Ozeanblau - Teil 3

Autor: OiLilly
veröffentlicht am: 06.12.2012


Ich lief lange am Meer entlang, nur um die Gedanken an meinen Vater zu vertreiben. Doch ich hatte nicht viel Erfolg. Meine Gedanken kreisten nur um meinen Vater, egal wie lange und wie schnell ich lief. Das Meer rauschte sanft und gleichmäßig und am Pier und am Strand spielten Kinder. Jungen fuhren mit Skateboards und BMX-Rädern und vereinzelte Mutige trauten sich bei dem hohen Wellengang mit ihren Surfbrettern hinaus.
Mir stand der Schweiß auf der Stirn und brannte mir in meinen Augen. Die Sonne schien schon ungewohnt heiß für Anfang Juni. Wie es wohl den ganzen Sommer über in Saybrook werden würde? Ich habe meine Semesterferien selten mit meiner Familie verbracht. Meistens blieb ich in New Haven, während Dad weiterhin in der Firma arbeitete und Mum allein nach Paris flog, um eine Freundin zu besuchen. Doch ich glaubte, dass sie ihn betrog hatte.
Ich lief schneller, um den Gedanken an eine mögliche Affäre zu vertreiben und als ich unter Atemnot zu leiden begann, blieb ich auf dem Steg des Piers stehen und beugte mich keuchend über das Geländer.
Das Meer unter mir schimmerte braungrün durch den aufgewirbelten Sand und die Wellen peitschten sanft gegen die Stützpfeiler. In der Luft lag ein Geruch nach Doughnuts und mein Magen begann zu knurren.
Ich hatte kein Zeitgefühl mehr und wusste auch nicht wie spät es war und doch war ich mir sicher, dass ich schon seit einer Stunde unterwegs sein musste. Vielleicht waren Mum und Annie mittlerweile auch schon wach. Aber ich musste zugeben, dass ich keine Lust auf die beiden hatte.
Ich wollte mich nicht mit Mum auseinandersetzen, welche langsam aber sicher verrückt wurde und nur noch Unterlagen, Briefe, Rechnungen sortierte und die Beerdigung organisierte. Ich wollte mich auch nicht mit Annie auseinandersetzen, welche gespielt fröhlich tat und versuchte mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
Ich seufzte leise, stieß mich vom Geländer ab und schaute hinaus auf das Meer. Der Horizont des Meeres, der beinahe mit dem Blau des Himmels verschmolz. Die Augen meines Vaters hatten dieselbe Farbe wie das Meer – ein dunkles Blaugrau.
Ich schüttelte energisch mit dem Kopf, als könnte ich durch diese Bewegung die Gedanken an ihn vertreiben. Doch es nützte alles nicht.
Ich seufzte erneut, machte kehrt und joggte zurück zum Damm. Mein Atem rasselte und ich bereute, dass ich immer mal wieder rauchte. Ich lief weiter bis zu den Stufen, die vom Pier hinunter und zum Strand führten.
Ohne nachzudenken zog ich meine Schuhe und die Sportsöckchen aus und hüpfte die Stufen hinunter. Bauch-Beine-Po-Training, dachte ich im Stillen bei mir.
Der Sand fühlte sich kühl und feucht unter meinen Fußsohlen und zwischen den Zehen an. Eine zerbrochene Muschel stach mir in die Ferse.
Das salzige Wasser umspielte meine Knöchel, während ich Muster mit meinem Fuß in den Sand malte, die sofort wieder von den herankommenden Wellen weggespült wurden.
Die Sonne blendete und ich musste mit der Hand meine Augen abschirmen, um etwas sehen zu können.
Nur wenige Menschen waren um diese Uhrzeit schon am Strand: Ein älterer Mann spielte Frisbee mit seinem Hund. Eine Mutter baute Sandburgen mit ihren zwei Söhnen und zwei blonde Mädchen, welche aussahen, als würden sie hier leben, bräunten sich schon in der Sonne. Und ich gab zu, dass ich neidisch auf ihre Bräune war.
Ich wandte den Blick ab und schlenderte weiter am Strand entlang, um meine Atmung wieder zu beruhigen, als mein Blick auf drei Jungs, die gerade mit ihren Surfbrettern den Strand hinunter kamen, hängen blieb.
Als die beiden blonden Mädchen sie entdeckten, begannen sie zu kreischen und zu winken – anscheinend kannten sie sich. Und die Jungs winkten zurück.
Ich war zu weit weg, um irgendetwas erkennen zu können und doch wünschte ich mich nach New Haven zu meinen Freunden zurück.
Ich beobachtete die fünf Freunde noch unbewusst eine Weile, während ich weiterlief, als einer von ihnen aufsah.
Seine dunklen Haare wehten sanft im Wind und er sah mich direkt an. Sah, wie ich aus meinen Gedanken aufschreckte und ihn erschrocken anblickte. Sah, dass ich zusammenzuckte.
Ich blieb stehen und konnte seinen Blick nicht deuten. Ich wollte ihn auch nicht deuten. Bestimmt hielt er mich für eine Verrückte, die Fremde am Strand beobachtete. Bei diesem Gedanken hätte ich beinahe schmunzeln müssen.
Ich blieb stehen, zog meine Schuhe wieder an und verließ Willard Bay joggend, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Als ich die Tür zu Annies Haus aufstieß, stieg mir sofort der Duft nach Eiern, Toast und Cornflakes in die Nase. Keine angenehme Mischung. Aus der Küche kam Stimmengewirr, das nicht nur auf Annie und Mum schließen ließ.
Ich zog meine Laufschuhe aus, wobei Sand auf den Boden rieselte. Mit dem Handrücken fuhr ich mir über meine schweißnasse Stirn und warf einen Blick in den Spiegel. Egal, wer alles in der Küche war, ich würde keinen guten Eindruck machen können. Trotzdem versuchte ich meine Locken mit den Händen zu glätten, was mir misslang. Also gab ich auf und ging in die Küche.
Mum sah ich als erstes. Sie lief durch die Küche; in der einen Hand das Handy, in der anderen irgendwelche Papiere.
Annie stand am Herd und schaute besorgt, während sie mit meinen Großeltern redete. Anscheinend waren sie während meiner Abwesenheit gekommen. Sie wohnten direkt im Zentrum von Old Saybrook, ganz in der Nähe des Saybrook Acres. Grandma diskutierte mit meinem Grandpa – wie immer hitzig und laut, während Mum genervt ins Telefon stöhnte.
Ich musste gar nicht verstehen, was sie sagten, ich wusste auch so, dass es um den Bestattungsort von Dad ging; um die Bestattungsart; um das Erbe; um die Firma und wer sie übernehmen sollte. Ich hatte keine Ahnung von unseren Finanzen. Ich hatte keine Ahnung von Dads Firma. Mum redete ungern über so was und Dad hatte immer ein Geheimnis daraus gemacht.
Annie bemerkte mich als Erste. Überrascht blickte sie auf und lächelte sogleich gequält. „Amelia, da bist du ja! Hast du Hunger?“
Bevor ich auf ihre Frage antworten konnte, fragte Mum: „Wo hast du gesteckt?“ Sie hielt das Telefon von sich und drückte die Handfläche gegen den Hörer.
„Ich war joggen“ murmelte ich leise und schloss die Küchentür hinter mir. Dann blickte ich zu Annie und nickte: „Ich mach’ mir gleich selbst was. Danke“
„Hallo Amelia. Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen“ bemerkte Grandpa trocken, stand auf und reichte mir förmlich die Hand.
Ich kannte meine Großeltern kaum. Mum hatte den Kontakt zu ihnen vermieden – Dorftrottel, wie sie sie liebevoll nannte. Und Dad – nun ja, ihm ging die Firma teilweise über alles.
Ich drückte kurz Grandpas Hand und ließ die unterkühlte Umarmung meiner Grandma über mich ergehen.
„Es ist eine Schande, was passiert ist“ sagte sie leise und setzte sich wieder. Vor ihr stand ein Teller mit Toast, welcher nicht angerührt wurde.
Ich wollte gerade nicken, als Mum wieder das Telefon von ihrem Ohre wegnahm und schrill fragte: „Eine Schande?! Du nennst das wirklich eine Schande?! Ich nenne das tragisch!“
Ich drehte mich über die Schulter zu ihr um und rief vorwurfsvoll: „Mum!“ Doch niemand hörte auf mich.
„Es ist tragisch, wenn jemand bei einem Unfall stirbt. Eine Schande ist es, wenn sich jemand selbst das Leben nimmt. Das ist eine Sünde!“ Grandma sprang auf und war fast auf Augenhöhe mit Mum.
Und zum ersten Mal war ausgesprochen, wie Dad gestorben war. Zum ersten Mal nannte jemand das Kind beim Namen. Zum ersten Mal wurde ich direkt damit konfrontiert.
Lange wurde nur geschwiegen.
„Warum isst denn niemand?“ fragte Annie, wie immer gespielt fröhlich und klatschte in die Hände.
„Es ist wohl kein guter Zeitpunkt für großen Appetit“ antwortete Grandpa, stand auf, nahm Annie die Pfanne aus der Hand und warf das Spiegelei in den Müll. „Du musst uns nicht bedienen“
Ich sah, wie Annie schluckte, während Mum und Grandma sich immer noch schweigend anstarrten.
„Wir sollten uns auf das Wesentliche beschränken. Und das sind nun mal die Finanzen, die Beerdigung und andere organisatorische Dinge“ erklärte mein Grandpa praktisch und ich wusste, dass er nur versuchte zu vermitteln, denn eigentlich konnte auch er Mum nicht ausstehen.
„Dann haltet euch auch daran!“ zischte Mum, sammelte alle Unterlagen zusammen und stürmte aus der Küche.
Ich starrte ihr lange hinterher und sah aus dem Augenwinkel, wie Annie das Gesicht in den Händen vergrub und Grandma sich wieder setzte.
„Sie sollte nicht vergessen, dass wir seine Familie sind - waren!“ murmelte sie und Grandpa legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Und ich fühlte mich, wie ein Puzzlestück, das nirgends dazugehörte. Meine Mum war mir ebenso fremd, wie Dads Familie in Saybrook.
Ich stand noch eine Weile in der Küche herum, bis ich schließlich hervorbrachte: „Gebt ihr noch ein wenig Zeit, dann wird sie mit euch reden können und ihr werdet Entscheidungen alle gemeinsam treffen können“
Meine Großeltern und auch Annie schauten auf und betrachteten mich eine Weile, bis Grandma sagte: „Du siehst ihm sehr ähnlich, Amelia!“ Sie beobachtete mich weiterhin, als sie plötzlich aufsprang und wie Mum aus der Küche stürmte. Ich hörte nur noch wie sie schluchzte: „Das ertrag’ ich nicht!“






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