The Life Shot

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 23.04.2012


Dieser Teil ist erst mal der Prolog, um einen Einblick in das Leben der Hauptperson zu bekommen. Erwartet nicht zu viel! :D
Viel Spaß beim Lesen!
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|Prolog|

›Oktober‹

Das Gefühl von Freiheit habe ich erst einmal richtig gespürt.
Und das war gestern.
Mit meinem Dad.
Genau genommen heißt die Halbinsel »Isle of Portland«, die uns beide sehr fasziniert hat. Wir beide standen atemlos und berauscht auf einem großen Hügel, der uns einen fantastischen Anblick bot. Die Stille zwischen uns war angenehm, einerseits sprachen wir kein Wort, weil die Wanderung auf dem Hügel doch anstrengender war, als gedacht. Andererseits waren Dad und ich auch einfach schlicht weg sprachlos.
Ich konnte die vielen Ortschaften, die die Insel ausmachten, erkennen und natürlich den sonderbaren Strand mit seinen gefährlichen Wellen.
Der »Chesil Beach« ist so ganz anders, als die gewöhnlichen Strände, die jedermann kennt. Denn dieser Strand besteht nur aus Kieselsteinen, die größer sind als eine Babyfaust. Also kein gemütlicher Ort zum Entspannen.
Aber das haben mein Vater und ich sowieso nicht vorgehabt. Nicht nur, weil das Wetter ziemlich trüb und regnerisch ist, schließlich befinden wir uns gerade in der chaotischen Herbstjahreszeit. Nein, Papa und ich sind beide neugierige Abenteurer, die mit einer Landkarte mehr anfangen können als mit einem Strandkorb.
Nachdem wir uns einigermaßen sattgesehen haben an diesem tollen Ausblick, fotografierten wir noch viele - für manche Leute unwichtige - Einzelheiten. Dann erst wagten wir den Abgang vom Hügel, der natürlich einfacher war. Und schließlich mussten wir uns auch noch den »Chesil Beach« genauer anschauen. Es war einfach zu verlockend.
In einem Reiseführer haben wir gelesen, dass der Strand nicht ganz ungefährlich sei. Man sollte sich nicht zu nah ans Wasser wagen, da das Meer ruckartig in die Tiefe geht, so dass man sich nicht vorsichtig mit den Füßen vorantasten kann. Sobald man im Kies abrutscht, ist der Tod nicht mehr weit entfernt. Das Meer würde einen verschlingen, da es so gut wie unmöglich ist aus dem Wasser zu kommen. Denn die Steine sind nicht standhaft genug, um sich an ihnen festzuhalten, sie rutschen einfach immer wieder weg.
Aber Dad und ich haben es ja überlebt.
Meine Füße sind mit jedem Schritt leicht in dem Kies eingesunken und wir mussten einen großen Hügel, nur bestehend aus diesen flachen Steinen, überwinden, um das rauschende Meer und dessen Wellen sehen zu können.
Ein kalter Wind peitschte uns in die geröteten Gesichter und abermals musste ich in meinen Jackentaschen nach einem Taschentuch suchen. Doch das Lächeln auf meinem Gesicht verschwand nicht einen einzigen Moment.
Mit Papa an meiner Seite, dem endlosen Horizont vor meinen Augen, und der eisigen Kälte auf meiner Haut, die meine Nase zum Laufen brachte, fühlte ich mich besser denn eh und je.
Ja, ich fühlte mich frei.
In diesem Moment hätte ich es mit der ganzen Welt aufnehmen können.

Aber wie jeder weiß, sind auch die schönsten Momente irgendwann vorbei.
Mein Vater hat als erstes die Besinnung wieder erlangt und mit einem Seufzen den Rückweg eingeschlagen. Er hat den Moment genau so sehr genossen wie ich.
Das war unser letzter Ausflug für England. Und wahrscheinlich sogar der beste. Zumindest besser als die Stadtbesichtigung in London.
Wir stiegen wieder in unseren kleinen Schrottwagen ein und fuhren zurück zu meinem Onkel, väterlicherseits. Papa hat eine enge Verbindung zu ihm, aber schon lange nichts mehr von seinem Bruder gehört, so dass das Wiedersehen vor einer Woche dementsprechend ziemlich emotional ausfiel.
Onkel Alfie wohnt in Poole, ebenfalls eine Stadt in Südengland an der Küste und war sehr erfreut, als wir ihn vor unserer Reise anriefen und Informationen austauschten. Er ist ein gutherziger Mann, der alleine in einem bescheidenen Häuschen lebt. Geheiratet hat er nicht.
Ich kann nicht verleugnen, dass ich stolz auf meine englischen Wurzeln bin. Denn das bin ich definitiv - Papa sein Dank.
Heute Nachmittag, kurz vor unserer Abreise, haben wir Alfie versprochen, ihn bald wieder zu besuchen. Und das werden Dad und ich auch einhalten

„Ist dir warm genug?“
Nickend ziehe ich den Reißverschluss meiner dunklen Strickjacke zu, ehe ich mich müde an die kalte Fensterscheibe lehne. Vor meinen Augen tauchen immer wieder Bilder von England auf, was mir ein Seufzen entlockt.
Mein Vater schaltet die Klimaanlange ein wenig runter und konzentriert sich wieder auf das Autofahren.
Seit fünf Stunden sind wir nun schon unterwegs, es ist gerade sechs Uhr morgens. Wir befinden uns auf den Weg in unsere Heimatstadt, Glenlomond, die sich so ziemlich am anderen Ende von Poole und der Insel befindet - in Schottland.
Mir kommt es so vor, als wäre es schon eine Ewigkeit her gewesen, als wir uns von Onkel Alfie verabschiedet haben - mit dem Versprechen, ihn bald wieder zu besuchen.
„England war schön“, murmele ich und schließe die Augen.
Das Radio, welches mittlerweile nur noch französische Sender empfängt, spielt eine ruhige, einschläfernde Musik, welche mich zum Gähnen bringt.
„England ist immer noch schön“, erwidert mein Vater ruhig.
Ich kann seine dunkeln Augen auf mir ruhen spüren - und das, obwohl ich meine Augen geschlossen habe.
Papa und ich sind schon oft in unbekannten - oder bekannten - Orten Groß Britanniens gewesen, wo wir dann mit unserem kleinen Auto die Ortschaft erkundet haben. Ungefähr jedes Jahr gibt es eine neue Stadt, welche von uns entdeckt werden will. Dabei müssen wir noch nicht einmal viel Geld ausgeben, da wir stets darauf achten, nur das Billigste und Nötigste zu nutzen.
Dieses Jahr war es Poole, wobei wir dank meiner Herbstferien länger bei Onkel Alfie bleiben konnten und dementsprechend weitere Städte besichtigen durften.
Zwischen meinem Vater und mir besteht eine tiefe Verbindung, aufgebaut aus Vertrauen und Wahrheit. Und noch mehr. Ich frage mich oft, ob Dad schon immer so vertrauenswürdig und abenteuerlich war. Ob er schon so war, bevor er meine Mutter kennengelernt hat.
Alles was ich über sie weiß, ist, dass sie Linda heißt und nach meiner Geburt einfach abgehauen ist. Vielleicht will mein Vater deshalb sooft mit mir andere Städte besuchen, um seine verschwundene Geliebte möglicherweise eines Tages wiederzufinden. Oder vielleicht ist es wirklich nur seine Abenteuerlust, die in der Familie üblich zu sein scheint.
Ich habe keine Ahnung. Und ich habe mich bisher auch nicht getraut, ihn zu fragen.
„Wie lange noch?“, murmele ich.
Das ist wohl die Standard-Frage auf langen Autofahrten.
Mein Vater lacht leise und ich höre das »Klick-Klack, Klick-Klack« des Blinkers, als wir abbiegen. Wahrscheinlich auf die nächste Autobahn.
„Wenn wir in keinen Stau geraten, haben wir noch gute drei Stunden vor uns“
„So lange noch!“, seufze ich frustriert.
Doch noch ehe ich mich weiter beklagen kann, überrollt mich die Müdigkeit und ich falle in einen traumlosen Schlaf.


Die Stille weckt mich.
Mit gerunzelter Stirn schlage ich meine Augen auf - und kriege fast einen Schock: Mein Vater ist nicht da!
Ich höre mich selbst nach Luft schnappen und werfe einen Blick durch den Wagen. Gähnende Leere empfängt mich.
Ein rascher Blick auf die Radio-Uhr verrät mir, dass ich seit unserem letzten Gespräch gute zwei Stunden geschlafen habe. Mein Rücken tut weh. Ich muss mich unbedingt bewegen.
Ich schaue aus dem Fenster und bemerke, dass Papa auf einem verlassenen Parkplatz geparkt hat, direkt an der Autobahn, und nur ein kleines Klohäuschen ist in Sicht.
Wahrscheinlich hat einfach nur seine Blase gedrückt und er kommt gleich wieder. Ist doch nichts Unnatürliches, oder?
Ich stoße die Autotür auf und sofort fangen meine Zähne an zu klappern. Eisige Kälte umfängt mich und ächzend klettere ich aus dem Auto. Meine Beine fühlen sich schwach und zittrig an. Außerdem bin ich noch nicht ausgeschlafen. Ich muss schrecklich aussehen.
Die Sonne geht langsam auf, schließlich ist es schon knapp Acht Uhr in der Früh. Mit verschränkten Armen beobachte ich eine Weile die Autos und LKWs, die mit ungeheurer Geschwindigkeit die Autobahn entlang sausen.
Dann strecke ich mich und laufe ein paar Mal auf und ab. Ich spüre wieder Lebendigkeit in mir. Nun bin ich wach.
Hastig laufe ich zu dem alten, dreckigen Klohaus und rümpfe angewidert die Nase, als mich der Gestank von Urin und Schimmel begrüßt. Hier würde Papa nie im Leben sein Geschäft machen! Da ist der naheliegende Wald ja sogar angenehmer.
Kopfschüttelnd wage ich trotzdem einen Blick in die mit Graffiti beschmutzte Männertoilette. Kein einziges Geräusch ist zu hören.
„Dad?“, flüstere ich. Es ist vielmehr ein Krächzen. Meine Stimme klingt heiser und rau. Ich muss dringend etwas trinken.
Ungewollt trifft mein Blick den verschmierten Spiegel, wo mich zwei dunkelgrüne Augen anstarren. Die braunen Haare stehen dem Mädchen, welches meinen Blick genauso starr erwidert, wild vom Kopf ab. Sie sieht ungepflegt aus. ICH sehe ungepflegt aus.
Sobald ich zu Hause bin, muss ich mich unbedingt duschen.
Das Tippeln von Schritten reißt mich aus meinen Gedanken und mit klopfendem Herzen marschiere ich aus dem Häuschen. Als ich um die Ecke schaue, sehe ich, wie Dad gerade zum Auto geht und abrupt stehen bleibt, als ihm wahrscheinlich auffällt, dass ich nicht im Wagen bin.
Sofort dreht er sich um und sein suchender Blick streift das Gelände, ehe er bei mir hängen bleibt und die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen verschwindet, um für die darauffolgende Erleichterung Platz zu machen.
Auch bei mir lässt die eisige, kalte Hand mein Herz los, so dass der Schock und die Angst entweichen. Lächelnd und gleichzeitig mit einem fragenden Gesichtsausdruck gehe ich auf Papa zu.
„Wo warst du?“, frage ich prompt, sobald ich bei ihm ankomme und er mich in die Arme nimmt. „Ich dachte, du seist verschwunden“
Er drückt mich fest an sich, bevor er mich loslässt und mit einem sanften Blick mustert.
„Mach dir nicht immer so viele Sorgen, Sidney. Ich habe mir nur eine kurze Pause mit einer Zigarette gegönnt und unseren Müll weggebracht“, erklärt er lächelnd. Dann wird sein Gesicht auf einmal ernst. „Ich würde dich niemals irgendwo absichtlich alleine lassen. So etwas darfst du nicht von mir denken, verstanden?“
Betreten sehe ich auf den Boden und nicke.
Ja, er hat Recht. Es war unsinnig von mir solch einen Gedanken auch nur in Erwägung zu ziehen. Mein Dad würde mich niemals im Stich lassen.
Nie.


Beim Betreten des Hauses überkommt mich mal wieder dieses seltsame Gefühl von Geborgenheit, Schutz und Erleichterung. Es ist immer das gleiche Feeling, welches mich berührt, sobald ich mich im Holzhaus befinde, mit einem Koffer in der Hand, erschöpft von der Reise.
In diesem Häuschen wohne ich schon mein ganzes Leben lang, also 16 Jahre. Jeden einzelnen Winkel kenne ich in -und auswendig, es gibt keinen Raum, den ich noch nicht durchstöbert habe.
Der Geruch von verbranntem Holz hängt in der Luft - wie immer. Das liegt daran, dass wir zu dieser kalten Jahreszeit unseren heiß geliebten Ofen viel öfter benutzen, als sonst. Dementsprechend nimmt das Holzhaus seinen ganz eigenen, bestimmten Duft an, der mir so vertraut ist.
„Uff“
Erschöpft lasse ich den Koffer auf dem Parkettboden fallen und reibe mir meine schmerzenden Augen.
Nach dem kleinen Abstecher auf dem Parkplatz bin ich nur einmal kurz wieder eingeschlafen. Nun ist es neun Uhr morgens. Normalerweise würde ich um diese Uhrzeit in der Schule sitzen. Aber dank der Herbstferien - oder auch »Half-Term Holidays« genannt -, habe ich noch drei Tage Zeit, ehe ich mich wieder auf den Unterricht konzentrieren und die meisten Nachmittage wieder mit Lernen verbringen muss.
Wie schnell die Zeit doch vergeht.
Die Tür fällt ins Schloss und mein Vater, der ermattet seine Schultern hängen lässt, setzt seine Reisetasche neben meinem Koffer ab und wirft mir einen vielsagenden Blick zu.
Ich weiß, welcher Part jetzt kommt. Denn diesen Teil hasse ich am meisten.
Jetzt muss erst mal der Haushalt geschafft werden, bevor wir uns ein Nickerchen gönnen dürfen.
Ich unterdrücke ein genervtes Stöhnen und mache mich daran, unsere Dreckwäsche aus den Taschen zu räumen, um sie in die Waschmaschine werfen zu können. Derweil räumt mein Vater die Spülmaschine aus, die wir vor unserer Reise angestellt haben und überprüft unseren Briefkasten.
Als ich mich gerade daran mache, die abgelaufenen Lebensmittel aus unserem Kühlschrank zu entsorgen, höre ich, wie mein Vater mir sagt, jemand habe mir eine Postkarte geschrieben.
Das überrascht mich.
Ich schaue mir die Karte von vorne an. Viele kleine Bilder, bestehend aus Sehenswürdigkeiten von Paris, schmücken die Karte. So kann ich zum Beispiel den hübschen Eiffelturm erkennen, der weltweit als Symbol für Frankreich gilt.
Moment mal: Paris?
Ich kenne niemanden, der seine Herbstferien in Frankreich verbracht hat.
Irritiert drehe ich die Karte um und werfe einen neugierigen, flüchtigen Blick auf das kleine Feld, wo man von seinen unglaublichen Erlebnissen berichtet.
Doch das, was ich sehe, verwandelt meine Neugierde zuerst in Verblüffung und dann in Misstrauen. Nur ein Satz prangt mir entgegen, in einer hellblauen Tinte geschrieben, mit einer Schrift, die mir nicht bekannt ist.
»Das wahre Wissen kommt immer aus dem Herzen«
Ich blinzele die Worte an, habe das Gefühl, dass dahinter eine verschlüsselte Botschaft steckt. Unter dem Satz steht der Name Leonardo da Vinci, der diese Worte wohl einst ausgesprochen haben muss.
Das macht mich mehr als sprachlos.
Die Postkarte wurde an mich adressiert, das ist keine Frage. Jedoch habe ich keinen blassen Schimmer, welche mysteriöse Person mir damit etwas sagen will. Und warum er mir seinen Namen nicht verraten hat.

**

„Das ist seltsam“
„Ich weiß“, murmele ich und verbinde meine Kamera mit dem praktischen Fotodrucker von der Drogerie, welcher einfach und schnell meine Bilder ausdruckt. Konzentriert stelle ich die einzelnen Funktionen ein, ehe der Automat beginnt, den ersten Abzug auszuspucken.
Dann drehe ich mich wieder zu meiner besten Freundin um, die misstrauisch die Postkarte studiert, von der ich ihr bereits gestern nach meiner Ankunft aus England erzählt habe.
Grübelnd schweife auch ich noch einmal in Gedanken ab und überlege, wer mir die Pariser Postkarte geschickt haben könnte - mit Leonardo da Vincis‘ Worten: »Das wahre Wissen kommt immer aus dem Herzen«
Was soll mir das sagen?
„Ich kann mir einfach nicht erklären, von wem sie sein soll“, sage ich und lasse entmutigt die Schultern hängen. „Vielleicht mache ich mir auch einfach zu viele Gedanken. Wer weiß, womöglich war es nur meine Großmutter, ich sollte sie mal fragen“
Carmen schüttelt entschlossen den Kopf. „Wenn deine Oma die Absicht besitzt, dich in Angst und Schrecken zu verjagen, dann ja. Aber ansonsten denke ich, dass sie wenigstens ihren Namen verraten hätte“
„Da hast du Recht. Aber allmählich gehen mir die Namen aus. Kennst du noch jemanden, der mir die Karte geschickt haben könnte?“
Wieder schüttelt meine Freundin den Kopf. Diesmal ebenso deprimiert wie ich.
Es ist ein hoffnungsloser Fall.
Und doch so spannend und angsteinflößend zugleich.
Ich gebe zu, dass es irgendwie etwas Aufregendes hat, von einem Unbekannten eine Nachricht zu bekommen. In dieser Kleinstadt, welche vielmehr einem zu großgeratenem Dorf ähnelt, gibt es nicht viele spannende Situationen, die einen fesseln könnten.
Aber andererseits habe ich auch ein flaues Gefühl im Magen. Einfach so von einer Person ein Zitat geschickt zu bekommen - und dann auch noch aus Paris! - das ist schon sehr merkwürdig. Vielleicht will mir auch nur jemand einen Streich spielen.
Aber leide tappe ich zurzeit nur im Dunkeln. Und das geht mir gehörig gegen den Strich.
Ich seufze frustriert. „Ich sollte einfach abwarten. Vermutlich wird sich bald herausstellen, wer der mysteriöse Postkartensender ist. Und dann werden wir uns sicherlich dafür ohrfeigen, dass wir nicht von allein darauf gekommen sind“
Carmen lächelt bei diesem Gedanken ein wenig, sagt jedoch nichts.
Sie bleibt skeptisch.

Als die England-Bilder fertig gedruckt sind, schlendern meine beste Freundin und ich noch kurz durch die Innenstadt, welche nur aus sechs Geschäften, einem Friseur, Bäcker und einer kleinen Eisdiele besteht.
Aber es genügt völlig, um hier das Nötigste zu bekommen und sich nebenbei noch einen kleinen Snack zu gönnen.
Ein schmaler Fluss durchquert die Kleinstadt, so dass wir uns im Sommer oft gemütliche Plätze am Ufer suchen, wo wir dann meistens den halben Nachmittag verbringen. Auch diesen Sommer war es nicht anders gewesen.
Doch mittlerweile ist es zu kalt für solche wundervollen Tage. Die Blätter haben sich schon längst in prächtige rot-orange Farben gewandelt und der einst grüne Boden ist übersät mit buntem Laub. Zudem hat sich ein kühler Wind bei uns eingenistet.
Wir bleiben an dem großen Torbogen stehen, welcher mit einem Schild einen angenehmen Aufenthalt prophezeit. Mittlerweile ist der Lack darauf schon abgeblättert und ein Buchstabe ist beinahe nicht mehr wiederzuerkennen.
Irgendwie wirkt das Schild trostlos.
Als wären seine freundlichen Worte reiner Sarkasmus.
„Sidney?“
Überrascht drehe ich mich zu Carmen um, als sie die angenehme Stille plötzlich unterbricht. Erwartungsvoll schaue ich sie an, damit sie fortfährt.
„Was glaubst du, wie wird die Stadt in 30 Jahren aussehen?“
Ein wenig verwundert über ihre unvermittelte Frage, hebe ich die Augenbrauen und schaue sie fragend an. „In 30 Jahren?“, wiederhole ich.
Carmen nickt bejahend.
Ich stoße nachdenklich die Luft aus. „Puuh, ich habe keine Ahnung. Entweder wird sie nur so vor neugebauten Häusern strotzen oder einer Geisterstadt ähneln, weil hier niemand mehr wohnen will“
„Du meinst also, dass sich auf jeden Fall etwas ändern wird?“
„Das ist nicht auszuschließen, ja“
Carmen macht ein bedrücktes Gesicht und schmollt.
Sie ist ein sehr hübsches Mädchen mit schwarzen, niedlichen Locken und perfekt gezupften Augenbrauen. Da sie ursprünglich aus Spanien kommt und auch erst im Alter von sieben Jahren mit ihrer Familie hierhergezogen ist, besitzt meine beste Freundin olivfarbende Haut und braune Rehaugen, welche von einem dichten Wimpernkranz umgeben sind.
Ja, meine Freundin ist wirklich eine Schönheit.
„Wundert dich das?“, frage ich erstaunt.
Sie seufzt und betrachtet den wolkenverhangenen Himmel. „Manchmal wünsche ich mir einfach nur, dass das Leben nicht immer so viele Veränderungen mit sich bringen würde. Ich hasse das“
„Aber eine Neugestaltung muss doch nicht immer negativ sein“, werfe ich ein.
„Das stimmt“, gibt sie zu. „Aber trotzdem: Veränderungen sind immer so unvorbereitet. Und plötzlich“

**
Himbeergeruch.
Ich liebe diesen Duft.
Seufzend schäume ich meine kastanienbrauen Haare mit dem neuen Shampoo ein, während ich erschöpft die Schultern hängen lasse. Die Müdigkeit droht mich auszulaugen.
Ich drehe das Wasser wieder auf und genieße die wohltuende Wärme auf meiner Haut, die mich entspannt. Mit geschlossenen Augen spüle ich den Schaum aus meinen Haaren und sauge noch einmal tief den Himbeergeruch ein.
Herrlich!
Schließlich drehe ich mit einem Seufzen das Wasser wieder zu und schiebe die milchigen Glastüren beiseite.
Ich trockne mir die Haare ab und putze mir noch schnell die Zähne, ehe ich den Dunst vom Spiegel wegwische und mich kritisch mustere.
Eigentlich finde ich mich ganz hübsch. Ich bin weder ein hässliches Püppchen, noch eine aufgepeppte Diva. Und obwohl meine Gesichtszüge ziemlich arrogant wirken, bin ich alles anderes als ein selbstverliebtes Schwein.
»Aristokratisch«, hat meine amerikanische Oma mal gesagt. Ich besitze aristokratische Gesichtszüge. Das passt ziemlich gut.
Ich kann mich glücklich schätzen, eines der Mädchen zu sein, die eine gute, reine Haut besitzt. Darauf bin ich wirklich stolz. Im Allgemeinen bin ich mit meinem Gesicht ziemlich zufrieden.
Im Gegensatz zu anderen weiblichen Teenager, die sich alle eine süße Stupsnase wünschen, bin ich ziemlich froh über meine gerade Nase. Sie ist nicht wirklich außergewöhnlich, aber das ist auch gut so. Ich falle nicht gerne auf.
Mit meinen 1,74 Metern bin ich ein eher großes, schlankes Mädchen. Da ich in meiner Freizeit viel Sport treibe und in einem Tennis-Verein mitspiele, bin ich ziemlich gut ausgelastet.
Seufzend ziehe ich meinen Pyjama an und schlendere die Treppe nach oben in mein Zimmer, Dad hat sich schon längst in sein Bett verkrochen. Es herrschen ungewohnte kalte Temperaturen im Raum, die sofort eine Gänsehaut auf meinen Armen verursachen.
Hastig drehe ich die Heizung auf und lasse mich kraftlos auf mein Bett fallen.
Nachdem Carmen und ich unser kleines moralisches Gespräch über Veränderungen beendet haben, sind wir beide mit unseren Fahrrädern nach Hause gefahren.
Und jetzt, wo ich hier im Bett liege, spüre ich, dass die England-Tour doch noch so einige Spuren hinterlassen hat. Ich fühle mich schlapp und entkräftet.
Morgen werde ich auf jeden Fall die vorhin ausgedruckten Bilder in das Album kleben, welches ich schon vor der Reise gekauft habe. Solche Erinnerungen finde ich wunderbar.
Müde schließe ich die Augen und verkrieche mich mit einem leichten Lächeln unter die gemütliche Decke. Und ehe ich mich versehe, schlafe ich auch schon ein.


Ein nerviges Klingeln weckt mich.
Nein - es ist nicht mein Wecker. Der hört sich anders an. Außerdem habe ihn gar nicht angestellt, da heute Samstag ist.
Mit gerunzelter Stirn öffne ich meine Augen. Sonnenstrahlen fluten in mein Zimmer hinein, kitzeln mein Gesicht. Stöhnend drehe ich mich zur Seite, wobei ich einen Blick auf meinen Digitalwecker erhasche.
12:03 PM.
Abrupt hört das nervige Klingeln auf und die gedämpfte Stimme meines Vaters ertönt. Erst da wird mir bewusst, dass das Klingeln vom Telefon stammte.
Ächzend erhebe ich mich und schwinge meine Beine über die Bettkante. Meine Glieder fühlen sich schwer und ungelenk an. Als ich zum Kleiderschrank gehe, höre ich das laute Lachen meines Vaters, welches gedämpft zu mir durchdringt.
Schnell ziehe ich mich um. Jogginghose und Pullover sind jetzt genau das Richtige.
Ich gehe die Treppe nach unten, in die Küche, wo sich Papa schon mit einer dampfenden Tasse Tee befindet. Das Telefon hat er zwischen Schulter und Ohr geklemmt, während er mit einem Löffel das gesunde Getränk umrührt und dabei etwas in seinem Notizblock notiert. Dad liebt Tee am Morgen - oder in diesem Fall: Mittags. Vor allem »Matcha«, ein japanischer, edler Pulver-Tee, hat es ihm angetan.
Er nickt mir kurz zu, als ich mir ein Glas mit stillem Wasser einschenke.
Kurze Zeit später legt er auf.
„Wer war das?“, frage ich neugierig und führe das Glas an meine Lippen. Das Wasser kühlt meinen trockenen Hals, was ich mit einem Seufzen quittiere.
„Nur ein weiterer Kunde“, erklärt er.
Ich nicke verstehend.
Mein Dad ist Fotograf, was heißt, dass er immer wieder verschiedene Aufträge hat und nebenbei noch viele Kontakte knüpft.
„Hat sich Ebbey schon gemeldet?“, frage ich kurzerhand.
„Nein, du solltest sie am besten mal anrufen“, meint er und nippt an seinem Tee.
„Okay“
Ebbey ist eine alte Dame, die ganz in der Nähe wohnt. Sie ist wirklich sehr freundlich, bloß schon ziemlich schwerhörig. Zudem besitzt sie noch einen Hund, der auch bereits die besten Jahre hinter sich hat, aber dennoch täglich Bewegung braucht. Und dafür bin ich dann da.
Ich fummele nervös an meinen Fingern, weil mir immer noch etwas auf dem Herzen liegt. Jedoch bin ich mir unsicher, wie Papa reagieren wird.
„Spuck’s schon aus“, fordert er mich schließlich lächelnd auf.
Natürlich hat er bemerkt, dass mich etwas bedrückt.
Und das ist es schließlich auch, was mich erzählen lässt: Sein beruhigendes Lächeln und die Gewissheit, dass ich ihm komplett vertrauen kann.
„Die Postkarte, die ich bekommen habe…“, beginne ich zögernd. „…sie stammt aus Paris. Von einem Unbekannten. Ich weiß nicht, wer sie mir geschickt haben könnte. Außerdem hat die Person nur einen Satz geschrieben“
Mein Vater hebt überrascht die Augenbrauen hoch, ehe er sie misstrauisch zusammenzieht. „Wie meinst du das?“
Hastig laufe ich die Treppe nach oben, schnappe mir die Karte und zeige sie ihm schließlich, während ich erkläre.
„Glaubst du, das ist ein dummer Streich?“, frage ich nach meiner kurzen Erläuterung und beiße mir nachdenklich auf die Unterlippe.
Mein Vater betrachtet immer noch eingehend die Buchstaben, doch auf einmal schleicht sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen.
Verwundert schaue ich ihn an und richte mich auf. „Kommt dir die Schrift bekannt vor? Weißt du, wer mir die Karte geschickt haben könnte?“
Das Lächeln wird breiter und ich kann einen belustigten Funken in seinen dunkelgrünen Augen, die ich von ihm geerbt habe, erkennen.
„Ich glaube, die Antwort findest du ein paar Häuser weiter“, meint er und drückt kurz meine Schulter.
Überrascht hebe ich die Augen, bevor mir ein frustrierter Seufzer entweicht - mal wieder.


„Du bist wirklich so ein nettes Mädchen“, schwärmt Ebbey, als ich den alten Elvis an die Leine nehme. „Hast du eigentlich meine Postkarte bekommen?“
Ein kleines Lächeln kann ich nicht unterdrücken. „Oh ja. Das ist wirklich lieb von Ihnen. Ich war ganz erstaunt, eine Karte aus Paris zu bekommen. Und dann auch noch ohne Namen!“
Die alte Dame lacht herzhaft auf und zwinkert mir dann verschwörerisch zu. „Ich hatte schon immer eine Neigung zum Außergewöhnlichem“, erklärt sie und zuckt mit den Schultern. „Ich habe dich mit der Postkarte doch nicht etwa überrumpelt…?“
Hastig wehre ich ab. „Nein, nein! Ich war - wie gesagt - nur ein wenig überrascht“, erwiderte ich mit einem Lächeln.
„Sehr schön“, freut sich Ebbey und schmunzelt. Dann huscht auf einmal ein wehleidiger Ausdruck über ihr faltiges Gesicht. „In der Zeit, wo du im Urlaub und ich in Paris waren, hat sich meine Tochter um Elvis gekümmert. Aber sie hat einfach kein Händchen für Hunde“
Fragend hebe ich die Augenbrauen.
„Schon früher hatte sie immer Angst vor ihnen gehabt, was ich einfach nicht verstehen kann, schließlich ist…“
Seufzend stelle ich fest, dass Ebbey sich abermals festgeredet hat und wieder über alte Zeiten schwärmt. Es fällt mir schwer, meine freundliche Visage nicht bröckeln zu lassen. Ich will die alte Dame nicht verletzen oder gar verärgern.
Aber glücklicherweise beendet sie ihren Monolog von alleine, als sie etwas zu spät feststellt, dass sich Elvis schon auf dem Boden niedergelegt hat und bereits fünf Minuten vergangen sind.
„Oh mein Gott, Kindchen! Unterbrich mich doch, wenn ich zu lange rede“, lacht die alte Frau und scheucht mich mit einer Handbewegung weg.
Ich versuche in ihr Lachen mit einzustimmen. Aber es klingt zu aufgesetzt.
Ich hasse Small-Talk und finde es schwierig, eine offene Ausstrahlung zu erlangen. Umso glücklicher bin ich, als ich mit Elvis den kleinen Pfad einschlage, der mich zu den naheliegenden Feldern und dem großen Wald führt.
Dort fühle ich mich am wohlsten.






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