Woher weiß ich, wann es Liebe ist? - The Friend Zone - Teil 9

Autor: Clara
veröffentlicht am: 28.01.2013


Hey, ihr Lieben :)
Es tut mir furchtbar Leid, dass ich mich schon wieder so ewig nicht mehr gemeldet habe, dabei hatte ich mir wirklich ganz fest vorgenommen, an der Geschichte weiter zu arbeiten... Und dann kam das Abi und hat so furchtbar viel Zeit für sich beansprucht, da konnte ich nicht daran arbeiten :(
Naja, jetzt habe ich die schriftlichen Prüfungen hinter mir und jetzt ist alles wieder ein wenig entspannter :)

Jetzt mal zu meiner Geschichte:
Ich bin mega unzufrieden mit dem Teil, aber ich bin so oft drüber gegangen und irgendwie wird es nicht besser, deswegen lass ich es jetzt einfach so, alles dran rum Werken hat es nur noch schlimmer gemacht :/

Ich habe das Gefühl, ich ziehe die Handlung in eine unerträgliche Länge, weil da so viele Hintergrundinformationen dabei sind, dass ich immer unglaublich viel beschreibe aber von der Handlung her nichts wirklich passiert :/
Was meint ihr dazu?
Ist die Geschichte zu langatmig und langweilig???

Würde mich über eure Rückmeldungen ganz doll freuen, weil ich mir echt unsicher bin, ob ich die Geschichte in dieser Form weiter schreiben kann :/

Okay, genug Einleitung ;)
Ich hoffe, es gefällt euch wenigstens ein bisschen und ihr schlaft nicht ein bei meinen vielen Beschreinungen ;)
Kritik (positiv wie negativ) wäre absolut super!!!
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-Sonja-
Katharina öffnete die Tür im Bademantel, wobei man dieses Kleidungsstück eher Bademäntelchen als Bademantel nennen sollte, es bedeckte gerade so das Wichtigste und das auch eher dürftig. Ich schüttelte leicht den Kopf. Fragend sah sie mich an. „Hey, mit dir hatte ich gar nicht gerechnet! Was gibt's denn?“, sie tat, als wisse sie nicht, warum ich gekommen war und zupfte am Saum ihres Bademantels herum, um ihn länger erscheinen zu lassen, als er eigentlich war. „Ich will zu Tim, das weißt du!“, sagte ich leicht genervt. Sie grinste triumphierend und sagte mit gespieltem Bedauern: „Er will dich aber leider nicht sehen!“ und wollte mir die Tür vor der Nase zuschlagen, doch ich war schneller und stellte einen Fuß in die Tür, noch bevor sie diese ganz schließen konnte. Genervt öffnete sie die Tür wieder. „Verschwinde endlich, er will nichts von dir wissen!“, sagte sie schnippisch und wollte die Tür ein weiteres Mal zudrücken, obwohl mein Fuß noch immer im Türrahmen stand und ihr Vorhaben somit sowieso aussichtslos gewesen wäre.
Weil ich keine Lust auf lange Diskussionen hatte, rief ich mit einem Kopfnicken Charlie zu mir, der seinen großen Kopf durch den sich schließenden Türspalt schob, woraufhin Katharina, die panische Angst vor Hunden hatte, insbesondere vor solchen dieser Größenordnung, zurücksprang, entsetzend hohe und schrille Quietschlaute von sich gab und sich ins Wohnzimmer hinter ihr Sofa rettete. Zufrieden grinste ich Charlie an und trat in die Wohnung ein. Es roch nach einem widerlich schweren Parfüm und bereits im Flur begegneten mir nachlässig auf dem Boden verteilte Kleidungsstücke, die teilweise aus weniger Stoff bestanden, als ich für möglich gehalten hätte, dass man sich dafür die Mühe machte etwas dieser Art zu produzieren oder gar anzuziehen. Wozu die Mühe, man konnte doch auch gleich nackt herumlaufen! Angewidert rümpfte ich die Nase. Ich unterdrückte das Bedürfnis, ein Fenster öffnen zu müssen.
„Vic?“, rief ich laut in die Wohnung und folgte Charlie, der zielstrebig auf einen Raum zusteuerte, der sich als die Küche entpuppte. Eine Katze sprang fauchend auf den Kühlschrank, als Charlie schwanzwedelnd hereinstürmte und sah drohend auf uns herab. >Erstaunlich, dass jemand wie Katharina ein Haustier hat, aber wenn schon, dann natürlich eine Katze!<, ich musste leicht grinsen. Dann sah ich Vic, der zusammengesunken am Tisch saß, vor sich eine halb volle Tasse Kaffee, daneben eine fast leere Kanne und einen vollen Aschenbecher, in den er gerade eine weitere aufgerauchte Zigarette drückte, während er sich mit der anderen Hand bereits eine Neue anzündete. Schneidender Rauch stand in der Luft, verbreitete einen abartigen Gestank und nahm mir fast den Atem. Ich unterdrückte den Hustenreiz. Fünf oder sechs Zigarettenschachteln lagen zerdrückt auf dem Tisch und eine leere Flasche Schnaps lag umgefallen an der Tischkante und schien nur darauf zu warten, mit einem lauten Splittern auf dem Boden aufschlagen zu dürfen.
Charlie sprang freudig zu Vic hin und zwängte seinen Kopf zwischen ihn und den Tisch. Vic sah nicht einmal auf und drückte Charlies Kopf weg. „Verschwinde!“, grummelte er, als Charlie erneut den Kopf auf seinen Schoß legte. Ich griff nach der Flasche, die jeden Moment abzustürzen drohte, stellte sie auf den Tisch und setzte mich Vic gegenüber. „Vic?“, fragte ich sanft und legte eine Hand auf seinen Arm. Er sah nicht auf, sein Blick wirkte starr. Ich nahm ihm entschlossen die Zigarette aus der Hand und ertränkte sie in seinem Kaffee. „Was soll das?“, keifte er und funkelte mich wütend an. Seine Augen wirkten glasig, seine Pupillen waren geweitet und seine Augen rot gerändert. „Ich bringe dich zur Vernunft!“, sagte ich ruhig und drückte ihm seine Jacke in die Hand, die über der Lehne meines Stuhls hing. „Wir gehen nach Hause!“, sagte ich entschlossen und wollte ihn hochziehen, doch er bleib sitzen, vergrub das Gesicht in den Händen und ein Zittern lief über seinen Rücken. „Ich kann nicht mehr zurück!“, sagte er mit bebender, kratziger Stimme. „Nie wieder!“, er wischte sich über die Augen und ballte eine Faust auf dem Tisch. Ich trat von hinten an ihn heran und legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Warum solltest du nicht mehr nach Hause können?“, fragte ich sanft und versuchte den beißenden Rauch zu ignorieren und keinen Hustenkrampf zu bekommen.
Katharina lugte vorsichtig um die Ecke, um sich zu versichern, dass Charlie in sicherer Entfernung war und trat dann unsicher in den Türrahmen. „Lass ihn in Ruhe!“, sagte sie halbherzig, Charlie im Auge behaltend. „Du siehst doch, dass es ihm schlecht geht und du machst es nur noch schlimmer!“, sie schielte wieder vorsichtig nach Charlie, der immer noch seinen Kopf in Vics Schoß liegen hatte und langsam und gleichmäßig mit dem Schwanz wedelte. Unsicher machte sie einen Schritt in die Küche hinein, als Charlie den Kopf hob, sie direkt ansah und einen kurzen, tiefen, drohenden Laut von sich gab, der sie erschrocken in den Flur zurückweichen ließ. Zufrieden legte Charlie wieder den Kopf in Vics Schoß, der sofort beide Hände in sein kurzes Fell schmiegte und sein Gesicht an seinen Hals presste. Ich schloss die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um, damit wir unsere Ruhe hatten.

„Er ist schwul!“, sagte Vic nach einiger Zeit des Schweigens. In seiner Stimme schwang Verzweiflung mit. Ich zuckte mit den Schultern. „Na und?! Was ist so schlimm daran?“ Vic sah mich entsetzt an. „Wie, was ist so schlimm daran, er ist schwul verdammt!“ Ich lachte. „Na und?! Daran stirbt man nicht!“ Vic machte einen verachtenden Laut. „Wie konnte das nur passieren?“ In seinen Augen lag eine Mischung aus Verzweiflung, Entsetzen, Unsicherheit und Reue. Ich war mir nicht sicher, ob er über die Tatsache sprach, dass Moritz schwul war oder von seinem Ausraster. „Damit wird man geboren!“, sagte ich und musste daran denken, was er Moritz zugebrüllt hatte: 'So was wie du kann nicht zu meiner Familie gehören!' Ein kalter Schauer lief meinen Rücken hinunter.



-Vic-
Es tat gut, dass Sonja da war und trotzdem verstärkte ihre Anwesenheit gleichzeitig den Schmerz und die Schuld. Was ich getan hatte, war unverzeihlich und es tat mir beinahe körperlich weh, ihre Bemühungen um mich zu sehen, wo ich doch wusste, dass ich ein hoffnungsloser Fall war, wo ich gerade einen der liebsten Menschen, die ich hatte, körperlich und seelisch unverzeihlich verletzt hatte. Das war das Letzte gewesen, was ich je hatte tun wollen und ich hatte mir immer gesagt, dass ich meines Lebens nicht mehr würdig wäre, wenn ich einmal etwas dergleichen täte. Und doch hatte ich es getan und ich saß immer noch hier und bemitleidete mich selbst, weil ich nicht den Mut gehabt hatte, mich zur Rechenschaft zu ziehen, mich für mein Verhalten zu bestrafen und meine Mitmenschen vor meinem unkontrollierten Selbst zu schützen.
Hals über Kopf war ich aus dem Haus gestürmt und hatte fest vorgehabt, dem Theater ein Ende zu bereiten. Zitternd fand ich mich irgendwann auf einem Brückengeländer wieder, doch ich konnte einfach nicht springen. So sehr ich auch wollte, ich war wie festgefroren. Immer wieder sah ich mich über meinem kleinen Bruder sitzen und die Fäuste in sein Gesicht schlagen. Er hatte mich einfach nur angesehen. Erst erstaunt, dann entsetzt und schließlich enttäuscht. Dann hatte sich sein Blick verschlossen und er hatte begonnen, sich zu wehren. >'Ich bin schwul! Vielleicht sollte ich ausziehen?! Ich bin schwul! Weil ich schwul bin! Schwul! Schwul! Schwul!'<, hallte Moritz' Stimme in meinem Kopf wider und schien immer lauter zu werden. Ich wollte diese Stimme loswerden, wollte diese Worte nicht mehr hören, ich hielt mir die Ohren zu. Ich versuchte zu schreien, aber ich konnte nicht. Ich fing an zu laufen. Es verfolgte mich.
Schließlich landete ich bei Katharina. Sie ergriff die Gelegenheit beim Schopf, nutzte ihre Chance und bot mir ein bisschen Ablenkung. Ich war ihr sehr dankbar darum, denn es machte mich gefühlstaub und stumpf, zumindest tagsüber wurde die Schuld erträglich. Nachts jedoch verfolgte sie mich weiterhin, ich wachte schweißgebadet und schreiend auf.
Als Katharina mich fragte, was los sei, sagte ich ihr, Sonja hätte mich betrogen und hintergangen, aber es gehe mir jetzt schon wieder etwas besser. Sie fragte nicht weiter nach.
Katharina war generell sehr leicht abzufertigen. Ich glaube, sie war nicht sonderlich intelligent. Man konnte ihr offensichtliche Lügen auftischen und sie nahm es einem einfach ab. Vielleicht konnte sie nicht weiter denken, vielleicht wollte sie es aber auch einfach nicht, ich weiß es nicht. Es interessierte mich allerdings auch nie sonderlich. Durch ihre Art, einfach zufrieden zu stellen zu sein, war mir ihre Gesellschaft meist sehr angenehm. Sie stellte keine Fragen, sie wollte keine tiefgründigen philosophischen Unterhaltungen führen und stellte auch sonst keinerlei intellektuelle Ansprüche, was mir besonders in diesem Moment sehr willkommen war.

Sonja riss mich aus meinen Gedanken, indem sie mich leicht in die Seite boxte. Vor Schreck wäre ich beinahe vom Stuhl gefallen. Verwirrt sah ich zu ihr auf. „Was hast du gesagt?“, fragte ich irritiert. Ich wusste nicht einmal, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte, geschweige denn ob sie mir eine Frage gestellt hatte, die ich nun nicht beantworten konnte. Ihr Blick wirkte unwirsch. Ich fragte mich, wodurch ich sie verärgert haben könnte. Eben noch war ihr Blick so sanft und mitfühlend gewesen und jetzt.... Ich versuchte, meine Gedanken zusammen zu sammeln. Meine Hirnströme flossen wie eine zähe Masse, jeder Gedanke zog sich unendlich in die Länge und ich konnte keinen Gedanken beenden. Alles verschwamm miteinander und bildete einen zähen, undurchdringlichen Nebel. Ich fühlte mich, als wäre mein Kopf ein Labyrinth, in dem ich mich nicht zurechtfand und nicht einmal mehr wusste, aus welcher Richtung ich gekommen war und in welche ich gehen wollte. Ich hatte mich verlaufen zwischen meinen Gehirnwindungen. Verloren gegangen auf den Irrwegen der Gedanken.
Sonja schubste mich ein zweites Mal an. Ihr Blick hatte sich noch weiter verdunkelt. Ich sah, dass ihre Lippen sich bewegten und ich hörte auch ihre Worte, doch mein Kopf weigerte sich, die Laute, die sie aneinanderreihte zu einem sinnvollen kausalen Gefüge zusammenzusetzen. Mit einem Stöhnen ließ ich den Kopf auf die Tischplatte fallen. Ich spürte nichts. Vielleicht war es der Alkohol, der meine Gedanken so vernebelte, nachdem ich die letzten Tage vergeblich auf eine solche Wirkung gehofft hatte, vielleicht war es auch einfach die Verzweiflung oder die Schuld oder die Ratlosigkeit oder alles zusammen. Ich wusste es nicht. Wusste nichts mehr. Plötzlich sehnte ich mich nach meinem Bett, wollte einfach nur noch schlafen. Nicht Fühlen, nicht Denken, nicht Handeln. Pause machen. Ausruhen. Atem schöpfen.

Ein scharfer Schmerz riss mich aus meinem halb weggetretenen Zustand in die Realität zurück. Sonja hatte mit einer Hand in meine Haare gegriffen und mit einem entschlossenen Ruck meinen Kopf von der Tischplatte gerissen und mein Gesicht zu sich hin gedreht. „Gib mir wenigstens eine Antwort!“, fauchte sie mich an. Ihre Augen, die normalerweise die dunkelblaue Farbe des bewegten Meeres hatten und mit ihren hellgrauen Sprenkeln und dem hellgrünen Rand um die Pupille immer an Wellen und Wind erinnerten, waren beinahe schwarz. Mir war nie aufgefallen, dass sich ihre Augenfarbe derart verändern konnte. Fasziniert starrte ich die kleinen dunklen Sprenkel in ihren Augen an. Hatte sie die immer? Ein zorniges Funkeln trat in ihren Blick. Sie schien wirklich wütend zu sein. Ich verstand nur nicht, warum. Was hatte sie mich bloß gefragt? Mit einem flehenden Blick sah ich sie an und hoffte, dass sie die Frage noch einmal wiederholen würde. Sie tat mir den Gefallen. „Ich habe dich gefragt, was so schlimm daran ist, dass er schwul ist!“, sagte sie mit gepresster Stimme. Ich schluckte. Sie hielt immer noch mit einer Hand meinen Kopf an meinen Haaren fest, sodass ich den Kopf nicht wegdrehen konnte. Den Blick abzuwenden war unmöglich. Durchdringend sahen mich ihre dunklen Augen an. Sie würde nicht eher nachlassen, bis sie eine ehrliche Antwort bekommen hatte und sie durchschaute mich verdammt gut, sie wusste sofort, wann ich log und wann sie die Wahrheit hörte. Sich winden brachte also rein gar nichts. Ich seufzte und hob in einer verzweifelten Geste die Arme und ließ sie kraftlos wieder fallen. „Ich weiß es nicht.“, gab ich widerstrebend zu. „Es macht mich einfach rasend!“, ich versuchte den Blick zu senken, doch weil das nicht möglich war, schloss ich einfach kurzerhand die Augen. Ich konnte sie jetzt nicht ansehen. Mit einem resignierenden Seufzen ließ sie meine Haare los, ich senkte den Kopf und rieb mir verlegen meinen schmerzenden Hinterkopf.
Ich kam mir dämlich vor. Machte hier einen Aufstand wegen einer Sache, von der ich noch nicht mal sagen konnte, was genau mir daran nicht passte. Sie vergrub kurz das Gesicht in den Händen und sah mich dann wieder fest an. „Warum?“, fragte sie ruhig. Ihre Augen kehrten langsam zu ihrer ursprünglichen Farbe zurück. Ich hob hilflos die Hände. „Das ist krank! Schwule sind gestört!“, sagte ich, doch ich hörte selbst, wie zweifelnd meine eigene Aussage klang. Glaubte ich das wirklich?
Sonja hatte meine Selbstzweifel natürlich auch herausgehört. „Wie kommst du zu diesem Schluss?“, fragte sie, absolut ruhig und neutral. „Kennst du jemanden, der schwul ist?“ Ich dachte einen Moment nach. Dann schüttelte ich langsam den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“, sagte ich zögerlich. „Also doch, also nein, ich meine....“, ich verhaspelte mich und setzte noch einmal neu an: „Außer Moritz kenne ich Keinen.“ Wieder traf mich hart die Erkenntnis, dass mein kleiner Bruder allen Ernstes schwul war. Es war kein böser Traum gewesen und auch kein blöder Scherz, nein, er war wirklich und leibhaftig schwul. Es schüttelte mich. „Und woher weißt du dann, dass Schule einen Schaden haben? Dass sie krank und gestört sind?“, fragte sie, immer noch in diesem nüchternen Tonfall. Sie sah mich durchdringend an. „Er ist nicht erst seit ein paar Tagen schwul, Vic! Er wurde damit geboren! Er ist kein Anderer als vorher! Er hat sich nicht verändert, nur deine Sichtweise auf ihn hat sich verändert!“, sagte sie ernst. „Du hast dich verändert!“, fügte sie nach einer kurzen Pause leise hinzu und ich sah, dass sich ein Schatten über ihr Gesicht legte, als sie den Kopf senkte und konzentriert auf ihre verschränkten Finger starrte. Ihre Augen glitzerten feucht.
Einen Moment lang sah ich sie nur an. Dann überrollte mich eine Welle der Schande und der Schuld, die mich zu erdrücken drohte. Ich wusste es nicht. Ich hatte es nie gewusst. Ich hatte einfach die Meinung Anderer übernommen ohne selbst auch nur die leiseste Ahnung zu haben, worüber ich eigentlich urteilte. Blind und dumm war ich einfach Anderen gefolgt, hatte angenommen, was sie für richtig und falsch hielten, hatte mir Gut und Böse vorschreiben lassen, war willenlos gefolgt und hatte dabei auch noch die Überheblichkeit besessen, für meine „ganz eigene und selbstständig gebildete und natürlich auch begründete und sorgsam überprüfte Meinung“ jemand anderen zu verletzen, der zu allem Übel auch noch einer der einzigen Menschen war, die mir wirklich etwas bedeuteten, an denen mein Herz hing, durch deren Existenz mein Leben bestimmt wurde, die meinen Lebensmittelpunkt bildeten. Anfang und Ende. Das Nonplusultra. Den Dreh- und Angelpunkt. Den Kern.
Entschlossen sprang ich auf und schnappte mir meine Jacke. Ich hatte etwas wieder gutzumachen!
Und wenn ich die Zeit dazu bringen müsste, rückwärts zu laufen, ich würde es tun, wenn er mir dann verzeihen könnte!



-Alex-
Wie aus dem Nichts tauchte Vic plötzlich einige Zeit, nachdem Sonja weggefahren war, wieder auf. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass sie zu Katharina gefahren war, um ihn abzuholen, doch er kam alleine. Zu Fuß und total atemlos stürmte er in den Vorgarten, an mir vorbei ins Haus und die Treppe hoch. Wo war Sonja? Zwei Sekunden später kam er schon wieder herunter gestürmt. „Wo ist mein kleiner Bruder?“, fragte er nach Luft schnappend. Ich suchte in seinen Augen nach der für ihn typischen unkontrollierten Wut, tastete ihn mit meinem Blick nach verspannten Kiefermuskeln, geballten Fäusten oder angespannten Schultern ab, doch ich konnte nichts dergleichen erkennen. Auch das typische Zittern war nicht auszumachen. Was wollte er? Sein Verhalten weckte mein Misstrauen. „Er ist nicht hier!“, sagte ich zögernd und distanziert und versuchte dabei, auf jedes kleinste Detail seiner Reaktion zu achten. Die Wunde an der Stirn, die ich bei der Auseinandersetzung vor ein paar Tagen davongetragen hatte, begann zu pulsieren, als ich meine ganze Konzentration auf ihn zu richten versuchte.





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