arme aus den Schlingen des Monsters in ihr befreien. Sie versteifte die Glieder, um die unbändigen Zuckungen unter Kontrolle zu bekommen. Wie sie da so in seiner Umarmung hing und an seinen Bruder dachte, fragte sie sich, ob eine Situation wohl noch surrealer sein konnte?
Viktor holte sie zurück in die Realität, indem er ihren Kiefer mit der rechten Hand packte. Er übte leichten Druck aus, sodass ihre Lippen zwischen seinem Daumen und den anderen Fingern leicht nach vorn gepresst wurden. Er zwang sie so, ihn anzusehen.
„Hör mir jetzt zu Aurelia!!!“ zischte er. „Das war eindeutig eine Falle! Ich hätte auf dich hören sollen!“ Er redete so schnell, dass sie Mühe hatte dem Schwall an Worten zu folgen. „Aber die halten uns für tot! Und das ist in diesem Moment unser einziger Trumpf! Wer weiß, was mit Row und Aiden passiert. Wenn die Hegedunen wussten, dass wir kommen, dann haben sie sicher die gesamte Gegend im Auge behalten. Ich wette, sie wissen wo sie uns finden können. Das Ganze war nur eine Finte, um uns zu trennen. So hatten sie leichteres Spiel!“ Er redete nun beschwörend eindringlich auf sie ein. Eine kalte Gewissheit kroch ihr Rückgrat hinauf, die seine Worte auf so ungewöhnliche Weise bestätigte. Leise stahl sich eine einzelne Träne aus Aurelias Auge und fiel neben ihr auf den grauen Beton. Sie hatte ihr schlechtes Gefühl immer wieder Kund getan, aber Viktor hatte es schlichtweg ignoriert und nun bezahlten sie alle dafür, manch einer vielleicht sogar mit dem Tod. Und in diesem Moment begann sie ihn dafür zu hassen. Sie konnte nichts dafür, es bahnte sich den Weg durch sie nach draußen wie ein Urschrei. Sie rang die Linke frei und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Es knackte entsetzlich, gefolgt von einem leichten Knirschen und aus Viktors Nase schoss Blut. Ihr Glück war, dass die Kolonne in diesem Moment die Türen des schwarzen SUV zuschlugen. Einer hatte sich ans Steuer gesetzt und startete sogleich den Motor. Auch der des Escalades sprang an und sie hörte wie die Reifen auf dem Asphalt drehten.
Viktor spuckte kurz zur Seite aus und richtete die Nase mit einem kleinen Ruck, dann wischte er sich mit dem Ärmel über den Mund. Die Autos wendeten auf der Straße und beide beschleunigten, als sie sich langsam entfernten.
„Aurelia, du musst mir jetzt vertrauen!“ raunte er weiter drängend. „Du musst zurück zum Motel und nach Aiden und Row sehen, sie warnen! Aber sei vorsichtig, vielleicht warten sie da auf uns. Ich werde dem Wagen folgen und sehen, wo sie Pareios hinbringen. Ich melde mich so bald ich kann!“ Er sah sie noch ein Mal prüfend an und drückte sie dann kurz. Mit einem gehauchten „Es tut mir Leid!“ war er auch schon verschwunden.






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