The Life Shot - Teil 9

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 22.05.2012


& Noch einmal herzlichen Dank für eure lieben Kommentare! :))
Bin gespannt, was ihr von diesem Teil haltet... ;)
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|Acht|
- Lächeln

Nik führt mich zu einem kleinen Restaurant an der Hauptstraße, außerhalb von St. Michaelis.
„Darf ich vorstellen? »Sourire« - mein persönlicher Lieblingsort“, verkündet er mit einem Hauch von Stolz.
Ich hebe wenig beeindruckt die Augenbrauen.
Das Restaurant, welches sich gegenüber von uns auf der anderen Straßenseite befindet, sieht heruntergekommen und alt aus. Die grauen Wände wurden mit Graffiti besprüht, der Mülleimer neben der Eingangstür quillt über vor Abfall.
Ich lasse mir den Namen der Gaststätte noch einmal durch den Kopf gehen. Sourire. Wenn ich mich nicht allzu sehr täusche und ich meinen französischen Kenntnissen trauen darf - was eigentlich weniger der Fall ist - dann heißt »sourire« übersetzt: Lächeln.
Ich ziehe die Mundwinkel hinunter.
Es gestaltet sich als schwierig über die vollbefahrene Straße hinüber zu kommen, zumal es außer einem verbleichten Zebrastreifen keine Fußgängerüberquerungszone gibt.
„Wie gut, dass sich der Parkplatz des Restaurants auf der anderen Seite befindet“, meine ich sarkastisch und hebe eine Augenbraue.
„Nur nicht den Mut verlieren“, erwidert Nik mit einem kleinen Lächeln. Er scheint irgendwie aufgekratzt zu sein. „Es ist immer wieder ein kleines Abenteuer diese Straße zu überqueren“
Er tritt näher zu mir heran und legt eine Hand um meine Taille. Als er mich fester zu sich zieht, schaue ich den Blondschopf empört an.
Ein bissiger Kommentar liegt mir schon auf der Zunge, doch dieser wird schnell von meinem erschrockenen Aufschrei verschluckt. Schnurstracks geht Nik auf den Zebrastreifen zu, hebt einen Arm, um scheinbar die Autofahrer zum Stoppen zu animieren, welche grimmig in die Hupe drücken, und schleift mich mit.
Ich rechne damit, dass mein letztes Stündlein geschlagen hat. Doch ehe ich mich versehe, befinden wir uns schon auf der anderen Straßenseite.
Erleichtert stoße ich meine angehaltene Luft aus.
„War doch gar nicht so schlimm“, meint Nik mit einem gehässigen Lächeln und lässt mich los.
Ich schnaube verächtlich, erwidere jedoch nichts.
Als wir das kleine Restaurant betreten, ertönt eine fröhliche Stimme, die von der Bar stammt, welche sich im Zentrum der Gaststätte befindet.
„Nikki, mein Süßer!“
Eine Frau, die etwa doppelt so alt ist wie wir, sticht mir ins Auge. Sie breitet die Arme zu einer Begrüßung aus und umarmt den ebenfalls grinsenden Blondschopf.
„Du siehst gut aus“, meint die dunkelhäutige Frau, als sie sich gelöst haben und zwinkert. „Wie immer“
Nik lacht. „Danke, Scarlett. Dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben“
„Charmeur!“, grinst die Frau, wobei sie eine Reihe weißer Zähne entblößt.
Ich bin ein wenig irritiert. Die Verbundenheit zwischen den beiden ist nicht zu übersehen.
Der Blick von Scarlett wandert zu mir und dunkelbraune Augen mustern mich. Ich werde leicht rot unter ihren abschätzenden Blicken. Doch dann lächelt die farbige Frau wieder und wendet sich an Nik.
„Reizende Dame, die du als Begleitung hast. Aber seit wenn nimmst du denn Gäste mit? Und dann auch noch weibliche!“ Scarlett scheint sichtlich verblüfft zu sein.
„Ich habe für uns nur einen netten Ort zum Plaudern gesucht“, entgegnet Nik schulterzuckend.
„Ah, ein Date“, stellt die Frau fest.
„Das ist kein Date!“, werfe ich schnell ein, um Missverständnisse zu vermeiden.
Scarlett schnalzt mit der Zunge. „Dann wird es noch eines werden“, erwidert sie und führt uns zu einem der wenigen Tische im Restaurant.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche auf der Sitzbank, auf der Nik und ich uns niederlassen, so viel Abstand zwischen uns zu bringen wie möglich.
Noah’s Bruder ist mir immer noch nicht Geheuer.
Als Scarlett verschwindet, lehnt sich Nik zurück und lässt seinen Blick auf mir ruhen. Ich drehe demonstrativ meinen Kopf weg und scheine mich urplötzlich für unseren Nachbarstisch zu interessieren, welcher nicht besetzt ist.
Als ich es nach ein paar Sekunden der Stille nicht mehr aushalte, drehe ich mich mit einem finsteren Blick zu Nik.
„Was?“, frage ich plump und ziehe die Augenbrauen zusammen.
Er lächelt belustigt.
„Warum schaust du mich die ganze Zeit so an?“, hake ich weiter nach.
„Wie schaue ich denn?“, fragt er scheinheilig und lehnt sich ein wenig zu mir.
Ich weiche instinktiv zurück. „Wie ein…Frosch mit Minderwertigkeitskomplexen“, meine ich und runzele über meine eigenen Worte die Stirn.
Nik lacht und hebt amüsiert eine Augenbraue hoch. „Ich frage mich nur gerade, was mein geliebter Bruder an dir findet“, sagt er, lehnt sich nach vorne und stützt sich mit einem Ellenbogen am Tisch ab. Seine Wange ruht in seiner Hand, er lässt seinen Blick musternd über mein Gesicht huschen.
Ich schnaube und versuche mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
„Als ob Noah mich mögen würde“, erwidere ich eingeschnappt.
„Natürlich mag er dich. Ich bin mir sogar sicher, dass er etwas für dich empfindet“, entgegnet Nik. „Was ziemlich erstaunlich ist. Eigentlich ist er vielmehr der Typ, der sich eine Frau für eine Nacht sucht, und sie am nächsten Tag wie Dreck behandelt“
„Das glaube ich dir nicht“, rutscht es mir heraus.
Nik lächelt wissend. „Du willst es nur nicht wahrhaben“
Ich schüttele den Kopf.
Noah wirkt auf mich nicht wie ein Bad Boy, der die Frauen für sich ausnutzt. Ehrlich gesagt, scheint er ziemlich freundlich und auch fürsorglich zu sein - mal von seinen Launen abgesehen.
Ich gebe zu, dass ich Noah am Anfang wirklich pervers fand und seine spöttischen Kommentare mich nicht unbedingt erheiterten. Aber er hat mir gezeigt, dass er auch anders sein kann. Sympathisch.
– Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder, dessen übermütiges Grinsen mich stets an einen lauernden Hai erinnert.
So wie jetzt.
„Warum sagst du mir das?“, frage ich herausfordernd. „Willst du, dass ich Abstand von ihm nehme, weil du deinem Bruder keine Freundschaft gönnst?“
„Interessant, wie du über mich denkst“, sagt er. In seinen braunen Augen kann ich es aufblitzen sehen. Seufzend lehnt er sich wieder zurück. „Eigentlich sollte das nur eine kleine Warnung sein“
„So wie die Warnung im Wald?“, bemerke ich spitz.
Nik kneift die Augen zusammen. Seine Coolness ist auf einmal verschwunden, stattdessen schaut er mich abwartend an. „Nun, wir kommen schneller auf das Thema zu, als ich gedacht hätte“
Ich schaue ihn nur stumm an und warte darauf, dass er weiter spricht. Dass er mir endlich Antworten auf Fragen gibt.
„Was willst du wissen?“
Endlich mal ein Satz, der mich zufrieden stimmt.
Ich mache es mir auf der Bank bequem und schaue den Blondschopf ernst an.
„Der Test“, beginne ich. „Was sollte das?“
„Ach ja, der Test“, Nik scheint wenig begeistert zu sein. „Es war klar, dass du das fünfte Element sein würdest, man hat nur darauf gewartet, dass unnatürliche Ereignisse passieren. Du trägst das Bolton-Blut in dir. Das Blut deiner Mutter“
Ich hebe eine Augenbraue.
„Aber ich war skeptisch“, fährt er fort. „Als ich dich im Wald gesehen habe, wollte ich wissen, ob Noah und die anderen drei Witzlinge dir schon von dem Elementkreis erzählt haben. Wenn ja, dann hättest du dich aufgrund deiner Fähigkeiten wehren können - trotz deiner körperlichen Schwäche. Eigentlich wärst du mir sogar überlegen gewesen, aber ich musste feststellen, dass du unwissend warst“
„Und deshalb hast du mich anschließend gewarnt“, stelle ich fest.
„Ich dachte mir, dass ein kleiner Denkstoß angebracht wäre“
„Der Test war also nur ein Mittel zum Zweck?“, frage ich ein wenig fassungslos.
Der Blondschopf nickt. „Ich wollte wissen, worüber du schon Bescheid weißt. Ob du den Elementkreis und deine Gabe kanntest. Ob du dich in Schottland womöglich schon damit auseinandergesetzt hast. Nachdem deine Eltern aus der Stadt gezogen sind, hat man nichts mehr von ihnen gehört“
„Wen dem so gewesen wäre, hättest du dich selbst in Gefahr gebracht, als du mich angegriffen hast“, sage ich stirnrunzelnd. „Das war leichtsinnig“
„Stimmt. Aber jemand wie du hätte mich bestimmt nicht umgebracht. Dafür hast du ein viel zu weiches Herz“
Ich bin mir unsicher, ob ich das als ein Kompliment werten darf. „Du urteilst ganz schön schnell“, bemerke ich.
Er zuckt mit den Schultern. „Lass uns ein Frage-Antwort-Spiel spielen“, meint er. „Ich stelle eine Frage, du antwortest. Dann bist du an der Reihe“
Ich presse die Lippen zusammen.
Hat er mir nicht noch im Wald gesagt, ich solle keine Fragen stellen? Und jetzt schlägt ausgerechnet er so ein Spiel vor?
„Natürlich zählt nur die Wahrheit“, fügt Nik hinzu.
Seufzend gebe ich nach.
Wann bekomme ich wohl das nächste Mal die Chance für solch eine Gelegenheit?
„Na gut“, sage ich und sofort stellt der Blondschopf seine erste Frage.
„Also, warum haben deine Eltern damals die Stadt verlassen?“, fragt er.
„Als meine Mutter zwanzig wurde, sind ihre Eltern gestorben. Sie wollte mit meinem Vater einen Neuanfang starten“
„In Schottland? Wer hat dir das denn erzählt?“
„Ich bin mit der Fragerei dran“, erinnere ich Nik. „Was weißt du über den Elementkreis?“
„Ein paar Sachen“
„Das ist doch keine Antwort!“, beschwere ich mich.
„Dann musst du eben präziser fragen“, meint der Blondschopf unwirsch. „Wer hat dir das mit dem »Neuanfang« erzählt?“
„Eine Person, die du nicht kennst“, erwidere ich trocken und antworte ebenso ungenau wie er.
Nik lacht.
„Besitzt du auch das Feuer-Element wie dein Bruder?“, frage ich.
Seine Miene wird ein wenig verschlossener. „Nein. Nur einer von uns konnte diese Gabe erben. Es war eine Fifty-Fifty–Chance“
Ich nicke verständnisvoll.
„Hat dein Vater dir von dem »Neuanfang« erzählt?“, hakt er wieder nach.
Ich stöhne. „Warum willst du das unbedingt wissen?“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, stellt er fest.
„Und das ist auch keine Antwort auf MEINE Frage“
Nik schaut mich lange an, scheinbar nachdenklich. Dann winkt er Scarlett zu sich.
„Zwei doppelte Whiskeys, bitte“, bestellt er.
Ich reiße die Augen auf, die dunkelhäutige Frau lächelt verschwörerisch.
Mit offenem Mund starre ich den Blondschopf an. „Es ist uns noch gar nicht erlaubt, so etwas zu trinken oder gar zu bestellen“, sage ich, als Scarlett sich entfernt hat.
Nik verdreht die Augen. „Ich bin Stammkunde. Das ist okay“
„Nein, ist es nicht“, zische ich. „Ich trinke keinen Alkohol. Vor allem nicht am helllichten Tag!“
„Beruhig dich, Sidney. Das ist doch nur, um uns ein wenig aufzulockern, denn wie ich sehe, kommen wir so nicht weiter“
Ich schnaube. „Du bist also Stammkunde, ja? Heißt das, dass du dich täglich besäufst?“
„Nein“
Ich versuche, mich zusammenzureißen. Scarlett kommt schneller mit den beiden kurzen Gläsern wieder, als ich gedacht hätte.
Misstrauisch beäuge ich die honigfarbene Flüssigkeit.
„Wolltest du mich nicht zum Essen einladen?“, frage ich grimmig.
„Planänderung“, erwidert Nik knapp und schiebt mir eines der Gläser zu. „Außerdem ist das Essen hier grottenschlecht“
Ich kneife die Augen zusammen. „Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich das trinken werde. Das Zeug ist widerlich!“, fahre ich mit meiner Standpauke fort.
Nik verdreht erneut die Augen und hebt sein Glas an. „Du bist so eine Spaßbremse, Sidney. Du wirst doch nicht sofort betrunken, nur weil du einen Schluck Whiskey trinkst“
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
Er beugt sich zu mir. „Und selbst wenn wir in ein paar Stunden betrunken sein sollten, ich bin mir sicher, dass du das Gefühl genießen wirst, für einen Moment all die Sorgen zu vergessen“
„Ist das der Grund, weshalb du sooft hierher kommst?“, frage ich verächtlich. „Um das Gefühl des Vergessens zu genießen?“
„Unter anderem. Ja“ Er schaut mich an. „Aber wie gesagt, ich besaufe mich nicht. Ich kenne meine Grenzen“
„Und was ist die Rolle von Scarlett in diesem Spiel?“, frage ich bissig.
Er lächelt. „Sie gibt mir mein Getränk, ich gebe ihr das Geld. Du brauchst mich gar nicht so grimmig anzuschauen und kannst dein kleines, anstößiges Kopfkino schnell wieder verbannen. Scarlett ist zu alt für mich, da läuft nichts. Wir sind nur Freunde“
Ich weiß nicht, wieso. Aber auf einmal habe ich das Gefühl, Nik etwas beweisen zu müssen. Spontan greife ich zu meinem Glas und verziehe das Gesicht, als die bräunliche Flüssigkeit meinen Hals hinunterfließt. Eine angenehme Wärme breitet sich in mir aus.
„Na, also“ Der Blondschopf scheint sichtlich zufrieden. Mit einem Ruck trinkt auch er sein Glas aus.
„Warum hasst ihr euch?“, frage ich geradehinaus. „Du und Noah, meine ich“
Nik beleckt seine Lippen. Von Überraschung ist in seinem Gesicht nichts zu Lesen. Er scheint die Frage erwartet zu haben.
„Eigentlich waren mein Bruder und ich mal ziemlich gut befreundet gewesen“, meint er und betrachtet die Kerze auf dem Tisch. „Aber, als wir von der Sache mit dem Feuer-Element erfuhren…da war es aus“
„Was ist passiert?“, hake ich weiter nach.
„Das Schicksal ist passiert“, erwidert er verbittert und winkt noch einmal Scarlett zu sich, um erneut zwei doppelte Whiskeys zu bestellen.
Ich lasse es stumm durchgehen.
„Noah wurde von dem Schicksal dazu auserwählt, das Erbe zu besitzen. Und ich durfte zusehen, wie er sich langsam von mir entfernte, sich immer weiter in den Gedanken vertiefte, besondere Fähigkeiten zu besitzen“
Ob ich es will oder nicht, eine Welle des Mitleides überschwemmt mich.
„Ich stand in seinem Schatten, spielte den Assistenten, während er hübschen Mädchen irgendwelche Zaubertricks vorführte. Sie durften natürlich nichts von seiner Gabe wissen und waren begeistert von ihm. Noah verlor sich in dem Strudel dieser Euphorie. Und er verlor mich“
Ich schlucke hart und auf einmal macht sich Erkenntnis in mir breit.
Nik musste seinen besten Freund aufgeben. Wegen etwas Surrealem.
Er hatte einen Stützpunkt verloren, einen Vertrauten und das nur, weil sein Bruder von dem Gedanken an Feuer fasziniert war. Noah hatte sich nicht mehr um Nik gekümmert, ließ ihn links liegen, obwohl die beiden so viel verband.
Und das nahm Nik ihm übel.
Verständlich.
„Warum hast du denn nicht versucht mit ihm zu reden?“, frage ich.
„Das habe ich“, erwidert er kalt. „Jeden Tag“
Als Scarlett mit den beiden kurzen Gläsern kommt, schluckt Nik die braune Flüssigkeit sofort hinunter. Dann wendet er sich wieder mir zu.
„Er hat gedacht, ich wäre neidisch. Alle dachten das. Sie mochten mich nicht, weil ich der grimmige, nicht-verstehend-wollende Nik war, der seinem Zwillingsbruder kein Glück vergönnte“
Er drückt mir das Glas in die Hand. Auf einmal kommt er mir so verletzlich und bedrohlich zugleich vor. Vorsichtig rücke ich ein wenig von ihm ab.
„Vielleicht hatten sie auch recht. Ich gönnte es Noah nicht. Diese Begabung. Diese bewunderten Blicke. Er hatte nichts getan, um diese Fähigkeiten zu bekommen. Nichts! Keine Bemühungen, kein Wille. Ich hätte genauso gut dieses beschissene Erbe besitzen können!“
Nik hat sich in Rage geredet. Hastig schlucke ich den Whiskey hinunter.
„Auf einmal war er etwas Besseres als ich. Etwas Besonderes - natürlich, er hatte das Feuer-Element. Ich war ihm nicht mehr gut genug. Stattdessen schloss er sich Kyle an, sie verstanden sich prächtig. Was auch nicht verwunderlich war. Sie konnten ihr Geheimnis teilen, Dinge planen, sich aussprechen. Ich war nicht mehr nötig. Wie ein Kuscheltier, welches man ein paar Jahre geliebt hat, ehe es auf einem Flohmarkt zum Verkauf stand“
„Nik…“
Er dreht seinen Kopf zu mir und ich habe wirklich Mühe, ihn nicht mit großen Augen anzustarren. Nie hätte ich gedacht, Nik so niedergeschlagen zu sehen. So enttäuscht.
In seinen braunen Augen haben sich Tränen gebildet, die er krampfhaft versucht, zurückzuhalten. Die Lippen sind zu einer schmalen Linie gepresst, um das Zittern zu verbergen.
Er hat die Hände zu Fäusten geballt.
Ich bin ein wenig ratlos, weiß nicht, was ich nun tun soll. Tröstende Worte helfen wohl wenig, generell bin ich kein Mensch, der anderen gut Mut zusprechen kann.
„Kann…kann ich dir irgendwie helfen?“, frage ich leise.
Er schaut mich lange – sehr lange – an, bevor er antwortet: „Mein Bruder empfindet etwas für dich, da bin ich mir sicher. Du kannst mir helfen, ihn bereuen zu lassen, dass er mich damals fallen gelassen hat“
Ich runzele die Stirn und öffne meinen Mund zu einer Frage, als Nik sich plötzlich zu mir runter beugt und mich küsst.
Erschrocken reiße ich die Augen auf und will zurück weichen. Doch seine Hand an meinem Hinterkopf hindert mich daran.
Seine Lippen sind erstaunlich zart, nicht grob, wie ich gedacht hätte. Sanft liebkost er meinen Mund, streichelt meine Wange und lässt ein unangekündigtes Kribbeln in meinem Bauch entfachen. Mein Herz galoppiert in einem rasanten Tempo davon.
Zuerst versuche ich mich noch zu wehren, doch schließlich lasse ich mir den Whiskey zu Kopf steigen und versinke in diesem aufregenden Gefühl.
Mein Leben kann sowieso nicht mehr schlimmer werden. Also warum nicht einfach mal etwas Falsches tun?
Spontan schließe ich die Augen. Noch nie hat mich ein Junge so geküsst. Und noch nie hat mir jemand so offen, so viel von sich preisgegeben.
Nik drückt mich nun ein wenig fester an sich, wühlt in meinen Haaren und vertieft den Kuss. Ich lasse mich fallen, berühre seine Wange und spüre die feuchten Tränen, die die Haut benetzen.
Unsere Zungen verbünden sich zu einem feurigen Tanz, zärtlich und leidenschaftlich zugleich. Ich schmecke den Whiskey und kann Nik leise stöhnen hören.
Und plötzlich, mit einem Mal, trifft mich ein unvermittelter Stromstoß. Keuchend beiße ich Nik auf die Unterlippe, ehe auf einmal ein ganzer Zug an mir unbekannten Erinnerungen vor meinem inneren Auge auftaucht. Es sind so viele auf einmal, dass ich den Überblick verliere.
Bilderfetzen von Noah kann ich erkennen, als er noch jünger war. Sein Lachen, seine Ausgelassenheit. Und später, als er älter wird, diese arrogante Mimik, Ablehnung in seinen Augen.
Erschrocken weiche ich von Nik zurück und starre ihn mit großen Augen an. Meine Lippen pulsieren, mein Herz ebenso.
In meinem Kopf herrscht ein großes Durcheinander.
Nik hat mich geküsst und ich habe den Kuss auch noch erwidert! Wie soll ich mich nun verhalten? Ich habe Erinnerungen von ihm gesehen! Hat er das bemerkt?
Der Blondschopf beleckt seine geschundene Unterlippe, schmeckt das Blut, wofür ich verantwortlich bin. Habe ich wirklich so heftig zugebissen, als ich mich erschrocken habe?
Er lächelt sein typisches, süffisantes Lächeln. Doch diesmal wirkt es ein wenig schief und unsicher. Seine geröteten Wangen lassen ihn jungenhaft wirken.
„Irgendwie finde ich es sexy, dass du mir auf die Lippe gebissen hast“, meint er, ein wenig außer Atem.
Ich werde rot.
Okay. Sidney, verhalte dich normal.
„Hast du…die Erinnerungen auch gesehen?“, frage ich heiser und räuspere mich.
„Ja, sie kamen ganz schön unerwartet“, antwortet er.
Das kannst du laut sagen, denke ich mir und zucke überrascht zusammen, als mein Handy in der Hosentasche plötzlich anfängt zu vibrieren.
Ich presse die Lippen zusammen, als ich Amys Namen auf dem Display aufleuchten sehe. Dabei bemerke ich, dass mir drei Anrufe von meinem Vater entgangen sind.
„Hallo?“, melde ich mich.
„Sidney!“, ertönt die erleichterte Stimme von der Blondine. „Dein Dad hat mich eben angerufen, um sich zu erkundigen, wo du denn bist. Er kann dich nicht erreichen! Ich habe ihm natürlich gesagt, dass du dich bei mir zu Hause befindest, aber momentan nicht mit ihm sprechen kannst, weil du gerade im Badezimmer bist. Und dass du dein Handy in der Küche liegengelassen hast, so dass du nicht rangehen konntest, als er dich anrief, weil wir uns in meinem Zimmer befinden“
„Oh!“, stoße ich nur hervor.
Amy scheint hektisch zu sein. Was bedeutet, dass sie oft nicht aufhören kann zu reden.
„Wo bist du?“, fragt sie nachdrücklich. Ihre Stimme ist um eine Oktave höher gerutscht. Die Panik ist nicht zu überhören.
Ich kann mir gut vorstellen, wie ihre blauen Augen mich vorwurfsvoll anschauen, würden wir uns gegenüber stehen.
Ich zögere. „Unterwegs“, antworte ich nur knapp.
Neben mir hebt Nik eine Augenbraue.
Amy ist skeptisch. „Wo genau, Sidney? Ich mache mir ernsthaft Sorgen!“
„Warum?“, frage ich stirnrunzelnd.
„Weil du seit Samstag Abstand zu uns hältst - was ich vollkommen verstehen kann -, völlig aufgelöst zu sein scheinst, auf die Anrufe deines Vaters nicht reagierst und irgendwo durch die Gegend fährst!“
„Ich bin ja nicht allein“, rutscht es mir heraus. Sofort beiße ich mir auf die Zunge.
„Ach, wer ist denn bei dir?“, hakt die Blondine sofort nach.
Nik neben mir grinst.
Ich verfluche mich selbst.
Soll ich die Wahrheit sagen? Besser wäre das. Nik würde seinem Bruder bestimmt ohnehin erzählen, dass wir uns geküsst haben. Dann wäre ich aufgeflogen.
„Ich bin mit Nik unterwegs“, gebe ich schließlich zähneknirschend zu.
Einen Moment lang herrscht Stille am anderen Ende der Leitung. Schließlich antwortet Amy: „Ich hoffe das ist ein Scherz. Irgend so ein schwarzer Humor von euch Engländern“
„Schottin“, verbessere ich sie automatisch.
„Sidney, warum bist du mit Nik unterwegs?“
Gute Frage. „Es hat sich so ergeben“, sage ich und ärgere mich auf einmal über Amys Entsetzen.
Nik ist bei weitem nicht so schlimm, wie man mir gesagt hat.
Vielleicht ein wenig arrogant, aber auch verletzlich.
Noch ehe die Blondine irgendetwas erwidern kann, lege ich auf und verstaue mein Handy wieder in meiner Hosentasche.
„Schlecht gelaunt?“, fragt Nik mit einem hämischen Grinsen.
„Vielleicht“, ist alles, was ich dazu sage.






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