Ozeanblau - Teil 2

Autor: OiLilly
veröffentlicht am: 21.05.2012


3 Tage später

Ich saß auf dem Beifahrersitz des Audis meiner Mutter, hatte die Füße auf das Armaturenbrett gelegt und lackierte mir die Fußnägel in einer Farbe, die dunkelblau sein sollte, aber eher schwarz aussah.
„Ich fine es nicht richtig, ihn in Old Seybrook zu beerdigen“ Mum nahm das Handy in die andere Hand und der Wagen fing gefährlich an zu schlingern, sodass ich versucht war, ihr ins Lenkrad zu greifen. „Nein, es ist mir egal, ob das sein Geburtsort ist!“
Ich warf meiner Mutter einen misstrauischen Blick zu und wieder entstand dieser grausame Kloß in meinem Hals. Ich schluckte mehrmals, packte den Nagellack in meine Tasche und nahm meiner Mutter ohne Vorwarnung das Handy aus der Hand: „Tante Annie?“ fragte ich und ignorierte den empörten Blick meiner Mutter. „Mum muss fahren. Vielleicht solltet ihr die Beerdingungsangelegenheiten klären, wenn wir in Old Saybrook sind“
„Oh, Amelia. Das mit deinem Dad tut mir Leid. Es muss sehr hart für dich sein – na ja… es ist für uns alle sehr hart. Ihr könnt natürlich so lange bleiben wie ihr wollt!“ begann Annie zu quatschen und ich hörte ihrer Stimme an, dass sie viel geweint haben muss.
„Das weiß ich. Danke. Und wegen der Beerdigung…“
„Ja, du hast Recht. Das klären wir, wenn ihr angekommen seid“
„Danke. Mum sollte sich lieber auf’s Fahren konzentrieren“
„Das ist besser. Was macht dein Studium… Ich meine, Yale ist…“
Ich spürte, dass der Kloß in meinem Hals immer größer wurde und dass ich bald kein Wort mehr hervorbringen könnte. „Annie, ein Tunnel!“ rief ich deswegen hilflos aus, legte auf und warf das Telefon auf das Armaturenbrett.
Ich winkelte die Beine an und legte meine Wange auf meine Knie, sodass ich meine Mutter ansehen konnte.
„Warum hast du das getan?“
„Warum habe ich was getan?“ hakte ich nach und zog die Brauen zusammen.
„Na, mir mein Handy weggenommen und dann Annie weggedrückt?“ Mit zitternden Händen fuhr sich meine Mutter durch ihr feines, blondes Haar, das normalerweise immer top gestylt war, ihr jetzt aber in fettigen Strähnen herunterhing. Ihr Teint war fahl und ihre Lippen blutleer. Ich habe meine Mutter noch nie so am Ende gesehen.
„Du solltest fahren, nicht telefonieren“ bemerkte ich leise und griff zaghaft nach ihrer Hand auf dem Schaltknüppel. Als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, zuckte sie zusammen und zog ihre Hand weg.
„Ich weiß nicht, wie…“ setzte sie an, doch sie brach gleich wieder ab und schüttelte nur mit dem Kopf.
„Ja?“
„Ach, vergiss es, Amelia. Was erzähl’ ich dir so was überhaupt“
„Ich bin deine Tochter…“ meinte ich leise, doch sie schüttelte nur mit dem Kopf und wurde wieder die reservierte Frau, die ich kannte.
Dad war der Emotionalere, der Sensiblere von beiden und um ehrlich zu sein, war mein Verhältnis zu ihm immer besser gewesen, als das zu meiner Mutter. Doch nun war er einfach weg – und ich konnte es noch nicht wirklich glauben.
Ich wandte mich von meiner Mutter ab und starrte aus dem Fenster; wie die Landschaft an uns vorbeizog und nur Bilder der Erinnerungen blieben.
Sollte das bei Dad jetzt ähnlich werden? Sollte auch er irgendwann nur noch ein Bildnis der Erinnerung sein?
Ich biss mir auf die Lippe, bis es schmerzte, in der Hoffnung, dass es den inneren Schmerz vertreiben möge. Doch auch als ich Blut schmeckte, fühlte sich meine Brust an, als hätte man einen Strick darum geschnürt und ich konnte die ersten Tränen nicht mehr zurückhalten.
Von der Seite bemerkte ich den Blick meiner Mutter und kurz wirkte es so, als würde sie mir über die Wange streichen wollen, doch sie ließ den Arm auf halber Strecke wieder sinken und sagte nur: „Es ist eine harte Zeit; für uns alle“
Und ich nickte nur und sagte: „Ich weiß“, ohne sie dabei anzusehen.

Ich öffnete die Augen, als der Wagen zum Stehen kam.
Die Sonne schien blendend heiß durch die Fenster in das Auto und ich musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können. Trotzdem erkannte ich das Haus von Tante Annie sofort. Ich war schon immer erstaunt darüber gewesen, wie sehr sich dieses Haus zu unserem in Oakville unterscheidet.
Tante Annie wohnte am Rande von Old Saybrook und das Haus erinnerte eher an ein kleines englisches Cottage. Die Wände und der kleine, verschnörkelte Eisenzaun waren mit Efeu bewachsen und ließen das Haus beinahe ein wenig versteckt wirkten. Und wenn man ganz leise war, konnte man den Bach plätschern hören, der an den Garten angrenzte.
„Wir sind da“ sagte meine Mutter und schnallte sich ab. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg sie aus und knallte die Tür hinter sich zu.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch sitzen blieb, ihr hinterher starrte und sah, wie sie erst ihre Koffer und dann die Kisten mit Dads Sachen auspackte. Erst das Klopfen an der Scheibe und ihr gereiztes „Du kannst auch helfen!“, rissen mich aus meinen Gedanken.
Ich kroch wieder in meine schwarzen Converse und stieg aus.
In Saybrook war es viel wärmer, als in Oakville und trotzdem fröstelte ich.
Ich ging um das Auto herum und hievte meinen einzigen Koffer aus dem Kofferraum, als Tante Annie aus dem Haus kam. Für eine Frau war sie sehr groß: sie war immer fast so groß wie Dad gewesen, doch die Trauer schien sie einige Zentimeter kleiner gemacht zu haben.
„Es ist kein schöner Anlass, dass wir uns wieder sehen. Ella, lass dich drücken“ Annie drückte meine Mutter an sich und weil sie meine Mutter war, fiel es ihr schwer, diese Umarmung zu erwidern.
Mit einem lauten Knall schlug ich den Kofferraum zu und zog meinen Koffer über den Kiesboden und genoss die Umarmung von Annie. Ich weiß nicht, wann mich meine Mutter das letzte Mal so gedrückt hatte.
„Aber jetzt kommt doch bitte erst einmal rein. Ich habe eure Zimmer schon bezugsfertig gemacht“ erklärte sie, scheuchte Bobby, ihren Hund, wieder in den Garten und ging vorweg ins Haus.
„Danke, Annie“ brachte meine Mutter schließlich hervor. Es klang nicht besonders höflich, aber es war das Höchstmaß an Freundlichkeit, das sie Dads Familie je entgegenbringen konnte.
Annie lief in die Küche und setzte den Teekessel auf und Mum und ich folgten ihr unsicher. Wir haben Tante Annie selten besucht; zwar hatte sie immer ein gutes Verhältnis zu meinem Vater gehabt, doch er war viel beschäftigt mit seiner Firma und hatte deswegen für seine Familie in Old Saybrook nur wenig Zeit. Auch für Mum und mich hatte er nie viel Aufmerksamkeit übrig. Meine Mutter hatte das nie besonders gestört – mich allerdings schon.
„Wollt ihr auch eine Tasse Tee?“ fragte Annie und drehte sich über die Schulter zu uns um.
„Ja, gerne“ antwortete ich leise und setzte mich auf die Eckback, die schon dastand, als ich noch ein kleines Mädchen war.
Mum schüttelte mit dem Kopf: „Nein, danke. Ich hätte lieber einen Rotwein“
Annie zögerte kurz, kratzte sich am Kopf und zuckte mit den Schultern: „Ich habe leider keinen Rotwein. Nur ein wenig Sekt vom letzten Silvester“
„Das geht auch“ bemerkte Mum trocken nahm ihre Brille von der Nase, welche sie nur beim Auto fahren trug.
„Dann gehe ich schnell runter in den Keller und hole den Sekt hoch“ Annie trocknete sich die Hände ab und verließ dann die Küche. Mum und ich blieben schweigend zurück.
Kurz trafen sich unsere Blicke und ihre Mundwinkel zuckten. Ich dachte schon, sie wolle mir zulächeln. Doch bevor das geschehen konnte, wandte sie den Kopf mit einem lauten Schniefen ab, verließ die Küche und kam nur wenige Sekunden später mit der riesigen Umzugskiste, in der Dads Sachen waren wieder. „Wir müssen viel planen, Amelia!“ Sie stellte die Kiste auf dem Esstisch ab und klappte den Deckel auf.
„Willst du damit nicht warten, bis Dads Familie da ist?“ fragte ich leise.
„Ich werde wahrscheinlich schon zulassen müssen, dass sie ihn hier beerdigen. Alles andere kann ja wohl ich entscheiden“ erwiderte sie schnippisch. „Ich muss die Firmenunterlagen durchgehen. Ich muss die Beerdigung organisieren. Dein Dad muss… eingeflogen werden. Ich muss…“ Ihre restlichen Worte wurden vom Pfeifen des Teekessels unterbrochen.
Hastig stand ich auf, schaltete den Herd aus und goss das heiße Wasser in die beiden Tassen, die Annie hingestellt hatte.
„Mum, ich finde…“
Ich wurde unterbrochen.
„Ich habe den Sekt gefunden. Er ist nicht ganz kühl, aber es sollte reichen“ verkündete Annie gespielt fröhlich und ich wusste, dass sie versuchte stark zu bleiben, wenn meine Mutter und ich es schon nicht konnten.
„Danke“ antwortete Mum, nahm Annie die Flasche aus der Hand und ließ den Korken knallen. Und ohne, dass sie um ein Glas bat, trank sie aus der Flasche. Meine Mutter war am Ende.
Kurz schaute Annie verdutzt drein, doch dann zeigte sie auf den Karton: „Was sind das für Sachen?“
„Das sind Charles Sachen. Ich muss ein paar Dinge klären – jetzt, wo er…“ Meine Mutter bricht ab und setzt die Flasche erneut an.
Annie zögerte und tappte unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und nickte nur. Ich sah ihr an ihrem Blick an, dass sie sich unwohl fühlte. Fast jeder fühlte sich in Mums Gegenwart unbehaglich. Ich leerte die Tasse Tee und verbrannte mir die Zunge. Doch ich musste aus dieser Küche raus. Ich hielt es nicht aus.
Ich packte meinen Koffer, hob ihn mit einem Stöhnen hoch und sagte: „Annie, ich würde gerne mein Zimmer beziehen… Kannst du… kannst du es mir zeigen?“
„Aber sicher, Schätzchen“ Annie stellte ihre Tasse weg und nickte meiner Mutter kurz zu, welche sich schon wieder irgendwelchen Unterlagen gewidmet hatte, die Dad gehört hatten. Alles andere schien sie nicht zu interessieren.






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