Seelenleser - Teil 6

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 16.02.2012


Moira wusste nicht, was sie dazu veranlasste, der Vereinbarung mit Aidan nachzukommen- vielleicht die Aussicht, dass er sie in Ruhe lassen würde? Oder dass er ihre intimsten Geheimnisse nicht mehr nach nur einem Blick würde enthüllen können, als wären sie auf einem Silbertablett serviert. Jedenfalls betrat sie um viertel nach Fünf an diesem frühen Abend das Café, welches den schlichten Namen „Brooklyn Café“ trug.
Er saß bereits an ihrem Stammtisch und lächelte sie schon von weitem an.
Seufzend ließ sie sich ihm gegenüber auf die Bank sinken und fügte sich dem Unvermeidlichen.
„Also, was wollen Sie-“
„Was möchtest du trinken?“, unterbrach er sie, während er die Karte vor sich auf dem Tisch studierte.
„Äh… trinken? Nein, ich will nichts tr-“
„Einen Latte Macchiato, einen Cappuccino- die sollen hier übrigens sehr gut sein- oder vielleicht doch den schwarzen?“
Moira schüttelte verwirrt den Kopf. Sie war ziemlich erschöpft von der Arbeit, also sagte sie ergeben: „Dann nehme ich den schwarzen.“
Aidan bestellte für die beiden und dann saßen sie sich ein paar Minuten gegenüber und schwiegen. Er betrachtete sie mit dem üblichen Lächeln, das viele andere Frauen zum Schmelzen gebracht hätte. Doch es lag auch etwas Neues in seinem Blick. Eine Art Neugier, die bei Moira leichtes Unbehagen auslöste.
„Lesen Sie meine Gedanken?“, fragte sie schließlich nach schier endloser Zeit.
„Nein, so unanständig bin ich nicht.“ Er grinste.
Sie durchbohrte ihn mit ihrem Blick. „Wer sind Sie?“
Er schaute sie gespielt verwirrt an. „Also mein Name ist Aidan Adams, ich bin neunundzwanzig Jahre alt-“
„Sie wissen doch genau, was ich meine!“ Sie fühlte, wie ihr wider Willen Tränen in die Augen stiegen. „Wer sind Sie wirklich? Was tun Sie mit mir? Wie können Sie wissen, was ich denke, was ich fühle, wie…“
Moira brach ab um nicht hysterisch zu werden. Sie zwang ihre Tränen zurück und suchte Aidans Blick. Das Lächeln war einem ernsten Ausdruck gewichen, den sie noch nie an ihm gesehen hatte. Er sah beinahe traurig aus. Die Bedienung brachte die Kaffees, aber weder Moira noch Aidan rührten ihre Tassen an.
„Ich habe es zum ersten Mal bemerkt, als ich fünf war“, sagte er und fixierte Moira dabei mit den Augen. „Ich kann mich noch genau erinnern. Damals war es ein ganz neues, ungewohntes Gefühl, aber als Kind geht man anders damit um, als Erwachsener. Zum ersten Mal ist es mir aufgefallen, als ich damals eine Tasse meiner Mutter zerbrach. Es war ein Versehen, ein Missgeschick, das beim Spielen passierte. Aber es war ihre Lieblingstasse und sie hat damals fürchterlich getobt und geschrien. Als ich dann die Scherben aufgefegt hatte, bin ich zu ihr hingegangen. Sie stand an der Spüle. Sie wusste, dass ich es nicht mit Absicht getan hatte, aber ich hab eben ständig so etwas gemacht. Hab kleinere Sachen umgestoßen, oder ein Glas auf der sauberen Tischdecke umgekippt.“ Er hielt kurz inne und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Weiter“, hörte Moira sich sagen. Es war mehr ein Hauchen.
„Jedenfalls stand sie dort an der Spüle und ich hatte fürchterliche Angst, dass sie es meinem Vater erzählen könnte, wenn er nach Hause kam. Also umarmte ich sie, oder eher ihre Beine, denn weiter als bis zur Hüfte reichte ich ihr nicht. Ich entschuldigte mich am laufenden Band mit meiner kindlichen hohen Stimme. Irgendwann ging sie neben mir in die Hocke, umarmte mich steif und sagte nur ´schon gut. ´ Ich war schon erleichtert und die Aussicht auf die Prügel meines Vaters verblasste langsam. Aber dann hörte ich ihre resignierte Stimme. ´Der Junge bringt mich noch ins Grab´. Aber das Seltsame dabei war, dass sich ihre Lippen keinen Millimeter bewegten. Ich schaute ihr dabei direkt ins Gesicht, hatte den Satz laut und deutlich gehört, aber… sie sagte es eben nicht!“
Moira hatte die ganze Zeit über die Luft angehalten. Jetzt stieß sie sie mit einem leisen Pfeifen aus. Sie merkte gar nicht, wie sie an seinen Lippen hing. Bevor sie ihn dazu auffordern konnte, weiter zu reden, tat er es.
„Als Teenager hatte ich natürlich meinen Spaß an dieser Fähigkeit. Ich nutzte sie aus und machte mir über Jahre hinweg auf Kosten anderer ein schönes Leben. Ich habe aufgehört, meine Affären zu zählen. Die Frauen, denen ich begegnet bin, hatten letzten Endes doch alle dieselben Gedanken, egal wie nett und unschuldig sie auf den ersten Blick wirkten.
Aber dann hab ich dich gesehen…“
Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand, sie ließ es geschehen, und er hüllte sie mit seiner Hand ein.
„Du warst von Anfang an völlig anders. Vom ersten Augenblick an, als ich dich hinter der Zeitung versteckt in diesem Café sitzen sah, wusste ich, dass du anders bist. Du warst ängstlich und abweisend, ganz im Gegensatz zu all den anderen Frauen, denen ich begegnet bin. Deine und ihre Gedanken hatten nicht im Mindesten etwas gemeinsam. Ich wusste es von Anfang an.“
Moiras Augen brannten und sie fühlte, wie sich die Tränen nicht länger halten konnten, über ihre Wange rannen und vom Kinn auf den Tisch fielen. Sie hätte niemals ihre Gefühle beschreiben können, die sie in diesem Moment empfand. Sie schaute nur in Aidans Augen, in diese unnatürlich schwarzen Augen, und war unfähig sich zu bewegen.
„Jetzt weißt du alles, was du wissen wolltest“, sagte er. „Ich lasse dich ab jetzt in Ruhe… für immer.“
Seine wärmenden Hände zogen sich von den ihren zurück, er stand auf und verließ das Café.
Moiras Mund stand einen Spalt offen und ein Schleier von Tränen vernebelte ihr die Sicht. Sie hob leicht die Hand, die Aidan gerade noch mit seinen wunderbaren angenehmen Händen umfasst hatte, und ließ sie schlaff wieder sinken.
In diesem Moment wirbelten tausende verschiedene Gedanken und Gefühle in ihrem Kopf herum, keines davon konnte sich hervorheben. Moiras Stimmung hätte man wahrheitsgetreu als verstört beschreiben können. In ihrem Kopf wollte sich ein Gedanke, eine Überlegung formen, wurde jedoch sofort wieder von zahlreichen anderen überlagert.
Sie umfasste die warme Tasse mit beiden Händen, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Doch die Wärme der Keramiktasse erinnerte sie sofort an Aidans wohltuende Berührung und die Tränen flossen ihr in kleinen salzigen Tropfen über die Wange.
Sie weinte lange und leise, umklammerte die Tasse so lang, bis der Kaffee völlig kalt geworden war.






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