The Life Shot - Teil 6

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 08.05.2012


|Fünf|
- Irritation

›Zwei Tage später‹

Die Regentropfen an der Glasscheibe sehen aus wie Tränen, die ein Rennen veranstalten. Stumm betrachte ich den kleinen Wettkampf, der an immer mehr Zuwachs gewinnt. Bald verliere ich den Überblick.
Seufzend betrachte ich die dunkelgraue Wolkendecke, die sich seit heute Morgen kein Stück mehr bewegt zu haben scheint. Es ist, als wäre die Welt in einen grauen Farbtopf gefallen. Das Wetter ist eintönig und öde, was sich auch auf das Gemüt der Menschen abfärbt. Sie sind lustlos und verstimmt und ein düsterer Nebel erstreckt sich still und leise durch die trostlose Landschaft. Beinahe heimtückisch erfüllt er die dicke Luft.
„Sidney?“
Ich drehe mich zu Noah um, der mich fragend anschaut.
Er sollte lieber auf die Straße schauen, beim Regen Auto zu fahren ist nicht ungefährlich.
Seine Erscheinung erinnert mich an Nik - was bei mir wieder Unbehagen auslöst. Sein Zwillingsbruder hätte mich töten können.
Diese Erkenntnis ist einfach zu schockierend und angsteinflößend.
Ich schaue den Blondschopf neben mir einfach nur an und warte, dass er weiter spricht. Noah wendet sich wieder der Straße zu.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, versucht er mich aufzuheitern. „Wir wollen dir nur etwas zeigen“
Mit »Wir« meint er Kyle, Leona, Amy und sich selbst.
In den letzten Tagen habe ich nur spärlich ein paar Wörter mit ihnen ausgetauscht, der Vorfall mit Nik hat mich stutzig und nachdenklich gemacht.
Heute Morgen hat Amy dann vorgeschlagen, mich mit ihnen am Abend zu treffen, sie wollten mir unbedingt etwas zeigen. Nur widerwillig habe ich zugestimmt, bei der Sache habe ich einfach kein gutes Gefühl.
„Ich habe keine Angst“, erwidere ich tonlos und wende mich wieder dem Fenster zu. Mein Gefühl hat einfach nur Alarm gemeldet, setze ich in Gedanken hinzu und presse die Lippen zusammen.
Dass wir dieselbe Hauptstraße entlang fahren, die ich (und Leona) in jener Nacht auch gefahren bin (sind), beunruhigt mich. Ich kralle mich fester in den Sitz und reiße die Augen auf, als wir in den bekannten Waldweg einbiegen.
Panisch schaue ich Noah an.
„Wo fahren wir hin?“, frage ich aufgeschreckt.
Mein Chauffeur runzelt die Stirn. „Ganz ruhig, Sidney. Es soll doch eine Überraschung sein“
„Verdammt, Noah!“, rufe ich aufgebracht.
Ich weiß nicht, warum es mich so schockiert und in Panik versetzt. Vielleicht, weil es nun schon das dritte Mal ist, dass ich hier langfahre. Und jedes Mal ist etwas Unschönes passiert.
Dass erste Mal war es der Traum gewesen, wo Leona von drei Typen verfolgt wurde.
Dass zweite Mal hat Nik mich im Wald angegriffen.
Und jetzt beim dritten Mal…?
Ich schlucke hart.
Wir steigen aus dem Wagen aus, der Bach zu unserer Rechten. Mittlerweile ist mir der Anblick schon einigermaßen vertraut. Die anderen aus der Clique sind scheinbar noch nicht dar.
„Na, komm“, meint Noah und winkt mich zu sich. „Wir müssen durch den Wald“
Ich nicke nur und versuche meinen pulsierenden Herzschlag zu beruhigen.
Ein ganz schlechtes Gefühl zerrt an mir.
Durch den Regen ist der Wald matschig und besitzt eine ziemliche hohe Ausrutschgefahr. Die langsam aufkommende Dunkelheit macht es auch nicht besser.
Ich habe Angst.
Die Geräusche, die wir verursachen, machen mich nervös. Ich glaube, ich bin paranoid.
Auf einmal schießt ein angsteinflößender Gedanke durch meinen Kopf, der wohl nun letztendlich beweist, dass ich komplett durchgedreht bin.
Was ist, wenn es nur eine Falle ist?
Wenn ich jetzt mit Noah durch den dunklen Wald laufe, nur damit er mich gleich attackieren kann und seine drei Freunde plötzlich hinter den Bäumen hervorspringen und ihm helfen?
Wie angewurzelt bleibe ich abrupt stehen, der Gedanke ist furchteinflößend und irgendwie auch banal.
Verwundert dreht sich Noah zu mir um.
„Wieso–“, setzt er an, doch ich unterbreche ihn.
„Was habt ihr vor?“, frage ich geradehinaus. „Ist das eine Falle?“
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, Noah hebt seine überrascht. Dann runzelt er die Stirn. „Nein, wie kommst du darauf?“
Kopfschüttelnd weiche ich einen Schritt zurück. „Was wollt ihr mir zeigen? Die Waffe, mit der ihr mich umbringen wollt?“
Noah reißt entsetzt die Augen auf. Vorsichtig streckt er die Hand nach mir aus, doch hastig gehe ich weiter einen Schritt Rückwerts. „Nein, nein, nein, Sidney“, beteuert er. „Was ist denn los mit dir?“
Mein Herz pulsiert heftig. „Oder wollt ihr irgendwelche Tests mit mir durchführen? Eine Attacke vortäuschen, hm?“
Wut und Angst, eine seltsame Mischung, steigt in mir auf. Als ich einen weiteren Schritt nach hinten setze, spüre ich einen Baum in meinem Rücken und schlucke hart.
Noahs Miene ist ratlos und ernst. „Sidney, was redest du denn da? Wir wollen dir nichts tun“
Er geht auf mich zu, ich schrecke zurück, doch der Baum in meinem Rücken hält mich auf. Ich hechte zur Seite, in meinem Kopf denke ich nur an Flucht!
Eine Art Déjà-Vu überfällt mich, Noah ist sicherlich genauso verrückt wie sein Bruder!
Ich stolpere in meiner Hast über meine eigenen Füße, eine Hand packt mich plötzlich am Arm und auf einmal scheint alles in Zeitlupe abzulaufen.
Ein elektrischer Stromstoß jagt durch meinen Körper, die Bilder von jener Nacht mit Nik tauchen vor meinen Augen auf, während Noah mich am Arm zu sich ran zieht.
Ich kneife die Augen zusammen, habe Angst vor einen Schlag und bin verwirrt, als mich zwei Arme umschließen und an eine Brust drücken.
Die Zeitlupe endet, ich reiße verdutzt die Augen auf.
Noahs Brustkorb hebt und senkt sich schnell, es ist auf einmal unglaublich hell um uns herum. Ich zittere.
„Sidney“, höre ich Noah flüstern. Er klingt besorgt und erstaunt zugleich. „Ich habe es gesehen“
Ich runzele die Stirn. „Was meinst du?“, frage ich leise.
„Deine Erinnerung. Mit Nik. In der Nacht. Hier im Wald“, seine Sätze sind abgehakt, als könne er es gar nicht fassen.
Ich ziehe scharf die Luft ein.
Das ist unmöglich! Wie soll das gehen?
„Ich verstehe nicht…“, murmele ich.
Der Geruch von Rauch steigt in meine Nase und verwundert hebe ich den Kopf. Ich sehe, wie Noah fassungslos gerade aus starrt. Auf seinem Gesicht tanzen orange Lichter.
Irritiert drehe ich mich um - und halte im nächsten Moment geschockt den Atem an. Der Wald vor uns brennt. Er brennt!
Lodernde Flammen steigen in den düsteren Himmel hinauf, der Regen löscht sie langsam. Ich blinzele perplex.
Ist das ein Traum?
„Ich verstehe auch nicht…“, murmelt Noah und starrt wie gebannt in die Flammen.

**
„Allmählich frage ich mich wirklich, wo die Grenze zwischen Normalität und Unwirklichkeit liegt“
Ich seufze und stehe - mit der Kamera in meiner Hand - auf.
Es ist Samstagmorgen, der seltsame Vorfall zwischen mir und Noah ist nun zwei Tage her. Nachdem Kyle, Leona und Amy entgeistert zu uns gestoßen sind, hat die Blondine beschlossen, die »Überraschung« auf heute Nachmittag zu verlegen. Dabei klang es aus ihrem Mund eher wie ein Pflichttermin.
Ich bin mir sicher, dass die Vierer-Clique sich wissende Blicke zugeworfen hat, sie scheinen unter Druck zu stehen.
Und irgendwie hat das etwas mit mir zu tun.
Ich schwenke die Videokamera zu meinem Schreibtisch, wo viele ausgerissene Blätter liegen, allesamt nur bis zur Hälfte beschriftet und dann verworfen.
„Mein Versuch, Ebbey eine Antwort zu schreiben, ist mir misslungen“, berichte ich und lenke somit auf ein anderes Thema. „Ich weiß einfach nicht, was ich ihr schreiben soll“
Tut es mir leid, dass sie denkt, ihr Leben neigt sich dem Ende? Habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Stadt verlassen habe und Elvis tot ist? Bin ich froh, dass sie mir geschrieben hat?
Ich weiß es nicht.
Dieses Unwissen, diese Verwirrungen in meinem Kopf machen es mir unmöglich, auch nur ansatzweise klar denken zu können.
„Ich sollte mich heute wahrscheinlich mal ablenken“, meine ich. „Dem ganzen Surrealen kurz entfliehen“
Ich drücke auf »Stop« und überlege kurz. Wer könnte für ein bisschen Normalität besser sein als Papa und Harriet?


Die »Mill Street« führt uns direkt zum Lieblingsrestaurant meiner Großmutter.
Es liegt direkt am Meer, dem Eastern Bay, und bietet einen wunderschönen Ausblick auf das funkelnde Wasser. Heute ist es im Gegensatz zu Donnerstag sehr warm, die Sonne scheint verschwörerisch und löst bei den vielen Touristen gute Laune aus.
„Was für eine wunderbare Idee“, schwärmt Großmutter Harriet und lächelt erfreut. „Das »Crab Claw«-Restaurant besitzt einfach eine tolle Lokation, passend zum heutigen Tag“
Wie der Name des Restaurants vielleicht schon verrät, handelt es sich bei dem Essen ausschließlich um Meeresfrüchte und Fischspezialitäten. Eigentlich ziemlich üblich für eine Stadt am Hafen.
Wir setzen uns auf die Außenterrasse des Speiselokales, welche sich direkt an dem Eastern Bay befindet. Boote verschwinden am Horizont, sportliche Leute erfreuen sich an angebotenen Wassersportarten und interessierte Touristen fotografieren die Landschaft.
Für einen Moment genieße ich die Sonne auf meiner Haut, atme den Geruch des Meeres ein und erfreue mich an der leichten Windbrise. Ich vergesse kurz den Trubel um mich herum, die Anomalitäten, die mich beschäftigen und das Chaos in meinem Kopf.
Ich genieße den Moment.
„Was darf ich Ihnen zu trinken geben?“, fragt eine fröhliche Frauenstimme und reißt mich aus meinen Gedanken.
Eine Kellnerin hat sich zu meiner Oma gebeugt und notiert sich nickend ihren Wunsch. Als sie sich zu mir dreht, blinzele ich die Bedienung perplex an.
„Ähm…ein Wasser, bitte“, sage ich schließlich.
„Classic, Medium oder Still?“, hakt die rothaarige Kellnerin sofort freundlich nach.
„Classic“, antworte ich, ein wenig überrumpelt.
Als die Bedienung auch noch meinen Vater befragt hat, kehrt erst mal Stille zwischen uns ein.
Meine Großmutter seufzt entzückt und legt mit einem Lächeln den Kopf schief, als sie mich anschaut.
„In der Sonne haben deine Haare genau den hellen Braunton wie deine Mutter“, meint sie.
Ich hebe die Augenbrauen. „Meine Mutter?“
Papa beugt sich zu mir und verdreht die Augen. „Deine Großmutter hat seltsamerweise die Haare von Linda geliebt“
Harriet öffnet gespielt empört den Mund. „Linda hatte nun mal schönes Haar“, verteidigt sie sich. „Sie war eine wirklich gutmütige und selbstbewusste Person gewesen“
„Ich bin mir sicher, dass sie es immer noch ist“, meine ich, ein wenig säuerlich. Mich ärgert es, dass Oma so tut, als sei meine Mutter tot. Nur, weil sie mich und Papa nach meiner Geburt verlassen hat, heißt das nicht, dass sie nicht mehr lebt.
„Mit der Zeit ändern sich die Menschen“, erwidert Harriet. „Möglicherweise hast du ja Recht. Es könnte aber auch sein, dass Linda nicht mehr dieselbe ist wie früher“
„Hat sie nicht mal hier in der Stadt gelebt?“, hake ich nach.
Mein Vater wirft mir einen undefinierbaren Blick zu.
„Ich meine“, beginne ich. „ist sie hier aufgewachsen? Dann müssten doch ihre Eltern sicherlich auch noch hier wohnen!“
Ein raffinierter Gedanke nimmt in meinem Kopf Gestalt an. Doch Dad scheint von dieser Idee wenig begeistert zu sein. „Sidney…“
„Du weißt doch bestimmt noch, wo sie gewohnt hat“, fahre ich unbeirrt fort. „Vielleicht leben ihre Eltern - meine Großeltern - noch dort!“
„Das ist eher unwahrscheinlich“, meint Papa und schaut weg.
Ich runzele die Stirn. „Wieso?“
Er schweigt und scheint mir keine Antwort geben zu wollen. Ich weiß, dass er - wenn es um meine Mutter geht - schnell abblockt.
Deshalb schaue ich fragend meine Großmutter an. Diese antwortet mir auch sogleich: „Ihre Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, als Linda 20 Jahre alt war. Sie wollte mit Thomas ein neues Leben in Schottland anfangen, darum sind sie weggezogen“
Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder.
Damit habe ich nicht gerechnet.

**
„Vielleicht“, beginnt Amy, „wäre ein bisschen Musik gut“
Stumm schaltet Kyle das Radio an, wobei seine Freundin ihm ein dankbares Lächeln zuwirft.
Ich sitze mit Leona und der Blondine auf der Rückbank des Wagens, den Kyle eigenständig fährt. Auf dem Beifahrersitz befindet sich Noah, der erstaunlich still ist.
Aber das sind wir alle.
Die Geräuschlosigkeit zwischen uns ist angespannt und ein wenig aufgeladen, jeder hängt seinen beunruhigenden Gedanken nach.
Nervös fummele ich mit meinen Fingern an dem Zopfgummi, welches die Haut an meinem Handgelenk einschneidet. Mit zusammengepressten Lippen betrachte ich die vielen Autos, die uns auf der Hauptstraße entgegen kommen und versuche mich irgendwie abzulenken.
Als wir in den Waldweg einbiegen, werden wir alle durcheinander geschüttelt, weil Kyle so unachtsam über die Schlaglöcher fährt. Zum Glück haben wir heute einen Zeitpunkt ausgemacht, wo es noch hell ist. Die Sonne strahlt am blauen Himmel, es sieht bei weitem nicht so gruselig im Wald aus wie vor zwei Tagen.
Der Wagen hält und wir steigen aus.
Im Schatten der Bäume ist erstaunlich kühl, ich ziehe meine dünne Strickjacke dichter an meinen Körper. Eine Gänsehaut überfährt mich - und zwar nicht nur wegen der Kälte.
Amy wirft mir einen prüfenden Blick zu, scheinbar besorgt. Dabei weiß sie gar nicht, was hier mit Nik und nachher mit Noah vorgefallen ist. Nur der Blondschopf selbst kennt mein kleines Geheimnis.
Aber die Blondine ist nicht dumm. Ich bin mir sicher, dass sie sich schon einige Ideen ausgemalt hat, weshalb ich so ruhelos reagiere. Man kann mir bestimmt leicht anmerken, dass es mir nicht gefällt hier zu sein.
Dennoch raffe ich mich zu einem aufmunternden und zuversichtlichen Lächeln auf.
Mit klopfendem Herzen marschiere ich mit den vier Jugendlichen durch den Wald, immer tiefer hinein. Ich schlucke hart und werfe Noah kurz einen flüchtigen Seitenblick zu, der stur geradeaus schaut.
Leona, die neben mir herläuft, ist heute auch auffällig schweigsam, die Stirn ständig zu einer nachdenklichen Miene verzogen.
Ich bin mir auf einmal unsicher, ob es wirklich so eine gute Idee war, mich auf diese Art von »Überraschung« einzulassen.
Doch jetzt ist es zu spät.
„Wir sind da“, höre ich die Stimme von Kyle, welche mich wieder aus den Gedanken reißt.
Abrupt hebe ich den Kopf - und runzele verwirrt die Stirn.
Was…?









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