Stille Schreie

Autor: Madame Batman
veröffentlicht am: 22.11.2011


"Nicht das, was wir im Inneren sind, zählt...denn das, was wir tun, zeigt, wer wir sind."
- Bruce Wayne alias Batman
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Der Wald lag still in seiner morgendlichen Unberührtheit. Ein feiner nebeliger Schleier hing über dem Boden. Er war so niedrig, dass er nur knapp bis über die Knöchel ging und war schon dabei, sich langsam zu verziehen. Ein paar Raben saßen in den Baumkronen und noch waren die Wege leer. Josefine Calvert, eine junge Frau, joggte gemütlich einen verschlungenen Pfad entlang. Ihr kleiner Yorkshire Terrier Claude lief hechelnd vorweg. Es war ihr alltägliches Morgenritual. Sie beide liebten diesen Wald mit seinem herrlichen Duft nach Natur und dem Wind, der durch die Baumkronen rauschte.
Der Weg wurde leicht abschüssig, als Josefine ihre Hündin aus den Augen verlor. Sie hörte nicht auf zu laufen aber ihre Augen suchten hektisch in dem flachen Nebel.
»Claudie?«
Keine Antwort, kein Bellen. Noch nicht einmal ein Winseln.
»Claudie?« rief die junge Frau wieder und lief schneller. Ihr Herz raste. Sie musste sich im Nebel verirrt haben. Aber da tauchte ein weißer verschwommener Punkt vor ihr auf und ein Rascheln war zu hören.
Claude war vom Weg ins dichte Blätterwerk gelaufen, wo Josefine sie auch entdeckte.
»Claudie, da bist du ja« sagte sie erleichtert und ihr Herz begann wieder normal zu schlagen. »Was suchst du denn dort?«
Das Verhalten der Hündin war seltsam. Sie schnüffelte an Blättern und schob mit ihrer schwarzen Schnauze Äste und Zweige beiseite. Sie schien eine Spur zu verfolgen, denn sie führte ihre Herrin immer weiter ins Unterholz.
Josefine lief ihr hinterher. »Hast du etwa einen anderen Hund gewittert?«, fragte sie und beobachtete Claude. Plötzlich fing diese an, lautstark zu schnüffeln und beschleunigte ihr Tempo, bis sie an einem morschen umgekippten Baumstamm stoppte. Mit einem Satz sprang sie darauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.
»Nein Claudie! Komm wieder zurück!« rief Josefine. Doch sie bekam als Antwort nur ein Winseln. ´Verdammter Hund´, dachte sie und zog sich an dem Baumstamm hoch. Sie ächzte leise. Er war vom Moos ganz feucht und rutschig. Der Ekel lies Josefine so schnell wie möglich wieder runterspringen. Kaum hatten ihre Füße den weichen Boden berührt, erklang wieder Claudes Bellen und Winseln. Mürrisch wischte sich die junge Frau die Hände an der Jogginghose ab und folgte den Geräuschen, zu denen sich jetzt ein leises Scharren gesellte.
Claude stand bei einem kleinen Himbeerstrauch und sah sie erwartungsvoll an. Mit heraushängender Zunge deutete sie auf den Waldboden vor sich. Genervt lies sich Josefine neben ihrer Hündin nieder.
»Was hast du denn da wieder gefunden« murmelte sie. Der Nebel verzog sich langsam und ihr war kalt. Claude stieß ein leises Bellen aus und sah sie gespannt an. »Na gut, lass mich mal sehen.«
Josefine schob die feuchten Blätter etwas beiseite- und sprang mit einem lauten Schrei auf.
Zwischen morschem Holz und Blättern starrten sie ein paar kalte tote Augen an. Die eisblaue Farbe der Iris prägte sich für immer in ihrem Kopf ein. Claude fing wieder an zu bellen. Für ihren Fund erwartete die Hündin eine Belohnung. Doch Josefine ignorierte das Winseln. Diese Augen nahmen ihren Blick gefangen, ließen ihre Bewegungen erstarren.
Sie wollte etwas sagen, vielleicht »oh mein Gott«, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatte nur die Augen gesehen, aber sofort wusste Josefine, dass dort auf dem feuchten Waldboden eine junge Frau lag. Doch sie konnte und wollte diese Grauen nicht begreifen. Ein Mensch gehörte einfach nicht unter dichtem moderndem Blätterwerk vergraben. `Vielleicht ist es auch nur ein toter Hase, oder ein Eichhörnchen oder ein…´, ging es ihr durch den Kopf. Sie schaffte es irgendwie, sich aus der Starre loszureißen. Mit zitternden Händen nahm sie einen Zweig und begann, die braunen Blätter langsam zu entfernen. Durch einen Schleier von Angst und Tränen sah sie eine fein geschwungene Nase und Lippen, die einmal voll und rot gewesen sein mussten.
Ein Schrei des Entsetzens drang in ihre Kehle. Fäulnis hatte dieses anmutige Gesicht entstellt, hatte es zu einer Maske des Grauens erstarren lassen. Die viel zu bleiche Haut war von Totenflecken übersät, bläuliche Punkte, die sich grässlich abhoben. Teile der Wange fehlten und an diesen Stellen schimmerten weiße Knochen hindurch. Josefine unterdrückte den Würgereiz, als sie die grauenvoll zerfleischten Lippen betrachtete. Ihre allzu lebhafte Fantasie zeigte ihr Raben und Krähen, die diese schönen Lippen zerhackten, Stücke herausrissen und sie sich einverleibten.
Zwischen dem langen rötlich schimmernden Haar hingen Blätter und Äste und sie waren mit Dreck verschmiert.
Der Zweig fiel Josefine aus der Hand, als der Würgereiz zu stark wurde. Mit einem Satz war sie an dem Himbeerstrauch und übergab sich ins dichte Geäst. Claude merkte, dass mit ihrer Herrin etwas nicht stimmte, denn ihr penetrantes Bellen ging in ein leises Fiepen über.
Der jungen Frau schwindelte es vor den Augen. Ihr innigster Wunsch in dem Moment war es, diese Leiche nie gefunden zu haben. Sie ließ sich auf einen Stein fallen, denn ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen. Der Ekel, den sie vor dem kalten, feuchten Moos auf dem umgekippten Baumstamm gefühlt hatte, war nichts im Gegensatz zu ihrem jetzigen Empfinden. Sie konnte die Augen nicht von der Frau abwenden. Zu sehr hatte sich dieses Bild in ihren Kopf eingebrannt, zu sehr nahm es sie gefangen. Josefine öffnete den Mund, aber anstatt dem Wort ´Scheisse´, das ihr auf der Zunge lag, kam nur ein leises Röcheln.
Sie hatte schon mehrere Male eine Leiche gesehen. Ihre beiden Großeltern, ihre Tante. Aber sie alle hatten so friedlich ausgesehen auf ihrem Totenbett, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen, ein kleines Lächeln auf den Lippen. Aber das war etwas Anderes gewesen. Auf ihren Gesichtern waren keine Flecken, kein Ausdruck der Verzweiflung die sie empfunden haben mussten, in der letzten Minute ihres Lebens. Nein. Dies hier war etwas Anderes.
Claude saß hechelnd vor ihr und sah sie ungeduldig an. ´Wenn du nur wüsstest, was du getan hast´, dachte Josefine und schaute in die treuen Hundeaugen. Nachdem der erste Schock des Fundes überwunden war- richtig verkraften würde sie es nie- kramte sie mit zitternder Hand ihr Handy aus der Tasche und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
Sie drehte sich so, dass sie die Leiche nicht mehr sehen konnte. Ein einziger Blick noch, und sie wäre durchgedreht. Drei Anläufe waren nötig um die Nummer vom MPDC, der Kriminalpolizei, zu wählen.
Das Klingeln aus der Leitung kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Als dann schließlich eine routinierte Frauenstimme erklang, war ihre Kehle wieder wie zugeschnürt. Sie versuchte, etwas zu sagen, sich dieses Grauen von der Seele zu reden, aber wieder kam nichts.
»Hallo?« wiederholte die Frau.
»I- ich…ich« es kam nur ein verzweifeltes Krächzen heraus.
»Wie bitte?« Josefine hörte die Stimme nur undeutlich. Das musste an der schlechten Verbindung im Wald liegen.
Sie blinzelte. Der Nebel hatte sich verzogen und die ersten Strahlen der Sonne brachen durch die Baumkronen. Die junge Frau seufzte und schloss die Augen. Schließlich gelang es ihr, die schicksalsschweren Worte über die Lippen zu bringen.
»Ich…ich habe eine Leiche gefunden.«





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