Die Gefährtin

Autor: Lilly
veröffentlicht am: 23.09.2011


Müde, von dem zehnstündigen Flug saß sie auf einer unbequemen Bank in der Ankunftshalle vom Orlando Flughafen und beobachtete die Menschen um sich herum. Sie sahen sich erwartungsvoll um, freudig darüber, gleich jemanden wieder zu treffen, der lange Zeit nicht da war. Kinder hüpften herum, sangen und sprangen an ihr vorbei und verzweifelte Eltern versuchten sie unter Kontrolle zu bekommen. Ein Pärchen stritt sich lauthals, sie sprachen Italienisch und Louis glaubte, gleich würde sie ihn Ohrfeigen.
Erschöpft blickte sie nach oben und sah sich die zehnstöckige Halle an, mit seinem Glaskuppeldach. Die Plastikpalmen in der Halle sollten wohl ein gewisses Grad an Urlaubsgefühl verbreiten und bei manchen gelang es sogar.
Immer wieder sah sie auf die Uhr und schnaufte schwer durch den Mund. Wo steckten sie nur? Sonst waren sie immer die überpünktlichsten, aber heute, jetzt wo sie so unbeschreiblich erschöpft war, ließen sie auf sich warten.
Fast schon geistesgegenwärtig zog sie ein Buch aus ihrer Tasche und hielt es einen Augenblick unschlüssig in ihren Händen. Es war ein Geschenk von einem völlig Fremden. Er kam in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens auf sie zu. Er sah Arm aus, seine Kleidung war zerschlissen und schmutzig. Er war dünn und roch nicht besonders gut, hauptsächlich nach Alkohol und zuerst dachte Louis er wollte ihr etwas verkaufen, oder um etwas Geld bitte und so kramte sie schon in ihrer Hosentasche in der sie noch zwei Euro hatte, doch er meinte nur:“ Ein Geschenk für ein hübsches Mädchen“, und schon hatte sie dieses Buch in ihren Händen und er war urplötzlich verschwunden. Im ersten Moment wollte sie es weg werfen, sie hielt es schon über einen Mülleiner, doch dann entschied sie sich noch einmal anders, ohne zu wissen weshalb und steckte es fast schon abwesend in ihre Tasche.
Sie hatte es schon fast vergessen, doch viel es ihr jetzt wieder ein und nun während sie wartete, begann sie darin zu lesen. Zuerst etwas gelangweilt, doch dann immer mehr interessierter. Etwas Seltsames machte sich in ihrem Magen breit, ein Gefühl des Nach Hause kommen. Das verwirrte sie für eine Sekunde, sie blickte verwundert von den Zeilen auf, doch schnell schüttelte Louis es wieder ab und versuchte unbehelligt weiter zu lesen.


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1704

Die Dunkelheit schlug über sie ein, wie die Wellen einer starken Brandung. Ihr Herz hörte für einen Augenblick lang auf zu schlagen und in ihrem Kopf begann es zu rauschen. Ihr Körper war leer, jegliches Gefühl schien verschwunden zu sein. Nichts war mehr da, nicht einmal die Tränen, die sie sich in diesem Moment so sehr wünschte.
Starr stand sie da und blickte in die Gesichter fremder Männer. Jener Männer, die ihr vom Tod ihrer Eltern berichteten, vom Tod ihres Bruders und ihrer Schwester. Vom Feuer, das alles was sie jemals kannte und liebte, in Rauch und Asche verwandelte. Unweigerlich dachte sie an den stürmischen Wind, der laut um das kleine Haus ihrer Cousine wehte. Sie dachte daran, wie alles davon flog, weit fort in die Weiten der Endlichkeit. Alles was sie hatte zerfiel zu Staub und flog davon. Nichts konnte sie beerdigen, nichts war mehr da.
Sie hörte nur dumpf die tröstenden Worte ihrer Cousine Anna, die harte Stimme ihres Ehemannes, der die Männer um mehr Information bat. Sie spürte Annas Berührungen kaum, nahm alles wie durch dicken undurchlässigen Stoff wahr. Und doch schien es ihr, als würden tausende Nadeln sie berühren als eine Hand über ihren Arm glitt. Erschrocken zog sie diesen fort und wirr huschte ihr Blick umher. Dann wurde es auf einmal still um sie herum, sie hörte nur noch einmal ihren Namen, Nicole, spürte wie ihre Knie nach gaben, wie ihr das schwer gewordenes Blut in die Beine sackte, alles kalt um sie herum wurde und dann sah sie für eine Sekunde die Holzdielen des Bodens unter ihren Füßen – schnell kamen sie auf sie zu…..


Die Kutsche war unbequem, es war fürchterlich nass und kalt und die Fahrt dauerte schon viel zu lange. Sie war müde, alles an ihre schmerzte.
Ihr gegenüber saß eine ältere Frau mit strenger Kleidung und drakonischem Blick und starrte sie die ganze Zeit unverhohlen an. Früher hätte Nicole die Frau auf ihre Unhöflichkeit hingewiesen, ihren Anstand dabei vollkommen vergessend, doch nun schwieg sie lieber. Sie hatte keine Lust zu reden, sie hatte zu nichts mehr Lust, nicht einmal zum streiten.
Als ihre Cousine und deren Ehemann, zwei Wochen nach der „Beerdigung“ (was sie lieber als die Beisetzung von Luft bezeichnete) ihr mitteilten, das sie zu ihrer Patentante nach Berlin reisen würde, sagte sie nichts. Anna machte sich auf eine endlose Diskussion gefasst, denn sie wusste, das sie diese Frau nicht besonders mochte, doch Nicole nickte und schwieg. Auch als sie sich verabschiedete weinte sie nicht, sie konnte nicht mehr weinen. Sie glaubte es an dem Tag verlernt zu haben, als sie ihre Familie verlor.
Ihr Herz schien tot zu sein, es verkümmerte allein in einer viel zu groß gewordenen Brust.
In den letzten zwei Wochen stellte sie sich manchmal nackt in ihrem Zimmer hin und kratzte sich solange an verborgenen Stellen, bis ihre Haut rot war und an manchen Stellen zu bluten begann, nur damit sie überhaupt spürte, das sie noch irgendwie lebte.

Endlich erreichte sie ihr Ziel. Der Wagen hielt vor einem großen Haus, in einer der besseren Gegenden Berlins. Hier stank es nicht, hier bettelte niemand und es lagen keine betrunkenen auf den Straßen. Und das Gezanke und Gebrüll der Huren, verhallte schnell, umso näher sie ihrem neuen „Zuhause“ kam.
Der Tritt wurde nach unten geklappt und die Tür geöffnet. Vorsichtig blickte Nicole hinaus und atmete einmal tief durch. Es würde keine einfache Zeit für sie werden, doch war sie froh, zumindest optisch den Erinnerungen entkommen zu sein.
Kaum war sie ausgestiegen, wurde die große Eingangstür geöffnet und eine dickliche kleine Frau stürmte aus dem Haus. Ihr Gesicht schien stundenlang in die Richtige Form gebracht worden zu sein und diese begrüßende Geste, mit den weit ausgebreiteten Armen, hatte sie wohl lange üben müssen, denn diese Frau war nicht bekannt für ihre herzliche Art.
Ohne dass Nicole sich dagegen wehren konnte umschlangen sie die fleischigen Arme und drückten das zierliche Mädchen fest an ihre volle Brust.Ein Hauch von Schweiß stieg ihr in die Nase und brannte darin.
„Herzlich willkommen mein Kind“, sagte sie so seltsam, dass Nicole am liebsten wieder in die Kutsche gestiegen wäre und die Erinnerungen in Kauf genommen hätte. Was war sie nur so leichtfertig mit der Entscheidung ihre Heimat zu verlassen umgegangen, nur weil sie zu müde zum diskutieren war.
Unsanft schob diese dickliche Frau ihren völlig überrumpelten Gast wieder etwas von sich und begutachtete sie von Kopf bis Fuß, bevor sie dann hörbar schockiert meinte:“ Herr Gott, du siehst ja schrecklich aus, komm mit ins Haus, bevor die Nachbarschaft dich sieht, wir müssen doch alle auf unseren Ruf achten.“
Bestimmend schob sie ihre Nichte vor sich her, bis sie mit ihr im Haus verschwand. Jetzt schnappte sie ihre Hand und zog sie die Stufen nach oben, über einen langen dunklen Flur entlang bis hinein in das letzte Zimmer. Sie schubste eine angelehnte Tür auf und erklärte ihr, etwas weniger herzlich:“ Dies ist nun deins. Richte es dir her wie du es möchtest, doch in unserem Haus herrscht immer Ordnung, verleibe dir dies ein.“
Angeekelt packte sie ihr Kleid und hob es etwas an. Es war nichts besonderes, es war das letzte was sie noch besaß, das was sie noch an ihr Zuhause erinnerte.
„Wir müssen dir wohl neue Kleider machen lassen, etwas das zu diesem Haus und unserem Stand passt. Anna berichtete mir schon, das du nichts mehr besitzt.“
Dann drehte sie sich um, hielt noch einmal kurz inne, blickte über ihre Schulter und sagte, als sei es etwas Nebensächliches:“ Oh, und es tut mir leid um deinen Verlust“, und lies sie einfach allein. Immer noch sprachlos, verwundert und erbost über diese unmenschliche Person, stand Nicole im Zimmer. Müde sackte sie auf ihre Knie und saß so eine ganze Weile da, ihr Kopf war leer. Warum war sie nicht in der Lage einen klaren Gedanken fassen zu können? Warum konnte sie nicht um die weinen die sie verlor und doch so sehr liebte? Warum machte Gott diesen Fehler, als er ihr alles nahm?
Auf einmal wurde die Tür aufgestoßen und eine schwere Zinnwanne von zwei Burschen herein getragen. Zwei Mädchen knicksten freundlich lächelnd vor ihr und füllten die Wanne nach und nach mit dampfendem Wasser. Dann deuteten sie ihr etwas zögerlich, das sie sich doch bitte ausziehen möge um sich für eine Feier frisch zu machen.
„Was für eine Feier?“
“Es ist eine neue Familie in der Stadt und sie haben wohl die halbe Stadt eingeladen um sich bekannt zumachen.“
Eine Feier, darauf hatte sie bei aller Liebe keine Lust. Doch was sollte sie tun, schon am ersten Abend ihrer Tante wiedersprechen? Nein, das würde noch früh genug geschehen und auf den Lärm von ihr, war sie bei leibe noch nicht vorbereitet.
Etwas zögerlich zog sie ihre Kleider aus und überging die entsetzten Blicke der Mädchen, als diese ihre roten Kratzer auf ihrer hellen Haut sahen. Doch als Nicole sie sah, das eines der Mädchen diese wegbringen wollte fragte sie entsetzt:“ Warte, wo bringst du meine Sachen hin?“
„Die Herrin meint…“, kurz zögerte die Magd bevor sie weiter sprach:“ Wir sollen dies verbrennen.“
Und hielt das abgetragene Kleid zur Begutachtung etwas höher.
“Nein.“
Sagte Nicole lauter als ihr bewusst zu sein schien und riss es ihr, nackt wie sie war, aus den Händen und drückte es wie einen Schatz an ihren nassen Laib. Entsetzt sah das Mädchen sie an und trat einen Schritt von ihr fort. Entschuldigend erklärte Nicole:“ Bitte…, es tut mir leid. Ihr dürft es nicht verbrennen, ich habe sonst nichts mehr von zu Haus.“
Das Mädchen lächelte versöhnlich und voller Mitleid. Sie kannte ihre Geschichte aus den Erzählungen der Köchin, die ein Gespräch mit ihrer Herrin und dem Priester belauschte. Daher wusste sie auch, wie unwillkommen dieser Gast war und nur weil der Priester von Sünde sprach, wenn ihre Tante sie nicht aufnehmen würde, war sie hier und so sagte sie:“ Ich lasse es reinigen und bringe es Euch dann wieder, doch versteckt es gut.“
Nicole nickte erleichtert und reichte es ihr etwas zögerlich zurück.
Das warme Wasser auf ihrer Haut tat so unbeschreiblich gut und das Rosenöl duftete bis in ihre Seele hinein. Ausdauernd war das andere Mädchen damit beschäftigt, ihre langen roten Locken zu entwirren um sie gründlich waschen zu können. Vor dem wärmenden Kamin kämmte sie diese dann später trocken.
Die Tür ging auf und ihre Tante kam ungebeten herein, ein Kleid über ihren linken Unterarm tragend. Vorsichtig legte sie es auf Nicoles Bett und meinte, es sorgfältig frappierend:“ Ein Geschenk deiner Cousine, sie freut sich darauf dich später endlich einmal kennen zu lernen. Sie ist ein engelsgleiches Geschöpf, von ihr kannst du viel lernen, was den Umgang in unserer Gesellschaft anbetrifft.“
Nicole schwieg, schwer atmend und starrte in die Flammen.
Unerwartet trat sie hinter ihre Nichte und fast schon sanft packte sie auf einmal in das volle Haar und die Magd verlies sofort das Zimmer. Als sie zu ihr sprach glaubte man ein wenig Wehmut in ihrer Stimme zu hören: „Das gleiche Haar wie deine Mutter, Rot wie die aufgehende Sonne…, so hat unser Vater es immer beschrieben.“
Auf einmal wurde sie sich ihrer Sentimentalität bewusst, lies es abrupt los und meinte abwinken:“ Mutter nannte es immer, das Haar des Teufels, so dick und widerspenstig, wie das Gemüht des Trägers.“
„Meine Mutter war ein guter Mensch“, entgegnete ihr Nicole mit ruhiger Stimme:“ Wenn sie auch nicht Eurem Bild entsprach. Sie liebte meinen Vater nun mal und es reichte ihr vollkommen was er ihr gab.“
„Pah“, jetzt wurde sie plötzlich wütend:“ Was gab er ihr schon? Ein schuldenvolles Leben, hungrige Mäuler die gestopft werden mussten und dann diesen Tot…“
Nicole sprang unvermittelt auf, aus ihrem Gesicht sprach so viel Wut, dass ihre Tante etwas zurück wich.
„Alles was er ihr gab, gab er ihr aus tiefster liebe. Es war nicht dieses Leben hier, aber sie war zufrieden, denn sie wurde von allen respektiert und geliebt so wie sie war. Mein Vater kann nichts für das was geschehen ist, er kann nichts dafür… und wagt es ja nicht, dies noch einmal in den Mund zu nehmen, geschweige denn zu denken“, Nicoles Stimme begann zu beben:
„Ich sehe nicht nur aus wie Eure Schwester, ich bin wie sie und lasse mir dieses Verhalten auch nicht gefallen. Ich danke Euch dafür, dass Ihr mich aufgenommen habt, doch versucht nicht mich zu einer der Euren zu machen“, langsam beruhigte sich ihre Stimme wieder:“ Aber habt keine Angst, ich werde Euch nicht blamieren, ich lernte Anstand, doch meine Seele gebe ich euch nicht.“
„Du redest wie sie, als sie uns gestand, dass sie heimlich diesen Bastard geheiratet hat.“
Langsam schlich sie zur Tür, sprach aber überaus wütend weiter, gefolgt von Nicoles seltsam funkelnden Blick:“ Sie gab alles auf, eine reiche Heirat, ihren guten Namen, stürzte uns alle fast ins Unglück, hätte uns alle fast ruiniert und doch war sie glücklich. So etwas ist uns nicht gestattet, nicht uns Frauen. Sie bettelte darum das ich deine Patentante werde und nur widerwillig stimmte ich ihr zu, ich glaubte ja kaum das ich dich zu mir nehmen müsse. Doch nun ist es so und ich gebe dir einen gut gemeinten Rat mein Kind: passe dich an, sonst wirst du hier deines Lebens nicht mehr froh… In einer Stunde brechen wir auf, also mache dich fertig und setz ein freundlicheres Gesicht auf.“
Den letzten Satz sagte sie so übertrieben freundlich, fast singend, dass in Nicole fast eine erstickende Übelkeit aufstieg. Die Tür viel laut ins Schloss und ließ sie mit ihrer Wut und dieser erdrückenden Einsamkeit allein zurück.

Marie, ihre Cousine, saß neben ihr in der Kutsche und lächelte ihr immer wieder freundlich zu. War sie wirklich die Tochter ihrer Mutter? Anscheinend war sie noch nicht verdorben von deren Bitterkeit.
„Das mit deinen Eltern tut mir wirklich leid, leider kannte ich sie nicht. Aber wir bringen dich schon auf andere Gedanken. Nicht wahr Mutter?“
Ihre Mutter nickte mit einem seltsamen lächeln auf dem Gesicht.
Marie war wirklich Engelsgleich, blonde Locken zierten ihr rundliches zartes Gesicht. Die himmelblauen Augen zeugten davon, dass sie noch nie irgendwelches Leid ertragen musste. Sie war vollkommen Unschuldig!
Ihr Vater starb noch vor ihrer Geburt. Er war ihr niemals nah genug, damit sie um ihn trauern könnte.
Ihre Wangen glühten voller Erwartung auf das Fest und ihre rosigen Lippen lächelten immerzu. Mit einem beschämte Lächeln, plauderte sie:“ Meine Freundin Sisillia erzählte mir, dass diese Familie wohl sehr heiratswillig sei. Zumindest hat das ihre Tante berichtet. Sie war schon einmal dort und sagte, das alle, wirklich alle, von außergewöhnlicher Schönheit sein.“
Sie seufzte träumend laut auf und lies ihrer Fantasie augenblicklich vollen lauf.
War dies nun der alltägliche Sinn ihres Lebens? Wie verheirate ich mich am geschicktesten und wie profitabel wird dies für mich sein?
Bei Gott, vor wenigen Wochen war ihr größtes Problem wie sie helfen konnte ihre Familie zu ernähren. Welch breiter Graben lag doch zwischen diesen Welten und wie schnell ein Schicksalsschlag diesen schloss. Ein kalter Schauer überrannte Nicole, als ihr dies bewusst wurde.
„Du siehst hübsch in meinem Kleid aus, ich mag dein rotes Haar.“
Erwähnte Marie fast nebenbei, als die Kutsche endlich anhielt und Nicole bedankte sich mit einem warmen Lächeln. Vielleicht konnten sie ja Freundinnen werde?
Die Familie hatte ein großes, prahlerisches Anwesen, außerhalb der Stadt gepachtete. Überall standen Fackeln, alles war festlich geschmückt und von überall fuhren die teuersten Kutschen heran. Ein frischer Mai Wind wehte durch ihre weichen Locken, als sie ausstieg und ihre Tante sie noch einmal flüsternd ermahnte:“ Reis dich zusammen, wenn nicht für mich, dann tu es für Marie. Es wird Zeit das sie einen geeigneten Mann findet, sie wird auch nicht jünger.“
Nicole nickte ausdruckslos und musste sich anstrengen, ihre Hand nicht aus der Beuge des Arms ihrer Tante zu zerren, dort wo sie diese ungefragt postierte.
Sie betraten das Haus, das fast schon ein kleines Schloss war und waren wie alle anderen, von diesem Protz und Prunk sichtlich beeindruckt. Nur Nicole nahm dies alles nicht so richtig war. Seit dem ersten Moment, als sie die Schwelle zu diesem Haus übertrat, fühlte sie sich nicht wohl. Ihr Herz verkrampfte sich eigenartig in ihrer Brust und ihre ganzen Sinne schalteten sich auf „Vorsicht“ um. Etwas an diesem Ort war äußerst seltsam, doch konnte sie nicht erklären was es war.
Man nahm ihnen ihre Mäntel ab und brachte sie in den großen Saal, wo man sich zur Begrüßung postierte. Sie war müde, die Reise war anstrengend, sie hatte seit Tagen kaum geschlafen, wenig gegessen und dann jetzt auf einmal diese seltsame Angst… Nicole hoffte, dass man ihr dies alles nicht zu sehr ansah.
Nach und nach wurden alle der Familie, die aus einem älteren Mann, seiner viel jüngeren Frau, einem Sohn und einer Tochter bestand, vorgestellt. Als sie an die Reihe kamen und der Sprecher ihre Namen vorlas, außer Nicoles, fühlte sie sich mit einem mal durchdringend beobachtet. Das Gefühl in ihrem Herzen wuchs und wuchs und nahm ganz langsam ihren Magen in Beschlag. Zitterten ihre Hände etwa? Sie knickste ehrwürdig und versuchte nicht zu schwanken. Dabei versuchte sie den Auslöser dieses Gefühls auszumachen und erkannte zu ihrem puren Entsetzen, das alle Mitglieder der Familie sie seltsam anstarrten. Verwundert runzelte sie die Stirn. Ihr Atem wurde schwer, fast konnte sie ihre Lungen mit diesem nicht mehr füllen.
“Und wie ist Euer Name?“
Fragte der ältere Mann, mit einem berauschenden sanften Ton in der Stimme, dass Nicole ihn kurz sprachlos anstarrte. Ihre Tante sprach für sie, als sie merkte das ihre Nichte zögerte:“ Ihr Name ist…“
Doch der Graf viel ihr ins Wort, in dem er seine Hand hob und seine Worte klangen auf einmal hart und gefährlich:“Ich habe sie selbst gefragt.“
Immer noch lag Nicoles Stirn in Falten und sie blickte erschrocken zu ihrer Tante, die gedemütigt etwas zurücktrat. Verwirrt sah sie wieder vor sich und erklärte mit fester Stimme, ihr Haupt etwas angehoben:“ Mein Name ist Nicole Tetschow, dies ist meine Patentante, die Schwester meiner kürzlich verstorbenen Mutter.“
Erst jetzt viel ihr die helle Haut der Familie vor sich auf, fast schon weiß und durchsichtig war sie, dünn wie Papier. Sie sahen sich untereinander kaum ähnlich, selbst die Haarfarben unterschieden sich. Und bis auf diese seltsame helle Haut, waren es die Augen, die alle unbeschreiblich blau waren und irgendwie leer, die sie als Familie erscheinen ließen. Und das auffälligste von alledem war, sie alle waren wirklich wunderschön. Es war eine unbeschreibliche Schönheit, von ungemeinem Ausmaß. Ihre Gesichter waren perfekt, makellos und selbst ihre Stimmen klangen wie zarte Musik in ihren Ohren. Doch für Nicole war es nicht das, was sie beunruhigte. Ihr Aussehen war einmalig, das schon, aber irgendetwas anderes ging von dieser Familie aus, etwas gefährliches, etwas das sie auf der Hut sein lies, nur warum und was genau es war, das konnte sie nicht sagen.
„Es freut uns Eure Bekanntschaft zumachen, Nicole Tetschow, selten trifft man solch ein interessantes… Geschöpf.“
Nicole waren seine seltsam gesprochenen Worte unangenehm, sie verstand deren Sinn nicht und weshalb ein völlig Fremder dies so zu ihr sagte. Langsam trat sie einen Schritt zurück, neben ihre Tante, die noch immer Stumm auf den Boden blickte. Der Graf bemerkte dies und folgte ihr diesen einen Schritt. Irgendwie fühlte sie sich gefangen, ausgeliefert und das allein nur, weil er sie so seltsam ansah. Es war durchdringend, erforschend und es schien zwecklos sich dem zu entziehen. Funkelten seine Augen etwa eben kurz dunkel auf? War da etwas schwarzes, nur für eine Sekunde? Sie konnte nicht mehr denken.
„Meinen ältesten Sohn…, Adrian…, kann ich Euch leider nicht vorstellen, Nicole“, unterbracht er ihre wirren Gedanken mit seiner seltsamen Stimme:“ Er findet solch Feste…, nun wie nennt er sie vorzugsweise…, ach ja, zu wieder, und streunt mal wiederirgendwo herum.“
„Ich kann es ihm nachsehen“, erwiderte sie gereizter als sie es vorhatte und wandte sich hastig ihrer Tante und ihrer Cousine zu:“ Kommt Tante, der Graf hat noch genug zu tun, halten wir ihn nicht länger auf.“
Die leise gesprochenen Worte ihrer Nichte rissen sie aus einer seltsamen Apathie und sie folgte ihrer schweigend, in der dumpfen Gewissheit die letzten Sekunden irgendwie verträumt zu haben.
Diese Familie war höchst eigenartig, nein, das war falsch, beängstigend war das Richtige Wort. Noch einmal blickte sie sich um und sah noch immer alle Augenpaare auf sich gerichtet, bevor sie in der anscheinend sicheren Masse verschwand.

Die Gräfin umfasste den Arm ihres Mannes und folgte seinem Blick, der Nicole noch immer nachsah.
„Sag schon, ist sie eine von ihnen? Haben wir sie gefunden bevor sie es taten?“
„Ja“, begann er grummelnd:“ Sie wird eine von ihnen sein, ich spüre es ganz deutlich, ich kann mich da nicht täuschen, und das Beste ist weiß sie es anscheinend noch nicht.“
Seine Hand legte sich sanft auf die ihre und seine Augen wurden für einen Bruchteil der Sekunde dunkel, wie die unergründliche tiefe der Hölle.
„Dann müssen wir es beenden, bevor sie kommen.“
Er nickte ganz langsam und stumm.

Etwas verloren lief sie im Raum umher. Er war überfüllt mit Affektiertheit, Falschheit und einer gewissen Portion Überheblichkeit. Die Blicke die sie nur all zu oft trafen, machten sie nervös, es schien ihr, als wüsste jeder von ihrem Leid, als würde jeder sie anstarren. Und immer wieder trafen sie die Blicke des Grafen und seiner Frau. Beobachtete man sie etwa wirklich? Was ging in diesem Haus nur vor sich? Sie musste raus, sie brauchte Luft zum atmen, bevor sie noch den Verstand verlor.
Hastig und nach Luft schnappend trat sie hinaus in den großen Garten. Diese seltsame, ihr unbekannte Angst verflog augenblicklich, es war ihr, als hätte sie niemals existiert. Einen Augenblick blieb sie wie angewurzelt stehen und durchstöberte verstört ihre Gefühle, doch bis auf die Trauer um ihre Eltern, war da nichts mehr, es war wie ausgelöscht. Sie drehte langsam durch. War dies wohl die Nachwirkung ihrer Tragödie?
Da erblickte sie im hellen Mondlicht eine kleine Bank, die unter einer wunderschönen Linde stand. Erschöpft begab sie sich dorthin, nahm Platz und sah hinauf in den Sternenhimmel. Die Nacht war so klar, die Luft so rein und die Sterne so hell wie schon lange nicht mehr. Sie hatte Heimweh. Sie vermisste ihr alles Vertraute, war starr von ihrem wechselenden Gefühlsleben, glaubte verrückt zu werden und dachte schon wieder über den Tot nach. Ist das Ende wirklich ein Ende, oder war es der Anfang von etwas unbeschreiblichen? Gibt es den Himmel wirklich und demzufolge auch die Hölle? Was war ihr Ziel, am Ende ihres Lebens? Was war der Sinn zu Leben, das Geheimnis, zumindest das ihre? Sie fand einfach keine Antwort und das machte sie fast wahnsinnig.
Auf einmal spürte sie einen seltsamen, intensiven Schauer der über sie kam und viel zu lange anhielt. Es war seltsam, denn er war unbeschreiblich durchdringend und langwierig. Und was sie noch mehr erschrak war, dass diese erdrückende Angst zurückkehrte.
„Eine wunderschöne Nacht, nicht wahr?“
Eine tiefe ruhige Stimme riss sie fast gewaltsam aus ihren Gedanken und sie sprang auf. Erschrocken wandte sie sich um und angestrengt blickte sie in die Tiefe, fast undurchdringbare Dunkelheit hinein, doch erkannte sie nichts. Sie hörte nur Schritte auf dem leicht feuchten Boden und sah endlich die Umrisse eines Mannes. Langsam kam er auf sie zu, fast schleichend. Als sie ihn endlich richtig sehen konnte, erkannte sie einen jungen Mann, groß, mit breiten Schultern und langen blonden Haaren. Seine Hände waren auf seinem Rücken verschränkt und sein Blick glitt mehrmals unverfroren von oben nach unten über sie drüber. Sofort erkannte Nicole dieses seltsame Blau in den Augen wieder und glaubte ihn zuordnen zu können.
„Ihr müsst Adrian sein.“
Ein erfreutes schmunzeln durchzog sein, für einen Mann seines Alters, viel zu zartes Gesicht, während er sich fast unmerklich vor ihr verbeugte, ohne sie aus den Augen zu lassen, und fragte:“ Und Ihr seid?“
„Nicole“, antwortete sie prompt und war verwirrt, eigentlich wollte sie ihm dies wegen diesem seltsamen warnenden Gefühl in ihrem Magen verweigern, doch diese ungewöhnlichen Augen… Schnell fügte sie noch hinzu um ihre Verwirrung nicht preis zu geben: „Und ich muss schon sagen, dass es nicht gerade höflich ist jemanden so zu erschrecken.“
Er hörte ihre leicht übertriebene Wut und schmunzelte belustigt weiter.
„Verzeiht mir.“
Dramatisierte er und streckte ihr seine Hand entgegen, damit sie die ihre hineinlegen konnte, weil er diese küssen wollte. Doch Nicole tat nichts dergleichen. Sie blickte auf seine Ausgestreckte feingliedrige Hand und zog ihre linke Augenbraue etwas nach oben. Sie platzierte die Hand, die er wollte provozierend auf ihrer Hüfte, neigte ihren Kopf und erklärte ihm kühl, mit überraschend fester Stimme:“ Ich verzeihe nichts so leicht, schon gar nicht Euren Spott über meinen Schrecken.“
Sie wandte sich um und ging zurück zum Haus. Sie wollte schnell fort von ihm, sie wollte das dieser Angst wieder verschwand, doch stattdessen spürte sie seinen Blick auf jeden Zentimeter ihres Körpers und diese Furcht umpackte sie mit eiserner Hand. Sie sah seine aufdringlichen Augen immer wieder aufs Neue, wenn sie die ihre nur für einen Augenblick schloss und sei es allein zum blinzeln.
Verwundert sah er ihr nach. Sie ist ihm nicht verfallen, sie machte nicht einmal Anzeichen sich ihm hinzugeben. Obwohl er sich so sehr anstrengte in ihre Gedanken vorzudringen um sie in seine Richtung zu lenken, gelang es ihm einfach nicht. Dabei hätte er zu gerne ihre Haut berührt und ihren Hals mit einem Kuss belegt, der Rot hätte werden sollen, röter als ihr Haar. Doch sie gab sich seinem Charme nicht hin, verspottete ihn und ging einfach. Sie war wirklich wunderschön, ihre Augen, ihr Haar und dann ihr seltener Geruch. Er hatte sie schon gerochen, bevor er sie überhaupt sehen konnte. Sie roch nach einem Gemisch aus Rosen und Vanille und er wäre bereit gewesen heraus zu finden, welcher ihr eigener war.
Das es ihm nicht gelungen war in ihre Gedanken vor zu dringen, war ihm noch nie passiert. Das einzige was er spürte, in diesem kurzen Augenblick ihres Zusammentreffens, war eine tief sitzende Traurigkeit und eine Aura die sie umgab, die ihm etwas verwirrte, weil er so etwas noch nie zuvor verspürt hatte.
Verwundert kratzte er sich an seinem Kopf, strich sich eine Strähne hinter sein Ohr und machte sich nun doch auf den Weg, um am Ball teilzunehmen.
Er glaubte zu spüren, dass dieser Abend sehr interessant werden würde, denn er hörte seinen Vater nach ihm rufen und vernahm eine Botschaft, die den Schalk in seinem Gesicht aufblitzen lies.

Als Nicole den Raum betrat erstarrte sie, denn er war leer, verweist. Es war still, eine tiefe undurchlässige Stille, die eine Warnung in ihr wach rief, die sie noch nicht bereit war zu hören. Wie versteinert stand sie da und blickte sich verängstigt um.
„Hallo?“
Es war leise, zögerlich gesprochen und sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt jemand hören sollte. Ganz langsam trat sie weiter in den Saal und auf einmal schlug die Tür hinter ihr laut zu. Erschrocken fuhr sie herum. Ihr Herz pochte schmerzvoll in ihrer Brust und ihr Atem raste. Sie spürte wie sich ihre Nackenhaare krippelnd stellten und glaubte beobachtet zu werden. Ganz langsam blickte sie übe ihre linke Schulter und sah die Familie, nebeneinander aufgereiht am anderen Ende des Saals stehen. Wo kamen sie nur auf einmal her?
Ihre Gesichter waren ausdruckslos und eine unbeschreibliche Kälte ging jetzt von ihnen aus.
Zögernd wandte sie sich zu ihnen um und fragte mutig:“ Was geht hier vor sich? Wo sind meine Cousine und meine Tante?“
„Beschäftigt!“
Sagte der Graf und kam gemächlich auf sie zu stolziert.
„Wo sind all die anderen Gäste?“
Zur Tür, sie musste nur zur Tür kommen, also trat sie schwerfällig zurück, in der Hoffnung diesem angsteinflößenden Szenario entschwinden zu können. Nicols Herz begann zu rasen, es durchbrach fast ihren Brustkorb, ihre Hände wurden feucht und sie begann am ganzen Leib zu zittern.
„Beschäftigt!“
Seine Stimme, die ruhig klang, machte ihr unbeschreiblich Angst und sie begann noch mehr zu zittern. Hoffnungslosigkeit, diesem entrinnen zu können, verbreitete sich in ihren Gedanken und sie versuchte krampfhaft dies von sich fern zu halten.
„Was geht hier vor sich?“
Alles an ihr war angespannt, jeder Muskel, jede Faser ihres Körpers brannte. Ihre Stimme war nun nicht mehr stark, sie war dünn, brüchig und dies unterstützte ihren Mut keineswegs.
„Ihr seid etwas besonderes, Nicole, nur wisst Ihr das noch nicht.“
„Ihr redet Unsinn! Wo sind die anderen?“
Es kostete sie ungemein Kraft ihre Stimme zu erheben, um ihm mutiger entgegenzutreten. „Oh Kindchen“, der samtweiche klang einer Frauenstimme erreichte ihre gereizten Ohren:
„Du hast wirklich keine Ahnung von dem was du kannst oder was die Aufgabe in deinem Leben ist, nicht wahr?“
Nicole bewegte sich nicht. Sie hatte keine Ahnung von dem was die Gräfin, oder was auch immer sie war, ihr erzählte. Sie verstand kein Wort, von dem was sie ihr sagen wollte. Es war ihr auch egal, der Drang zu flüchten pochte in ihren Beinen und ihr Blick huschte hastig immer wieder zur nicht mehr allzu fernen Tür.
„Versucht es erst gar nicht, Ihr werdet sie nicht erreichen.“
Erschrocken wandte sie sich um und sah Adrian, er stand an der Balkontür und hatte seine Arme vor der Brust verschränkt.
„Vater“, sagte er sehr ehrfürchtig klingend zur Begrüßung und neigte kurz sein Haupt.
„Adrian, du kommst zur rechten Zeit.“
Nicole stand wie versteinert in mitten des Raumes und blickte zwischen den wenigen Anwesenden hin und her. Ihre Gedanken rasten durcheinander und sie konnte diese nicht anhalten. Sie verlor allmählich die Kontrolle über ihre Gefühle und schien der Hysterie nahe. Die Angst drückte ihr die Kehle zu und das Zittern ihrer erhitzten Muskeln wurde langsam schmerzvoll.
„Euer Herz schlägt etwas zu schnell, meint Ihr nicht auch, oder rauscht das Blut etwa nicht in Euren Ohren?“
Die Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war, kam von Adrian und erschrocken sah sie in sein schmunzelndes Gesicht. Er war nahe, viel zu nahe, doch woher wusste er wie schnell ihr Herz schlug und das sie glaubte, von dem Rauschen in ihren Ohren gleich das Bewusstsein zu verlieren?
„Wer…“, ein schweres Schlucken unterbrach ihre laut gestellte Frage, die mutiger klang als sie war:“Nein, anders“, verbesserte sie sich hastig:“ WAS seid ihr?“
Der Graf blinzelte sie anerkennend an und meinte:“ Ihr begreift sehr schnell, Nicole Tetschow.“
„Wir sind keine Menschen, Nicole, hm… zumindest sind wir dies schon sehr sehr lange nicht mehr.“
Beantwortete ihr die Gräfin flötend ihre Frage und eigentlich hätte sie jetzt ganz die Fassung verlieren müssen, doch seltsamerweise beruhigten sie diese Worte. Ihr Herz wurde etwas langsamer, als wäre dies der Schlüssel gewesen, um ihren Verstand zu bändigen. Das Zittern verschwand und allmählich erschlafften ihre Muskeln wieder. Das Rauschen wurde immer stiller und bald nahm sie nur noch ihren ruhigen und flachen Atem war.
„Werde ich sterben?“
Es kam direkt und schnell. Es waren die ersten Gedanken die sie hatte, als sich ihr Chaos ordnete und sie sprach sie aus ohne in Hysterie zu verfallen. Was selbst sie überraschte.
Starr blickte sie auf den Grafen, ihre Verwunderung nicht preis gebend und er sah fasziniert, dass sie all ihre Emotionen abgelegt hatte.
„Das werdet Ihr.“
Antwortete er Wahrheitsgemäß und trat etwas näher heran. Eigentlich sollte sie zurückweichen, versuchen diesem Wahnsinn zu entkommen, doch sie blieb stehen wo sie war, denn eine Flucht schien zwecklos. Es war wohl ihr Schicksal, jetzt schon ihren Eltern zu folgen.
„Warum?“
Wollte sie unbeeindruckt von seinem Geständnis wissen und es zauberte ein kurzes, aber erschreckendes Lächeln auf sein makelloses Gesicht.
„Weil Ihr eine Gefahr für uns seid.“
War seine belanglos klangende Antwort und er trat noch einen Schritt auf sie zu.
„Ich eine Gefahr, für euch?“
Nicole schüttelte unglaubwürdig ihren Kopf:“ ICH bin ein Mensch… und was auch immer Ihr seid, ich denke kaum, das ich Euch etwas anhaben könnte.“
Jetzt wurde Nicole wieder etwas lauter und ballte ihre Fäuste. Geringfügig neigte er seinen Kopf etwas und betrachtete sie ausgiebig, bevor er ihr etwas widerstrebend erklärte:“ Wir sind…, wie nennen die Menschen uns noch mal…?“
Er dachte wirklich angestrengt nach, bevor er die Erleuchtung hatte und meinte:“ Ach ja…, Vampire.“
Das Blut gerann in ihren Adern, ihr Herz blieb nun abrupt stehen und sie wurde unglaublich bleich. Mit allem hätte sie gerechnet, doch nicht mit solchen Worten.
„Das ist unmöglich, euch gibt es nicht.“
Adrians tiefes Lachen erhellte die Halle und er sagte abwinkend:“ Wir lassen sie gerne in dem Glauben, das ist besser für uns alle.“
„Sieh es in unseren Augen, siehst du denn nicht den dunklen Schatten. Es ist die Nacht die er wiedergibt, den Zorn Gottes den wir uns aufgeladen haben, weil wir von ihnen erschaffen wurden und uns ihrem Hass hingaben.“
Der Schatten, da huschte er wieder durch alle Augenpaare, wie eine Welle und Nicole schwankte leicht.
„Aber“, begann sie mit dünner Stimme:“ Warum muss ich sterben?“
„Weil du ein Kind der Sonne bist.“
Zwitscherte ihr die Gräfin fast schon erfreut zu.
„Sind das nicht alle Menschen?“
Nicoles Stimme klang bitter und der Graf machte noch einen Schritt auf sie zu, während er ihr erklärte:“ Bei leibe nein, das wäre für uns das Ende. Es gibt nur wenige wie dich auf dieser Welt, etwa alle sechzig Jahre wird eine Frau geboren, die dies in sich trägt, deshalb bist du etwas Besonderes, Nicole Tetschow. Manch einer von uns fand schon eine wie dich, und bereitete dem ein Ende, bevor die Anderen sie fanden. Es ist auch besser so,glaube mir, Nicole, und sie nehmen sich das was sie von euch brauchen.“
Nicole regte sich nicht, sie verstand die Welt auf einmal nicht mehr, wie sollte sie da seinen Worten folgen können.
„Du wurdest geboren, um dich den „Varriarten“ anzuschließen, du wurdest erschaffen aus einer reinsten Blutlinie der Menschen, du bist eine Gefährtin, Nicole. Und mich wundert es wirklich, dass sie dich noch nicht geholt haben, hast du doch wahrscheinlich schon die sechzehn überschritten.“
Just in diesem Moment sprang die Tür auf und zwölf riesige Männer, ganz in Schwarz gekleidet, mit langen Mänteln, betraten den Saal.
„Oh… wir sind hier“, rief einer laut aus und Nicole war sich sicher, ein tiefes Knurren aus den Kehlen der Grafen Familie gehört zu haben. Hastig umherblickend sah sie zu, wie die Männer die Familie umstellten.
„Henry“, zischte der Graf, seine zarte Stimme war mit einem mal wie weggewicht und er schien sich in Angriffsposition zu bringen:“ Sie gehört uns, wir haben sie zuerst gefunden.“
Er blickte sie an, als wäre sie ein Stück Fleisch, das er gleich verschlingen wollte.
„Wagt es sie auch nur zu berühren, denn dann bringe ich jeden einzelnen deiner unreinen Sippschaft um.“
„Ihr kommt reichlich spät“, fauchte der Graf wie eine wildgewordene Katze, den anscheinenden Anführer der anderen an, während dieser unwahrscheinlich ruhig zu bleiben schien. Nicole stand noch immer wie versteinert da, als wäre sie eine unbeteiligte Schauspielerin in einem unmöglichen Szenario.
„Anscheinend noch nicht zu spät, Markus, sie sieht mir noch sehr lebendig aus.“

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„Louis, leg doch bitte endlich einmal dieses Buch beiseite.“
Ihre Großmutter hatte sich über den Beifahrersitz nach hinten gebeugt und sah ihre Enkelin mit ihren warmen grauen Augen an. Nur wiederwillig folgte sie dieser lieb gemeinten Bitte und schlug es zögerlich zu. Jetzt wo es langsam spannend wurde und sie es nur angefangen hatte zu lesen, weil sie zu lange am Flughafen auf ihre Großeltern hatte warten müssen, musste sie es unterbrechen. Sie war müde und hatte nach dem fast zehnstündigen Flug von Frankfurt nach Florida nicht allzu große Lust sich zu unterhalten und schon gar nicht in Englisch.
„Bist du denn sehr müde?“
„Ja schon“, gab sie schulterzuckend zu und meinte noch:“ Ich habe kaum geschlafen. Neben mir saß ein älterer Mann und dieser konnte Schnarchen, das sag ich dir.“
„Wahrscheinlich wie dein Grandpa.“
Flüsterte sie, doch er hörte dies und meinte argwöhnisch:“ Hey, ich bin zwar alt und auch nicht mehr so gut zu Fuß, aber ich bin keineswegs Taub.“
Liebevoll tätschelte sie den ergrauten Kopf ihres Mannes und sagte:“ Natürlich nicht… verzeih, ich sage es das nächste mal laut.“
Missbilligend schüttelte er seinen Kopf und lugte in den Rückspiegel, als er vorsichtig fragte:“ Wie geht es dir denn, langsam wieder etwas besser?“
Resigniert schaute sie aus dem Fenster, die Palmen und Bäume rasten nur so an ihnen vorbei und sie zuckte mal wieder nur mit ihren Schultern. Sie hatte keine Lust darüber zu reden, nicht jetzt und auch nicht an einem anderen Tag. Der Schmerz saß noch immer viel zu weit oben an der Oberfläche, als das man ihn hätte einfach so übergehen können.
„Es wird besser werden, glaube mir.“
Meinte ihre Großmutter mitfühlend, als sie Louis trauriges Gesicht sah.
Würde es das? Würde der Schmerz wirklich schwinden? Warum musste solch ein Mist zum Leben dazugehören? Bis jetzt zumindest, hatte sie nicht das Gefühl das es weniger werde würde. Noch nie in ihrem Leben fühlte sie sich so verlassen, so erniedrigt, wie in dem Moment als sie erfuhr, das ihr Verlobter, mit dem sie seit ihrem zwölften Lebensjahr zusammen war, sie mit ihrer besten Freundin betrog. Nicht nur einmal, ein Ausrutscher… nein zwei Jahre lang spielten diese beiden Menschen, denen sie am meisten vertraute, dieses bösartige Spiel mit ihr und nur durch einen dummen Zufall kam es heraus. Sieben Jahre verschenkt, dachte sie immer wieder, verschenkt an den falschen, den sie für ihren Prinzen hielt, den einzig richtigen.
Sie ertrug nichts mehr, was sie an ihn erinnerte. Ihre gemeinsame Wohnung, die Freunde, alle Orte, womit sie ihn in Verbindung brachte, lösten einen Schmerz und eine Schmach aus, die unerträglich schien. Sie schlief kaum noch, aß nur selten etwas und ihre Geduld und Ruhe, um die sie immer alle beneideten, schienen wie weggeblasen zu sein. Das war auch der Grund, warum sie nach Florida zu ihren Großeltern reiste. Sie konnte es nicht mehr ertragen, dass er ständig kam um mit ihr zu reden. Das er sie anflehte, ihm doch noch einmal zu verzeihen. Sie konnte nicht, denn für sie waren die letzten sieben Jahre eine Lüge und eine Zukunft zusammen existierte schlichtweg nicht mehr.





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