Das Leben und andere Rätsel - Teil 2

Autor: Becky
veröffentlicht am: 08.06.2012


Im Auto stinkt es grauenhaft nach Rauch. Das Fenster hat Mum zwar freundlicher Weise geöffnet, doch der Wind steht ungünstig. Wir sind beinahe allein auf der Autobahn. Es liegt wahrscheinlich daran, dass erst Donnerstag ist und die meisten Menschen erst morgen irgendwo hinfahren. Nur auf der Gegenspur leuchten gelegentlich mal Scheinwerfer auf.
„Du bist so still, Hanna“, stellt Mum fest und streicht mir dabei flüchtig durch mein hellbraunes, schulterlanges Haar. „Freust du dich nicht?“
Worauf? Darauf von zuhause wegzugehen? Darüber das ich meinem Vater egal bin? Oder darüber, dass ich zehn Stunden lang in einem verqualmten Auto sitzen darf? Die Fragen bleiben mir glücklicher Weise im Halse stecken.
„Doch, natürlich freu ich mich. Ich bin nur müde.“
Einen Moment lang ist es still.
„Darf man an den Wochenenden nach Hause, wenn man möchte?“
„Ach Mäuschen, wir sehen uns immer in den Ferien. Aber du weißt, dass die Entfernung zu groß ist, um immerzu hin und her zu fahren.“
Ich merke, dass meine Augen glasig werden, deshalb beschließe ich das Thema zu wechseln.
„Wir bleiben doch die ganze Woche, oder?“
„Ich denke wir fahren nächsten Donnerstag oder Freitag wieder. Ich habe heute einen Brief vom Internat bekommen. Sie schreiben, dass ihnen Samstag als Anreisetag am liebsten ist.“
Leicht schockiert sehe ich zu ihr herüber.
„Ich habe mich am Montag mit Maja und Phillip verabredet. Das habe ich dir gesagt. Es war abgesprochen, dass wir am Dienstag fahren. Ich muss mich wenigstens verabschieden.“
„Dann machst du das eben am Freitag, wenn wir Donnerstag fahren.“
Ich nehme den Vorschlag zwar zur Kenntnis, doch er gefällt mir schon aus Prinzip nicht. Aus dem offenen Handschuhfach ragt der besagte Brief heraus. Er ist an mich gerichtet. Hätte ich ihn geöffnet, wäre er direkt in der Papiertonne gelandet und wir wären am Dienstag gefahren. Genervt lege ich meinen Kopf an die Scheibe und schaue in den Himmel.
Ich lausche dem Radio und hoffe, dass ich einschlafe.

Als ich wach werde, ist es hell im Auto. Es ist extrem still. Mum sitzt nicht auf ihrem Platz und alle Fenster sind geschlossen. Mit etwas geöffneten Augen kann ich das weiße Haus erkennen. Zwei Etagen, ein großer Balkon und ein kleiner Torbogen vor dem Eingang. Wir sind da.

Nachdem ich mühsam aus dem Auto gekrochen bin, muss ich mich erst einmal sammeln. Mir tut alles weh. Langsam schleppe ich mich zur Eingangstür, mein Koffer ist nicht mehr im Kofferraum. Auf dem kleinen Namensschild steht ‚Árpád’. Wir wohnen in der oberen Etage.
Unter uns lebt unsere Vermieterin Dorina. Eigentlich lebt sie allein, doch seitdem ihre Gesundheit so instabil ist, wohnt ihr Enkel Milan bei ihr. Vor zwei Jahren haben wir uns kennengelernt, konnten uns jedoch nie richtig unterhalten, da sein Deutsch damals noch sehr schlecht war und mein Ungarisch gleich null. Aber wir haben uns trotzdem gut verstanden, auf eine andere Art, ohne große Worte.

Einen Moment später öffnet meine Mutter die Tür. Sie sieht nicht so müde aus, wie ich erwartet habe.
„Ausgeschlafen?“ Sie lächelt mich flüchtig an und geht einen Schritt zur Seite.
Ich gehe in den Flur und versuche mich zu erinnern in welcher Richtung das Wohnzimmer liegt. Die Treppe, die hinauf in unsere Wohnung führt erscheint mir von Jahr zu Jahr schmaler und instabiler, doch wahrscheinlich ist es Einbildung.
Aus einer Tür im hinteren Teil des Flures ertönt ein Klirren. Instinktiv laufe ich in diese Richtung – Mum scheint das Selbe zu tun.
„Was ist passiert?“ Sie drängt sich unsanft an mir vorbei und hetzt durch die offene Tür. „Dorina, warte! Ich hebe das auf.“
Mein Blick fällt sofort auf die alte Dame. Ich kenne sie nun schon beinahe zehn Jahre, doch sie hat sich unheimlich verändert. Sie steht, auf eine Krücke gestützt, neben dem großen Esstisch. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen und ihre Augen wirken müde und verbraucht. Sie sieht wirklich schlecht aus.
„Hanna, mein Kind, wie groß bist du geworden. Und eine richtige junge Dame. Und wie sehr du mich immer wieder an deinen Vater erinnerst.“
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich gelächelt, doch das war das Einzige, das ich nicht hören wollte. Meine Miene wird ernster.
„Hallo, Dorina. Es ist sehr schön, wieder hier zu sein.“ Ich versuche nun wieder zu lächeln, denn eigentlich freue ich mich ja tatsächlich, sie zu sehen.
Vorsichtig nehme ich sie in den Arm, denn sie macht einen schrecklich zerbrechlichen Eindruck.
„Ist Milan nicht zuhause?“
Dorina wendet ihren Blick von mir ab und wirkt mit einem Mal sehr abwesend.
Mama steht mit einem Eimer voller Scherben vom Boden auf und wirft mir einen ernsten Blick zu.
„Tu doch mal etwas sinnvolles, Johanna. Zum Beispiel könntest du deinen Koffer nach oben bringen. Er steht immer noch Flur.“
Ich verstehe nicht ganz, doch nicke nur und verlasse verwirrt den Raum.






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