Stille Schreie - Teil 2

Autor: Madame Batman
veröffentlicht am: 24.11.2011


Brenda Callaghan deckte das starre Gesicht des Mannes wieder zu und schob ihn mit einiger Anstrengung in den Leichenkühlschrank zurück. Hier in der Pathologie fühlte sie sich wohl. Die Toten waren ihr sympathischer als die Lebenden. Sie schauten sie nicht schief an, versuchten nicht, ihr irgendetwas beizubringen und vor allem- sie sagten nichts. Die Stille in dem sterilen Obduktionssaal war für Brenda ein Traum.
Die Tür öffnete sich und ein Mann trat ein. Er schien Mitte dreißig zu sein, hatte das markante Gesicht und den durchtrainierten Körper eines Polizisten. Seine stahlblauen Augen inspizierten den Saal und fanden Brenda schließlich. Mit energischen Schritten ging er auf sie zu.
»Brenda Callaghan?« Eine tiefe, sonore Stimme.
»Ja. Und darf ich fragen wer Sie sind, ohne anzuklopfen hier reinzustürmen?«
Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, jedoch kein freundliches. »Detective Jake Lee, MPDC« stellte er sich vor und wies sich aus. Eine knappe Handbewegung zur Tür und eine der typischen Tragen, auf denen man Leichen zur Autopsie transportierte, wurde hereingeschoben. Der Körper darauf war durch ein weißes Tuch abgedeckt, aber Brendas geschultes Auge erkannte sofort den zierlichen Körper einer Frau.
Detective Lee deutete auf die Trage. »Das Mädchen wurde heute Morgen von einer Miss Calvert im Wald nahe dem Highway gefunden.«
Er warf das Laken zurück und musterte mit berechnender Kälte das entstellte Gesicht einer jungen Frau. Brenda wusste, dass er von ihr eine ebensolche Professionalität erwartete, immerhin waren Leichen ihr Beruf, doch trotz ihrer jahrelangen Erfahrung musste sie kurz den Blick abwenden. Es war nicht die Fäulnis in diesem einst schönen Gesicht, die ihr so zu schaffen machte und es waren auch nicht die klaffenden Wunden an den Wangen. Vielmehr war es die traurige Erkenntnis, dass immer mehr junge Menschen aus dem Leben gerissen wurden. Diese junge Frau war- das erkannte Brenda auf den ersten Blick- in der Blüte und Schönheit ihrer Jahre, hatte noch das gesamte Leben vor sich gehabt. Jetzt war ihr Körper von einer Kälte befallen, die sie nie mehr loslassen würde. Das erschien Brenda nicht fair.
»Die Todesursache ist nicht eindeutig« fuhr Jake Lee fort. „Wir haben Schürfwunden und kleine flache Einstiche gefunden, aber das könnte auch von einer Fluchtreaktion kommen.«
»Haben Sie die Frau verhört, die sie gefunden hat?«
»Ja, sie ist völlig verstört. Ihr Hund hat sie zum Fundort geführt.«
Brenda sah die Leiche an. »Hat sie auch einen Namen, Detective Lee?«
»Ja, wir konnten anhand ihres Personalausweises den Namen feststellen. Sie hieß Julia Walsh und war fast ausgebildete Erzieherin am St. Catherines Kindergarden.“
Brenda musterte den Detective. Keine Regung, kein Zeichen von Mitgefühl. Das war sein Job.
»Hatte Sie Verwandte oder Freunde, die davon wissen?« fragte sie.
Lees Blick verhärtete sich. »Das ist nicht Ihre Sache, Mrs. Callaghan. Sie sind Gerichtesmedizinerin und keine FBI Agentin. Wir kümmern uns schon um die Angehörigen der Toten.«
Brenda schluckte eine Verwünschung herunter. >Sie heißt Julia, du Arschloch<, dachte sie. Schon jetzt bei ihrer ersten Begegnung empfand sie eine herzliche Antipathie für den Detective.
Sie räusperte sich.
»Sie haben etwas von Fluchtreaktion gesagt. Denken Sie da an-«
»Mord, ja« unterbrach sie Jake Lee. »Mord ist häufig der Grund, aber wir wissen es wie gesagt noch nicht genau. Deswegen sollen Sie, Mrs. Callaghan, die Leiche autopsieren und nach möglichen Ungewöhnlichkeiten suchen.«
Mord. Brenda hatte schon viele Mordfälle gehabt, aber bis jetzt hatte ihre Aufgabe nur darin bestanden, die Leichen zu autopsieren. Die ermittlerische Arbeit wurde immer von der Mordkommission übernommen.
Sie betrachtete die junge Frau und ihr wurde klar, dass dies hier etwas anderes war. Mitleid stieg in ihr auf und das war es auch, was diesen Fall von den anderen unterschied. Alle Mordfälle bis jetzt hatte sie mit der Gleichgültigkeit behandelt, die ihr Beruf erforderte. Sie musste ihre Fälle, selbst wenn es Kinder waren, von der rein pathologischen Seite sehen. Es ging nicht anders. Hätte Brenda die Geschichten und Vergangenheiten all der Menschen, die sie autopsierte, an sich herangelassen, wäre sie verrückt geworden und daran zerbrochen. Doch diese junge Frau berührte sie auf eine seltsame Weise. Brendas Blicke wanderten das Gesicht herauf. Die Lippen mussten einmal schön und voll gewesen sein und die Nase hatte immer noch einen feinen Schwung. Die weit aufgerissenen Augen waren von eisblauer Farbe und die Wimpern- Brenda stockte in ihrem Gedankengang und betrachtete die Stirn und die Augen. Da fehlte doch etwas! Sie sah genauer hin, aber sie hatte sich nicht geirrt. Tatsächlich…
»Die Augenbrauen und Wimpern fehlen« murmelte Brenda.
»Wie bitte?«
Sie deutete auf die Stirn und sah den Detective an. »Sie hat keine Augenbrauen und Wimpern.«
Jake Lee zog eine Augenbraue hoch und musterte die Leiche. »Ja« sagte er schließlich. »und ich erwarte von Ihnen, uns weitere ähnliche Auffälligkeiten zu melden.«
Brenda sah ihn scharf an. »Ich mache das hier nicht zum ersten Mal, Detective Lee. Ich weiß sehr wohl, was ich zu tun habe.«
Scheinbar war er nicht zu Wortgefechten aufgelegt, denn er hob nur kurz eine Hand und wandte sich zum gehen. Vorher zog er noch einen kleinen weißen Zettel aus der Jackentasche und gab ihn Brenda.
»Das ist meine Nummer. Rufen Sie mich an, falls Sie etwas finden.«









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