Woher weiß ich, wann es Liebe ist? - The Friend Zone - Teil 8

Autor: Clara
veröffentlicht am: 19.12.2012


Struppi funkelte ihn wütend an. Seine Augen glitzerten gefährlich und seine Lippen bildeten einen schmalen Strich. Langsam beugte er sich über den Tisch und fixierte Vic, seine Brust bebte. Vic schaute ihn mit einem überheblichen Grinsen an und zeichnete weiter provozierend imaginäre Gebilde in die Luft. Sonja sah besorgt aus. Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn und sie legte Struppi eine Hand auf den Arm, doch der stieß sie unsanft weg. Erschrocken zuckte Sonja zurück. „Hey, Jungs…“, setzte sie an, doch Struppi unterbrach sie mit einer abwehrenden Handgeste. „Und du hast was gegen Schwule, ja?!“, fragte er, plötzlich wieder erstaunlich locker und mit einem neckenden Unterton. Dabei gab er seine drohende Körperhaltung auf und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Ich bemerkte, dass seine Hand zitterte, als er die Flasche am Rand des Glases ansetzte. Sonja hatte es ebenfalls bemerkt und zog skeptisch eine Augenbraue hoch, als unsere Blicke sich trafen. Seine Ruhe schien nur Fassade. „Hey…“, setzte Sonja noch einmal an, doch Struppi unterbrach sie, indem er die Wasserflasche so hart auf den Tisch knallte, dass wir erschrocken zusammenzuckten. „Du hast also was gegen Schwule?“, fragte er Vic noch einmal, der sich einfach zufrieden grinsend wieder seinem Teller gewidmet hatte und Struppis Frage einfach ignoriert hatte. Diesmal klang in der Frage unterdrückte Wut mit. Vic sah von seinem Teller auf. „Schwul sein ist widernatürlich! Abartig!“, sagte er, als ginge ihn die ganze Sache nichts an und nahm einen Bissen. Struppis Finger krallten sich um die Tischkante, die Fingerknöchel traten weiß hervor und er atmete stoßweise. „Schwulen gehört eine Gehirnwäsche verpasst, die haben doch einen Schaden!“, sagte Vic abfällig und schüttelte den Kopf, als gebe es jemanden, dessen Aufgabe es wäre, Schwule zu „bekehren“ und der seiner Aufgabe wohl ganz offensichtlich nicht gewissenhaft nachkäme. Struppi machte einen Laut, der klang, als hätte man ihm Schmerzen zugefügt. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske aus Verachtung. Sonja griff nach seiner Hand. Struppi sah sie an und sie schienen über den Blickkontakt eine Unterhaltung zu führen, aus der wir ausgeschlossen waren und die damit endete, dass sich Struppis Finger um ihre Hand schlossen und sich ihre Finger ineinander verschränkten und sie ihm Mut zu machen schien. Vic sah lachend auf. „Komm schon!“, sagte er. „Wir haben ja das Glück, mit keinem dieser Geistesgestörten zusammenwohnen zu müssen!“, sagte er breit grinsend und stand lachend auf, um seinen Teller abzuräumen.
Struppis Blick senkte sich auf die Tischplatte. Seine Körperhaltung versteifte sich und er straffte die Schultern. Ich sah, dass Sonja seine Hand kurz drückte. Immer noch mit dem Blick auf den Tisch gesenkt und gestrafften Schultern sagte Struppi schließlich leise aber entschlossen: „Wenn du wirklich dieser Meinung bist, sollte ich vielleicht lieber ausziehen!“ Vic, der an der Spüle gerade Schüsseln zusammenstellte, lachte verwundert. „Warum solltest du?“, öffnete die Spülmaschine und sortierte die Schüsseln ein. „Weil ich schwul bin!“, sagte Struppi fest und drehte sich ruckartig zu Vic um. Vic fuhr erschrocken hoch und stieß sich dabei den Kopf an der Anrichte. Sich stöhnend den Kopf haltend, richtete er sich auf und sah Struppi entsetzt an. „Bitte was?“, fragte er, in seiner Stimme lag Ungläubigkeit über das, was er da gerade gemeint hatte gehört zu haben. „Ich bin schwul!“, sagte Struppi mit einem leichten Beben in der Stimme und sah Vic fest an. Der stolperte einen Schritt zurück und lehnte sich gegen die Anrichte. „Nein!“, sagte er. „Das kann nicht sein!“, er sah Struppi beinahe flehend an. „Ich bin schwul!“, sagte Struppi und machte eine hilflose Geste mit den Armen, ließ sie wieder fallen, wartete auf eine Reaktion. Doch Vic stand einfach nur da und starrte ihn an. Struppi sah mich an, er sah Marc an, der sich grundsätzlich aus den meisten Sachen raushielt, sah, dass wir keine besondere Reaktion zeigten - zumindest ich hatte diese Vermutung schon eine ganze Weile gehabt und war deswegen nicht sonderlich überrascht und Marc schien es relativ egal zu sein. Also wendete er sich wieder Vic zu, der immer noch regungslos dastand. „Ich bin schwul!“, sagte Struppi mit ausgebreiteten Armen, beinahe frohlockend und drehte sich einmal im Kreis.
Da platzte Vic der Kragen. Wie ein Raubtier ging er auf seinen kleinen Bruder los. Noch bevor wir reagieren konnten, hatte er ihn auf den Boden geworfen, saß auf seiner Brust und schlug ihm in unkontrollierter Wut die Fäuste ins Gesicht.


-Sonja-
Auf einmal ging alles ganz schnell. Vic sprang Struppi an, warf ihn zu Boden und schlug zu. Hart und unbarmherzig, ohne Rücksicht auf Verluste. Mitten ins Gesicht. Erbarmungslos. Ich glaube, ich fing an zu schreien. Dann fing Struppi an, sich zu wehren und nur wenige Sekunden später hatten Alex und Marc die Beiden auseinandergezerrt und Vic zu zweit an der Wand fixiert. Vic bebte vor Wut, er schrie und tobte, riss an den Armen, die ihn unbarmherzig festhielten. Struppi versuchte sich aufzurichten, er hielt sich die Schulter und seine Nase blutete. Als Alex mir einen Blick zuwarf, der sagte, ich solle mit Struppi den Raum verlassen, sah ich, dass er über der Augenbraue ziemlich heftig blutete und wohl ein riesiges Veilchen davontragen würde. Er und Marc hatten alle Mühe, den tobenden Vic unter Kontrolle zu halten.
Ich befand mich in einer Art Blase. Nur die Hälfte von dem, was geschah, reichte an mich heran, ich fühlte mich taub. Alle schienen sich in Zeitlupe zu bewegen. Wie ein alter Kaugummi zogen sich die Sekunden hin. Gebrüllte Wortfetzen erreichten mein Ohr wie durch Watte. „…verabscheue dich! ... schämen…sterben…nie wieder…Verschwinde! .... “, drangen einzelne Worte aus Vics Wutausbruch an mein Ohr. Und dann ein Satz, der mich noch jahrelang verfolgen sollte, obwohl er nicht an mich gerichtet gewesen war: „So was wie du kann nicht zu meiner Familie gehören!“
Die Blase platzte. Die Geschwindigkeit der Zeit holte mich mit einer solchen Wucht wieder ein, dass es mich beinahe von den Füßen riss. Ich warf Vic einen verachtenden Blick zu, half vorsichtig dem sprichwörtlich am Boden zerstörten Struppi auf und wir schlossen uns gemeinsam in seinem Zimmer ein. Er vergrub das Gesicht in den Händen. Wir schwiegen.
Ein paar Minuten hörten wir noch Vic unten im Haus wüten. Geschirr zerbrach, etwas polterte, ein schwerer Gegenstand schien umzufallen, irgendetwas schien gegen die Wand geworfen zu werden, wir hörten Stimmengewirr und immer wieder Flüche und Schreie. Dann trat eine gespenstische Stille ein.


Am nächsten Morgen war Vic verschwunden.
Struppi und ich hatten die ganze Nacht in seinem Zimmer gesessen und geredet. Seine Koffer waren gepackt, er wollte nicht länger hier wohnen, ich hatte ihn nicht zum Bleiben überreden können. Er hatte sich noch in der Nacht mit einer von uns zusammengestellten Fotomappe via Internet bei mehreren Unis für ein Fotografiestudium eingeschrieben und ich hatte ihm ein Zimmer bei einem Freund besorgt, bei dem er erstmal ein paar Tage bleiben konnte, bis wir etwas Dauerhaftes für ihn gefunden hatten.
Seine Schulter war wahrscheinlich gezerrt und er hatte eine geschwollene Nase und einen großen Bluterguss im Gesicht, aber er war wohl aufgelegt und man sah ihm deutlich an, dass mit seinem Geständnis eine große Last von ihm abgefallen war. Nur hin und wieder huschte ein Schatten über sein Gesicht, doch dann schüttelte er entschlossen den Kopf und das neu gefundene Strahlen kehrte auf sein Gesicht zurück.
Ich spürte einen Stich im Herzen, als er seine Sachen im Auto verstaut hatte und sich von uns verabschiedete. „Mach’s gut! Und pass auf dich auf!“, sagte ich, halb weinend, halb lachend und vergrub den Kopf an seiner Schulter und sog noch einmal seinen Geruch ein. „Ich bin ja nicht aus der Welt!“, sagte er lachend und küsste mich zum Abschied auf die Stirn.
Alex und ich standen noch lange auf der Straße und sahen in die Richtung, in die er davongefahren war.

Er kam oft vorbei. Und er blieb der Alte, nur irgendwie reifer. Er war erwachsen geworden.
Niemand nannte ihn mehr Struppi. Er brauchte einen Namen, der ihm gerecht wurde und keine kindhafte Verniedlichung, die an daran zweifeln ließ, ob er ernst zu nehmen sei.
Moritz wurde sofort an der Uni angenommen und galt schon nach zwei Tagen als DER Fotograf von morgen. Ich glaube, er bereute keine Sekunde seines Lebens diese Entschlüsse, die wir zusammen in jener Nacht gefasst hatten.


-Vic-
Ich wusste nicht, was mich mehr aus der Bahn warf; Dass mein einziger Bruder ausgerechnet schwul war – ich meine, er hätte ja vieles sein können, aber musste es unbedingt schwul sein? – oder, dass es außer mir jeder gewusst oder zumindest geahnt zu haben schien. War ich einfach zu blöd gewesen oder hatte ich es einfach nicht sehen wollen?
Ich wusste, dass meine Toleranzgrenze eh schon sehr niedrig angesetzt war und ich hatte ernsthaft versucht daran zu arbeiten, aber schwul? Ich kam mir vor, wie in einem billigen Groschenroman; ein armer Künstler, der sich als schwul bekennt und dafür von seinem schrecklichen großen Bruder verstoßen wird, der als Einziger die ganze Zeit nichts davon geahnt hatte und für immer die Schlüsselfigur zum unumgänglichen Scheitern des kleineren Bruders sein wird. Immer wird er der Böse sein, der Zornige, der Unberechenbare, der Unglück Bringende! Und immer wird er das Glück des Jüngeren zerstören.
Das wollte ich ganz und gar nicht, aber wer war schon bereit, sich mit meiner Perspektive auseinanderzusetzen? Immer galt man gleich als der Böse, nur weil man mit etwas nicht zurechtkam!


-Sonja-
Vic hatte sich zu Katharina geflüchtet und Trost gesucht. Nachdem er drei Tage lang unauffindbar und unerreichbar gewesen war, war ich über meinen Schatten gesprungen und hatte sie angerufen, nachdem ich erfolglos alle seine Freunde und Bekannten durchtelefoniert hatte.
Mit melodisch flötender Stimme hob sie ab und trällerte mir ein gut gelauntes „Hey! Wie geht’s?“ ins Ohr. Ich war kurz davor direkt wieder aufzulegen. „Hey!“, antwortete ich nach kurzem Zögern und versuchte, nicht genervt aufzustöhnen. „Ist Tim zufällig bei dir? Ich kann ihn nicht erreichen!“ Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann antwortete sie schnippisch: „Ja, rein zufällig ist er hier bei mir, aber ich glaube nicht, dass er daran interessiert ist, mit dir zu reden!“ Ich meinte, eine Spur Triumph in ihrer Stimme mitschwingen zu hören.
Die Erleichterung darüber, dass ihm nichts passiert war, wurde von der Wut auf ihn, sich ausgerechnet bei Katharina zu verkriechen und von einem aufkommenden Eifersuchtsanfall beinahe erstickt. Ich versuchte, mich zusammenzureißen und schluckte mehrmals hart. „Könntest du ihn wenigstens mal fragen, ob er mit mir sprechen möchte?“, fragte ich höflich bittend. Sie atmete hörbar laut aus, ich sah sie bildlich vor mir, wie sie die Augen verdrehte. Dann flötete sie so laut, dass ich erschrocken den Hörer ein Stück vom Ohr weg hielt: „Timmylein, kommst du mal bitte? Sonja würde gerne mit dir sprechen!“, dabei betonte sie meinen Namen so abwertend, dass es klang, als rede sie von jemandem, der ein schweres Verbrechen begangen hatte. Dass sie ihn ‚Timmylein’ rief, brachte mich beinahe zum Überkochen. Ich hatte Mühe, sie nicht anzubrüllen, hielt den Hörer verkrampft fest und biss mir auf die Zunge, um bloß nichts Falsches zu sagen.
„Timmyschatz, Sonja möchte mit dir reden. Du musst aber nicht rangehen! Wenn du willst, dann sage ich ihr, dass sie dich endlich in Ruhe lassen soll!“, hörte ich sie von weit weg sagen. Ich vermutete, sie hielt den Hörer nicht zu und ich unterstellte ihr dabei volle Absicht. „Ist schon okay, gib her!“, hörte ich Vic von weit weg antworten. „Du musst wirklich nicht, Schatz!“, sagte sie noch einmal und betonte dabei das ‚Schatz’ besonders, damit ich es auch ja mitbekäme. „Ich kann ihr sagen, dass sie verschwinden soll!“, sagte sie beinahe flehend, doch Vic erwiderte genervt: „Jetzt gib schon her, ich komme klar!“ und schickte sie unwirsch aus dem Raum. „Hey!“, sagte ich stockend und bekam ein leises „Hey!“ als Antwort. Ich lauschte seinem Atem und Erleichterung machte sich in mir breit. Ich hatte vergessen, was ich ihm hatte sagen wollen, wenn ich ihn wirklich erreichen würde. Wir schwiegen gemeinsam einige Minuten lang. Dann sagte ich leise: „Komm bitte wieder nach Hause!“ und legte auf. Im letzten Moment hatte mich dann doch der Mut verlassen.
Tränen schossen mir in die Augen und ich drehte mich zu Alex um, der hinter mich getreten war und schmiegte mich an seine Schulter. Beruhigend strich er mir über den Kopf und schloss mich in die Arme. Ich riss mich zusammen und unterdrückte die Tränen, die Wut und die Eifersucht. Weinen würde jetzt auch nicht helfen! Probleme lösten sich nicht von alleine!
Entschlossen löste ich mich aus der Umarmung, schnappte mir Jacke und Schuhe, griff nach dem Autoschlüssel und ging entschlossenen Schrittes mit Charlie zum Auto.
Alex sah uns verwundert hinterher, doch ich meinte zu sehen, dass ein leichtes, zufriedenes Lächeln seine Lippen umspielte.





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