Charline Müller - Teil 6

Autor: Wibke
veröffentlicht am: 10.05.2012


Hey,

vielen dank für die lieben Kommentare. Sie spornen mich echt an weiter zu schreiben :)

Liebe Grüße
Wibke





Leo zögerte. Unsicher hob er den Kopf und sah mich an. In seinen Au-gen sah ich meine Angst wiedergespiegelt. Ich nickte ihm aufmunternd zu, er zögerte noch einen Moment und sah, wie er einmal tief durchatmete. Nun bückte er sich erneut herab und streckte die Hand nach dem "Müllsack" aus. Diesmal bewegte er sich von Anfang an nicht. Nun konnte Leo hineinschauen. Er wurde plötzlich ziemlich blass und schwankte leicht, aber er blieb, wo er war und winkte mich heran. Mutig überbrückte ich die letzten Meter, die mich noch von der "Mülltü-te" trennten. Nun stand ich neben Leo. Plötzlich spürte ich seine warme, leicht raue Hand in meiner, was mich ungemein beruhigte. Ich nahm all mein bisschen Mut zusammen und schaute nun auch in die "Mülltüte". Was ich sah nahm mir im ersten Moment den Atem, ich merkte, wie mir mein Herz in die Hose rutschte. So geschockt, wie jetzt, war ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Dagegen war die Nachricht auf dem Anrufbeantworter von gestern Nachmittag nichts. Da hatte ich völlig überreagiert, wie ich jetzt merkte. Doch diesmal hatte ich mich erstaunlich schnell wieder im Griff. Zwar war ich noch ziemlich unsicher und wusste nicht recht, ob ich meinem Gleichgewicht trauen konnte, aber diesmal brach ich nicht gleich wieder in Tränen aus. Ich merkte, wie Leos Hand sich immer fester um meine schloss. Vorsichtig löste ich meine Hand aus seiner, auch wenn ungern, da ich seine Wärme beruhigend fand, aber zum Einen hatte ich ernsthafte Angst, um die Gesundheit meiner Hand und zum Anderen hatten wir ein kleines Problem und das lag vor uns auf der Straße: ein Junge etwa in meinem Alter, vielleicht etwas älter. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel Blut gesehen. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass es sich tatsächlich um einen Jungen handelte und nicht um irgendein abgeschlachtetes Tier. In dem Moment in dem mir wirklich klar war, dass es ein Mensch und wie es schien schwer verletzt war, konnte ich nicht mehr klar denken und ließ mich einfach auf die Knie fallen und versuchte verzweifelt herauszubekommen, ob er noch lebte. Zum Glück hatte ich vor einigen Jahren mal einen Erste Hilfe Kurs besucht, den ich für mein Schwimmabzeichen brauchte. Jetzt konnte ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben auch anwenden, obwohl ich mir immer gewünscht hatte, diesen Kurs nie zu brauchen. Schnell war klar, dass der Junge zwar noch lebte, aber nicht bei Bewusstsein war. So sagte ich Leo, der immer noch wie versteinert an derselben Stelle stand: "Ruf einen Notarzt, er muss dringend in ein Krankenhaus!". Aber genau in dem Moment, wo ich "Krankenhaus" sagte, kam der Junge zu Bewusstsein und sagte kaum hörbar: "Nicht in Krankenhaus!" Zwar hörte ich ihn kaum, aber irgendetwas in seiner Stimme ließ mich innehalten. Er schien irgendwie so, als ob er zu allem bereit wäre, um nicht ins Krankenhaus zu müssen. Ich überlegte, ob er vielleicht schlechte Erfahrung gemacht oder einfach Angst vor Krankenhäusern hatte. Vorsichtig beugte ich mich zu ihm hinunter und kauerte mich wieder neben ihn. Leise fragte ich ihn, was wir sonst mit ihm machen sollen. Darauf murmelte er nur: "Bring mich an einen sicheren Ort!" und verlor wieder das Bewusstsein.
Leo schaute mich verwirrt an:" Ich glaube wir sollten trotzdem den Krankenwagen rufen! Sonst überlebt er nicht!" Ich hatte dabei ein un-gutes Gefühl. Irgendwas hielt mich davon ab, Leo zuzustimmen. Also sagte ich zu Leo, dass er mir helfen soll ihn zu mir zu bringen. Mir war zwar klar, dass der Junge das vielleicht nicht überleben würde, aber trotzdem fühlte es sich richtig an. Leo schaute mich geschockt und fas-sungslos an, als ich aber anfing den Jungen aus der Mülltüte zu ziehen, kam er mir jedoch sofort zur Hilfe. Ich war sehr dankbar dafür, weil ich ihn niemals alleine bis zu unserer Wohnung hätte schleppen können. Aber Leo half mir und das rechnete ich ihm hoch an. Schließlich bat ich ihn darum, dass er mir half einen wildfremden, schwerverletzten Jungen zu mir nach Hause zu bringen. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass ihm das schon einmal passiert ist.
Wir brauchten fast eine halbe Stunde zu unserer Wohnung. Als wir end-lich da ankamen, war Lucy ganz aufgelöst. Schließlich hatte ich ihr ver-sprochen nach zwei Stunden wieder da zu sein, aber jetzt waren wir schon fast drei Stunden weg gewesen. Vor unserem Haus, sagte ich zu Leo, dass ich erst hochgehen möchte, bevor wir den Jungen hoch-bringen, damit ich Lucy darauf vorbereiten konnte. Leo hielt das für eine gute Idee. Also lief ich hoch und nahm die weinende Lucy in den Arm. Sie schluchzet: "Wo warst du so lange? Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Du hast gesagt, dass du nur zwei Stunden weg bist und dein Handy lag auch in deinem Zimmer!" Ich entschuldigte mich mehrfach bei ihr und sagte, dass wir jemand Verletztes auf der Straße gefunden haben und dass wir ihn ja nicht da liegen lassen konnten. Und dass er zu uns gesagt hat, dass wir ihn zu mir bringen sollen und dass er auf keinen Fall ins Krankenhaus konnte. Natürlich wollte Lucy sofort zu ihm, aber ich überredete sie dazu, dass ich ihm erst mal das schlimmste Blut abwaschen wollte. Nach einigem Betteln ihrerseits, bekam ich sie doch noch so weit. Leo und ich trugen den Jungen gleich bei uns in mein Zimmer. Dort hatte ich ein großes, altes Handtuch auf mein Bett gelegt. Als der Junge sicher auf meinem Bett lag, holte ich eine Schüssel mit warmem Wasser und einige Waschlappen. Gemeinsam mit Leo machte ich mich daran, dem Jungen vorsichtig das Blut abzuwaschen. Schnell wurde klar, dass die Wunden nicht ganz so schlimm waren, wie sie erst aussahen, aber trotzdem sah er nicht gut aus. Besonders schlimm schien die Wunde an seinem Kopf. Dort hatte ihn wohl ein harter Gegenstand getroffen. Seine Stirn war von einer hässlichen Wunde zerteilt worden. Sein Auge war jetzt schon stark zugeschwollen und begann eine bläuliche Färbung anzunehmen. Seine Nase saß ungewöhnlich schief. Ich befürchtete, dass sie gebrochen war. Am liebsten hätte ich doch noch den Notarzt gerufen, da ich wirklich Angst um das Leben des Fremden hatte. Aber ich hatte immer noch seinen flehenden Blick vor Augen, als er mich bat, ihn nicht in das Krankenhaus zu bringen. Ich weiß zwar immer noch nicht, was genau es war, was ich in dem Moment in seinen Augen gesehen hatte, aber es hatte mich sofort überzeugt.
Als ich jetzt das erste Mal seit langem zu Leo schaute, merkte ich, dass er plötzlich auch ganz schön blass schien und so aussah, als ob auch er blad einen Krankenwagen brauchen könnte. Besorgt fragte ich ihn: „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst auf einmal so blass aus!“ Da antwor-tete er nur, dass er es nicht gewohnt sei Blut zu sehen und dies wohl nicht so gut verträgt. Ich bot ihm etwas zu trinken an, was er dankend annahm. Ich lief in die Küche, um ein Glas mit Wasser zu holen. Auf dem Weg wieder in mein Zimmer, stand Lucy auf einmal wieder vor mir und verlangte jetzt endlich den Verletzten sehen zu dürfen. Widerwillig gab ich nach und führte sie in mein Zimmer. Ich gab Leo das Glas und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl, da Leo mein Sofa in Beschlag genommen hatte und mein Bett ja auch besetzt war.
„Was ist mit ihm passiert?“, fragte Lucy leise. Ich zuckte zusammen. Es war nicht das erste Mal, dass ich heute die Anwesenheit von Lucy ver-gessen hatte. Im Moment gab es einfach so viele Probleme, dass ich einfach nicht mehr an alles denken konnte. Immer wenn ich dachte, dass ich jetzt endlich wieder alles im Griff hatte, wurde wieder alles auf den Kopf gestellt. Es war zum Verzweifeln, aber das durfte ich auf keinen Fall Lucy zeigen, weil ich für sie immer die große, starke Schwester war, die alles wieder gut machte. „Wir wissen es selbst nicht genau. Aber wenn er aufwacht, wird er es uns bestimmt erzählen. Wir haben ihn so auf der Straße gefunden“, antwortete Leo. „Und warum habt ihr ihn nicht ins Krankenhaus gebracht?“ – „Er wollet nicht ins Krankenhaus“, antwortete ich schnell, bevor Leo Lucy irgendetwas anderes erzählen konnte. Ich wusste, dass Lucy sich vorerst damit zufrieden geben würde, auch wenn sie dann wohl später wiederkommen würde, wenn ihr eingefallen war, dass sie, als sie sich mal den Arm gebrochen hatte auch nicht ins Krankenhaus wollte, ich sie aber trotzdem hin gebracht hatte. Aber daran wollte ich jetzt lieber noch nicht denken. Wichtiger war, dass jetzt alles gut funktionierte. Wichtig war auch, dass sich Lucy so weit beruhigte, dass sie möglichst bald essen und dann ins Bett ge-hen würde. Ich fragte Leo, der jetzt allmählich wieder etwas besser aussah, ob er mit uns essen wollte. Er dankte höflich und sagte, dass er zu Hause bestimmt schon erwartet werden würde. So verabschiedete er sich von Lucy und ich begleitete ihn noch zu Tür. Dort versprach er mir, dass er morgen wiederkommen würde. Einerseits freute ich mich darüber, aber andererseits wollte ich ihm nicht allzu viele Umstände machen. Daher versicherte ich ihm, dass er immer willkommen war, aber dass er sich nicht zu viele Sorgen machen soll und dass ich das al-les schon wieder auf die Reihe bekommen würde.
Ich schaffte es tatsächlich Lucy dazu zu bringen, etwas zu essen und später ins Bett zu gehen. Als sie endlich im Bett lag, setzte ich mich das erste Mal an diesem Tag entspannt hin und versuchte einfach abzu-schalten. Ich machte es mir auf meinem Sofa so bequem, wie möglich, da mein Bett ja immer noch belegt war. Ich lag noch lange wach und grübelte über den Fremden, der zwar in meinem Bett lag und dem ich das Leben gerettet hatte - zumindest bis hier her am Leben gehalten hatte – aber trotzdem kannte ich ihn überhaupt nicht. Ich wusste gar nichts über ihn, nur dass er von irgendjemanden fast umgebracht wurde und dass er unter keinen Umständen in ein Krankenhaus wollte. Über diesen Gedanken muss ich letzten Endes doch eingeschlafen sein. Ich war völlig erschöpft. Es war ein langer Tag gewesen. Ich war sehr froh, als ich endlich in einen erholsamen, traumlosen Schlaf fiel.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich im ersten Moment nicht, wo ich war. Zwar roch alles vertraut, aber ich lag nicht in meinem Bett. Doch schnell fiel mir alles wieder ein. Gestern hatten wir diesen Jungen gefunden. Ich stand auf und lief schnell ins Bad, um mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Danach war ich schon wa-cher. Nun wollte ich nach dem Jungen schauen. Ich erschrak als ich ihn sah. Sein rechtes Auge war jetzt ganz zugeschwollen und nicht mehr blau sondern eine Mischung aus gelb und grün. Es sah sehr schmerzhaft aus. Und auch seine Lippen waren jetzt stark angeschwollen. Er hatte sie leicht geöffnet, da er wohl keine Luft mehr durch seine Nase bekam. Als ich vorsichtig seine Stirn fühlte, stellte ich fest, dass er wohl auch noch Fieber bekommen hatte. Mir fiel ein, dass er, seit Leo und ich ihn nicht gefunden hatten, nichts getrunken hatte. Schnell lief ich in die Küche und holte ein Glas mit Wasser. Vorsichtig flößte ich dem Fremden das Wasser ein. Es dauerte zwar lange und war sehr mühsam, aber sonst würde er in ein spätestens zwei Tagen verdursten. Ich fand es schon schlimm genug, dass er die Zeit nichts essen konnte, aber dass er auch nichts trank, das konnte ich nicht verantworten. Nachdem ich ihn zu einigen Schlucken gezwungen hatte, ging ich wieder in die Küche, um das Frühstück für Lucy und mich vorzubereiten. Ich machte Pfannkuchen, weil ich wusste, dass Lucy sie so gerne aß. Es war auch eine Entschuldigung dafür, dass ich sie gestern so habe warten lassen. Lucy war zwar nicht nachtragend, aber es tat mir wirklich leid.






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