Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte - Teil 14

Autor: sunny
veröffentlicht am: 14.02.2012


Dieses ist der letzte Streich...
Ich fühle mich ein wenig mulmig dabei, diesen Teil tatsächlich abzuschicken, denn damit ist es amtlich: "Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte" hat mit diesen Worten hochoffiziell zu einem Abschluss gefunden. Dies ist das Ende.
Ich danke euch für alle Kommentare, ohne sie wäre ich sicher längst noch nicht fertig!!! Danke, danke, danke, das bedeutet mir so viel!
Ich widme diese Geschichte meiner Freundin Simona und hoffe, ihr hattet alle Spaß damit :)
Danke für alles!
Lebt wohl, Monster und Jack...!


***


Kapitel vierzehn
Jack steht auf Monster

Mit weit offenen Augen laufe ich durch Berlin, ohne etwas zu sehen. Meine Füße berühren in regelmäßigen Abständen den Boden, aber ich spüre es kaum. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, alle paar Minuten bemerke ich es und löse sie krampfhaft, aber sie ballen sich einfach immer wieder neu. Ich kann nichts dagegen tun – egal, was ich auch versuche, ich bleibe angespannt. Ich gehe schneller, schneller, immer schneller, bis ich renne – und ich renne rücksichtslos durch die Straßen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Es der Versuch, davonzulaufen, der Versuch, etwas zurückzulassen, das sich in meinen Gedanken festgebissen hat und nicht bereit ist, auch nur einen Zentimeter zu weichen, ganz egal, wie schnell ich renne.
Irgendwann bleibe ich keuchend stehen und stelle fest, dass es wesentlich einfacher ist, k ö r p e r l i c h vor etwas zu fliehen, als g e i s t i g. Denn mein Geist ist die ganze Zeit über stur auf einer Stelle sitzen geblieben, ohne sich zu rühren. Er hängt nach wie vor an Jack, und das Bild von seinen Honigaugen in meinem dunklen Zimmer will mich nicht verlassen.
Heftig reibe ich mir die Augen und sehe mich um.
Ich bin in einer nicht sonderlich belebten Straße gelandet. Rechts stehen ein paar verschlafene Einfamilienhäuser, links beginnt ein Wäldchen, die Straße scheint alt zu sein, schmal und voller Schlaglöcher. In der Ferne fährt ein Auto vorbei, gleich darauf noch eines – das sind die armen Leute, die heute arbeiten müssen.
Ich realisiere, dass ich verdammt froh bin, nicht zur Arbeit zu müssen heute – und gleichzeitig ist es das Schlimmste, was mir passieren konnte. Ich bin noch krankgeschrieben, wegen der Verletzung an meiner Schulter und der Erkältung, aber heute wäre ohnehin mein freier Tag. Langsam reicht es mir mit der Freizeit – denn obwohl ich sicher bin, dass ich in meinem montanen Zustand im Eiscafé kaum von Nutzen wäre, so würde mich die Arbeit doch gewiss ein wenig ablenken… oder?
Sie müsste einfach. Ich freue mich auf Freitag, wo ich wieder arbeiten kann, wenn auch nur eingeschränkt wegen meiner Schulter. Gleichzeitig habe ich eine Höllenangst davor, denn es bedeutet erstens, dass ich den ganzen Tag über die Maske von Freundlichkeit und guter Laune aufrecht erhalten muss und zweitens habe ich momentan einen gehörigen Schlafdefizit, von dem ich mir absolut nicht sicher bin, wie ich ihn bis dahin wieder ausbügeln soll. Ich glaube nicht, dass dieses meine letzte schlaflose Nacht war. Solange Jack nicht mit mir gesprochen hat – eigentlich, solange ich Jack nicht für mich haben kann – weiß ich genau, dass ich keine Ruhe finden werde. Wie auch?
Ich seufze ungeduldig und reibe mir unsanft über die Stirn bei diesem egoistischen Gedanken.
Wenn es auch die Wahrheit ist – ja, ich WILL Jack für mich haben, und zwar FÜR IMMER und BEDINGUNGSLOS – so ist es doch reichlich unverschämt, sich so etwas zu wünschen, oder nicht? Ich will, dass Jack mir gehört. Ich will, dass er niemand anderem als mir gehört.
Was für ein selbstbezogener, ignoranter Gedanke.
Aber Tatsache ist, dass ich momentan viel zu ausgelaugt bin, um mir noch länger etwas vor zu machen. Ich habe lange genug gelitten um zu wissen, dass es ohne ihn nicht gehen wird. Ohne Jack kann ich nicht ich sein. Ohne ihn fehlt mir ein entscheidender Teil meiner selbst und weiß schlichtweg nicht, wie ich dieses Leben überstehen soll ohne ihn an meiner Seite.
Schnulzig, so klingt es, ja.
Pah. Erneut seufze ich, fahre mir erschöpft durchs Haar und bleibe stehen.
Gedankenlos bin ich die Straße entlang gewandert, und nun bleibt mein Blick auf einmal an etwas hängen, von dem er sich nicht lösen kann. Es ist eine Bank, eine stinknormale Bank neben einem einsamen Bushaltestellenschild. Irritiert starre ich sie an. Es dauert einige Sekunden, ehe mir klar wird, warum ich mich nicht davon los reißen kann.
Es ist die Bank. Diese Bank – auf der Jack das erste Mal mit seinen Fingern durch mein Haar gefahren ist. Die Bank, auf der ich zum ersten Mal realisierte, dass es okay war, wen Jack mich berührte – dass ich sogar von ihm berührt werden w o l l t e.
Irritiert sehe ich mich um, blicke den Weg zurück, den ich gekommen bin. Wie weit bin ich denn gelaufen, um Himmels Willen?! Das letzte Mal sind wir mit Bus und Bahn hierher gekommen…
Tatsächlich habe ich kaum bemerkt, wie ich die letzten Häuser hinter mir ließ, auf meiner abwesenden Wanderung durch Berlin.
Und nun bin ich irgendwie hier, inmitten all dieses Grüns.
Wie magisch angezogen gehe ich auf diese einfache Bank zu, den Blick darauf fixiert. Sie sieht so gewöhnlich aus. Dabei hat sie so eine große Bedeutung…
Mein Blick schweift auf die Büsche und Bäume hinter der Bank, und ich spüre, wie mein Herz heftig zu schlagen beginnt.
Ach, wie gern ich mich an diesen Ausflug zurückerinnere.
Ob das Boot wohl noch da ist?
Kurz entschlossen umrunde ich die Bank und schiebe einige der Zweige dahinter beiseite, um mich durch das Gebüsch ducken zu können. Während ich laufe, sehe ich zu Boden, um nicht über irgendwelche Zweige oder Wurzeln zu stolpern.
Als ich wieder aufblicke, erstarre ich fast augenblicklich.
Da ist schon wieder etwas, von dem ich den Blick nicht abwenden kann.
Das Boot ist noch da, ja. Umgedreht liegt es am Ufer, fast genauso, wie wir es zurückgelassen haben.
Ich aber habe kaum einen Blick dafür übrig. Denn was mich fesselt, ist etwas ganz anderes.
Jemand sitzt auf dem umgedrehten Boot, die Beine an die Brust gezogen, mit dem Rücken zu mir. Jemand in einer schwarzen Pulloverjacke mit dem weißen Aufdruck eines Monsters – jemand mit einem unordentlichen, hellbraunen Pferdeschwanz…
Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf, und ich bin unfähig, mich zu rühren, sei es in die eine oder in die andere Richtung.
Ist es denn zu fassen?
In diesem Moment kann ich es kaum realisieren. Es fühlt sich einfach nicht wirklich an… Er hier, direkt vor mir… und ich weiß so wenig, was ich tun soll, dass es nahe an absolute Leere in meinem Hirn rankommt. Ich kann einfach nichts tun. Ich kann nicht mal darüber nachdenken, was ich jetzt wohl am besten tun sollte.
Ich weiß nicht, woran es liegt, vielleicht hat er sich beobachtet gefühlt – bewegt habe ich mich auf jeden Fall nicht – aber auf einmal dreht Jack sich zu mir um, und er starrt mich an mit großen, dunklen Augen, in denen nur für den Bruchteil einer Sekunde die Überraschung auftaucht, bevor sie wieder zur altvertrauten Dunkelheit zurückkehren.
Wie hypnotisiert starre ich seine Augen an.
Ich weiß nicht, was los ist, aber ich weiß, dass es ihm definitiv mies geht. Diese Farbe haben seine Augen nur, wenn er sehr traurig oder wütend oder verzweifelt ist.
„Monster“, murmelt er rau. „Was tust du denn hier?“
Ich finde ihn so verflixt schön, wie er da hockt und mich ansieht, dass ich heftig schlucken muss, bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen kann. Wie festgefroren stehe ich da und starre ihn an, und dann ist da doch nur ein einziges Wort, das ich aussprechen kann: „J… Jack.“
Und kaum habe ich seinen Namen über die Lippen gebracht, spüre ich, wie mir erneut die Tränen kommen.
Wut steigt in mir auf, Wut auf mich selbst – Warum muss ich bloß ständig heulen?! Und ich wende in einer heftigen Bewegung mein Gesicht ab und reibe darüber.
„Mona, es – es tut mir Leid“, stößt Jack hervor, und ich sehe ihn überrascht wieder an, ungeachtet der Tränen in meinen Augen.
Sein Anblick überrascht mich einmal mehr.
Es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie Jack rot wird, aber er wird es tatsächlich – seine Wangen nehmen einen leuchtenden Farbton an, und seine Finger krampfen sich zusammen. Ich weiß, dass er wirklich meint, was er sagt – aber ich weiß nicht, was er damit meint.
Was genau tut ihm Leid?
Dass wir… auf diese Art und Weise zusammen waren?
Oder dass er danach so reagiert hat?
Ersteres tut mir persönlich nämlich nicht leid.
Nein, kein bisschen.
Und es tut so verdammt weh, daran zu denken, dass er es bereuen könnte… dass er es bereut.
„Mona“, wispert Jack, und der Klang meines Namens aus seinem Mund lässt mich straucheln, meine Knie scheinen nachzugeben, ein merkwürdiger Ton kommt aus meinem Mund, ähnlich wie „Gh…“
Ich stolpere hilflos auf ihn zu und falle beinahe auf das Boot. Erschöpft halte ich inne, bevor ich entscheide, zu bleiben, und neben ihn klettere.
„W… was ist los mit dir?“, frage ich, ohne ihn anzusehen. „Was ist… bei deiner Familie passiert? Du bist anders… du bist traurig seit dann.“ Ich schlucke. „Vorher schon, eigentlich. Aber seitdem… seitdem ist es… unerträglich geworden.“
Jack schweigt so lange, dass ich schließlich den Blick hebe und ihn ansehe.
Er starrt mich an mit riesengroßen Augen, genau wie an dem Tag, als ich mit Ben aus meiner Heimatstadt wieder kam. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist merkwürdig, und seine Augen scheinen zu flackern, so oft wechseln sie die Farbe.
„J…Jack?“, frage ich unsicher. Mit dieser Mimik fühle ich mich leicht überfordert.
Und dann passiert das Schockierendste überhaupt.
Es hängt mit seinen Augen zusammen.
Irgendwie passiert etwas mit ihnen, das so gar nicht zu ihnen passt, etwas, das ich noch nie an Jack gesehen habe…
Erst nach einem Moment der Irritation erkenne ich, was es ist.
Sie werden feucht.
In seinen Augen… bilden sich T r ä n e n.
Es ist in der Tat das erste Mal, dass ich diesen Ausdruck an Jack sehe, und es erschreckt mich auf eine Art und Weise, die ich kaum einzuordnen weiß.
„Ah, verdammt“, zischt Jack, und seine Stimme klingt so anders, so gequetscht, so ungewohnt, dass ich nicht reagieren kann, als er mich plötzlich mit einer unerwarteten Bewegung umarmt und sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergräbt. „Verdammt…“
Was mich schockiert, ist nicht, diese Gefühlsregung an ihm zu sehen. Dass Jack traurig sein kann, weiß ich bereits. Er kann a b g r u n d t i e f traurig sein. Das ist vielleicht einer der Gründe, weshalb ich so an ihm hänge.
Aber was mich daran erschreckt, ist etwas anderes.
Es ist die Tatsache, dass Jack auch angreifbar sein kann.
Niemand ist unfehlbar.
Auch Jack nicht. Das wird mir in diesem Moment völlig klar.
Denn was immer bis hierhin auch passiert ist, ganz egal, wie groß unsere Probleme und Schwierigkeiten auch schienen, es war immer so, dass Jack letzten Endes darüber stand… dass er die Kontrolle behielt.
Ja, das ist es: Die Kontrolle.
Was auch geschehen ist, selbst bei den Geschehnissen von Sonntagnacht und dem Morgen danach: Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass Jack so vollkommen die Kontrolle über sich selbst und die Situation verloren hat. Irgendwie war Jack in meinem Kopf als jemand gespeichert, dem das, was immer auch geschieht, schlichtweg nicht passieren kann. Jack war jemand, der immer wusste, in welche Richtung wir gehen müssen, jemand, der für alles eine Lösung hatte, selbst für den tiefsten Schmerz. Ihn so zu sehen, ohne Lösung und völlig verirrt in einer chaotischen Gefühlswelt, d a s ist es, was mich so erschreckt.
Aber Jack hat mich so viele Male getröstet, mir so viel Halt gegeben, dass ich ihn jetzt, wo er an meiner Brust weint, einfach nicht allein lassen kann. Also lege ich zögernd meine Arme um ihn.
Jack heult auf, ein merkwürdig fremdes Geräusch, das mich dazu veranlasst, ihn instinktiv fester an mich zu ziehen.
Und so sitzen wir, während Berlin langsam erwacht und einen neuen Tag willkommen heißt. Ich halte ihn, so eng und tröstend ich kann, und vergrabe mein Gesicht in seinem Haar. Und Jacks Hände liegen auf meinem Rücken, krallen sich in den Stoff meines Oberteils.
Er weint, und ich unterbreche ihn nicht, bis er sich wieder beruhigt hat.
„Es tut mir Leid“, flüstert er erneut, während er sich wieder aufrichtet und die Tränen aus seinem Gesicht wischt. „Monster, es tut mir Leid. Es tut mir SO LEID. Was ich getan habe, war einfach unverantwortlich…“
Seine Stimme zittert schon wieder bedenklich, sodass ich ihn hastig unterbreche: „Was meinst du?“
Verwirrt stelle ich fest, dass es mir gar nicht mehr so schwer fällt, klar mit ihm zu reden. Seine Verletzlichkeit hat mich auf eine Weise gestärkt. Sie hat mir gezeigt, dass nicht immer ich diejenige sein muss, die von anderen abhängig ist. Es kann auch genau umgekehrt sein. Diese Erkenntnis beruhigt mich ungemein.
Jack sieht auf, mit einem tränenfeuchten Lächeln im Gesicht. „Warum ist es bloß immer so?“, fragt er, die Augen in dieses wehmütige Braun-Grün getaucht. „Warum verzehren wir uns immer nach dem Schmerzhaften, Komplizierten?“
Die Art, wie er mich ansieht, ist merkwürdig, sein Lächeln, auf eine beängstigende Weise friedlich. Ich kann nichts sagen.
„Es ist wie mit Zucker“, behauptet er gedankenverloren.
„Zucker?“, hake ich irritiert nach, und er lächelt schon wieder.
„Ja, Zucker. In Süßspeisen, weißt du? Ich meine, jeder isst sie gern, aber ich kenne kaum jemanden, dem von zu viel Zucker nicht schlecht werden würde. Du?“
Ich kann nur den Kopf schütteln.
„Siehst du? Wir begehren es alle, aber purer Zucker würde uns auf Dauer krank machen. Vielleicht ist es einfach genauso mit dem Glück. Man kann nicht immer glücklich sein, zu viel Glück würde uns kaputt machen… das Einfache, Direkte ist längst nicht so befriedigend wie das Komplizierte, um das man immerzu kämpfen muss. Jede Süßspeise braucht die Note eines anderen Geschmacks, nichts kann perfekt sein durch Zucker allein.“ Er schweigt kurz, bevor ihm das richtige Wort einfällt. „Bittersüß.“ Er blinzelt zu mir herüber, schenkt mir ein kleines, stilles Lächeln, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. „Bittersüß, so würde ich es nennen.“
Bittersüß. Das Wort zerfließt langsam in meinen Gedanken, tropft in jede Ritze, füllt meine Erinnerungen.
Bittersüß, das passt beinahe perfekt.
Bittersüß, das war mein Sommer in Berlin, mein Sommer in Freiheit.
Bittersüß, das ist meine Beziehung zu Jack. Ich frage mich, ob ich wirklich an zu viel Glück zerbrechen würde. Vielleicht ist es wirklich wie mit Zucker; das Verlangen danach ist stark, immerzu, aber nach einer Weile muss man aufhören, ihn zu essen, und andere Dinge schmecken. Wer könnte schon auf Dauer den Höhenflug des Glücks ertragen? Ich meine nicht bloß Fröhlichkeit, Freude oder gute Laune, Zufriedenheit oder Ähnliches. Ich meine wirkliches reines, pures Glück, diese Aufregung, diese Energie. Wer könnte sie auf Dauer ertragen?
Zuckerglück.
„Es tut mir Leid“, wiederholt Jack, den Blick auf den See hinaus gerichtet, und reißt mich aus meinen Gedanken. „Es tut mir Leid, dass ich dir wehgetan habe. Das wollte ich nicht.“
Irgendeine Ente oder etwas Ähnliches schnattert in der Nähe. In der Ferne fährt ein Auto vorbei. Die Sonne steht bereits voll am Himmel, noch nicht im Zenit, aber sie scheint.
„Bei meiner Familie…“ Er holt tief Luft, bevor er weiter spricht. „… gab es… Probleme. Es…“
Er stockt und sieht so gequält aus, dass ich ihn einfach nicht hängen lassen kann.
„Du… musst mir das nicht erzählen“, versichere ich ihm, obwohl ich wirklich nichts lieber wissen will, als was ihm solche Qualen bereitet. Aber ihn so leiden lassen, das will ich dann auch nicht.
„Doch.“ Er sieht mich an, mit einem schmerzerfüllten Lächeln. „Doch, Monster, ich muss. Ich bin dir diese Erklärung schuldig.“ Und er wendet seinen Blick wieder ab und fährt fort.“Weißt du, meine Mutter… eh… wie fange ich am besten an…“ Er seufzt und fährt sich mit einer Hand durch sein offenes Haar. „Am besten am Anfang.“ Erneut holt er Luft. „Weißt du noch, der Tag… als ich dir Croissants mitgebracht habe? Der Tag, als du mir gesagt hast, ich sei nicht dein Vater?“ Er lächelt leicht, und ich nicke, denn ich erinnere mich gut an diesen Tag – wie auch an alle anderen Tage, an denen ich Jack getroffen habe. An diesem Tag bemerkte ich das erste Mal diese tiefdunklen Schatten in seinen Augen.
„An dem Tag hatte ich morgens schon mit meiner kleinen Schwester telefoniert“, fährt Jack fort, „Mit Sarah, der Jüngsten. Sie hat… weißt du, sie hat diese Krankheit… ihr Körper bildet nicht genug Blut, deshalb braucht sie regelmäßig Bluttransfusionen. Wie auch immer, an dem Tag ging es ihr jedenfalls nicht gut, es gab irgendwie Komplikationen und sie musste ins Krankenhaus. Darum… darum war ich so in Sorge, an dem Morgen.“ Er schweigt kurz, und auch ich bin so überwältigt von diesen traurigen Neuigkeiten, dass ich nichts sagen kann.
„An dem Tag… rief Sarah später nochmal an. Sie hat geweint. Natürlich war ich ziemlich erschrocken, aber als ich wissen wollte, was los war, hat sie nur gesagt, ich solle so schnell wie möglich nach Haus kommen.“ Wieder hält er kurz inne. Ein Vogel fliegt knapp über der Wasseroberfläche in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den See. „Das Ding ist, meine Mutter… sie hat dieselbe Blutgruppe wie Sarah, und sie sind Verwandte ersten Grades, also hätte sie theoretisch Blut spenden können. Das hat sie aber nie getan… und an dem Tag… da hat Sarah sie gefragt, warum.“ Er schluckt hörbar, und seine Finger ballen sich zu Fäusten. Dann sagt er ganz einfach und schlicht: „Meine Mutter ist HIV-positiv. Und es bestand die Möglichkeit, dass ich es auch bin.“
Im ersten Moment wird mir heiß und kalt. Ich kralle mich am Boot fest, um nicht hinunter zu fallen, und starre Jack mit entsetzten Augen an. Ich kann nicht glauben, was er mir erzählt. Geschichten wie diese kommen allenfalls in Büchern vor, in Filmen, aber doch nicht im realen Leben. Doch nicht hier, mitten unter uns… oder?
Gleichzeitig muss ich fast lachen. Ist meine eigene Geschichte nicht auch eine, die eigentlich nur in Büchern und Filmen vorkommt? Bin ich nicht genauso unwirklich wie er?
„Sie hat es uns nie gesagt“, unterbricht Jack meine wirren Gedanken. „Sie hat NIEMALS darüber gesprochen. Unser Vater auch nicht… obwohl er es wusste.“ Wieder bilden sich Tränen in seinen Augen. „Ist es nicht verrückt, Monster, dass Mama krank ist und er nicht? Ist es nicht merkwürdig?“ Und er schluchzt, aber sein Blick bleibt fest auf das Wasser gerichtet, fort von mir. „Ich hätte nicht mit dir… das hätte ich nicht tun dürfen. Nicht, solange die Testergebnisse nicht da waren.“
Er wendet mir das Gesicht zu und sieht mich fest an. „Es tut mir Leid, Monster, dass ich dich so in Gefahr gebracht habe. Obwohl ich es wusste…“ Er vergräbt sein Gesicht in den Händen, und während er so sitzt, finde ich die Kraft, eine Frage zu stellen.
„Ja… Jack.“
„Hm.“ Er sieht nicht auf.
„Warum… ich meine, warum solltest nur du krank sein… und deine Schwestern nicht?“
Jetzt blickt er auf und mustert mich erschöpft. „Das hab ich mich auch gefragt. Weißt du, das Ding ist… als Naomie geboren wurde, meine große Schwester, da hatte meine Mutter eine Brustentzündung und konnte nicht stillen. Bei mir schon. Und nach mir… bei Lou und Sarah, da wusste sie schon von ihrer Krankheit. Darum hat sie sie nicht gestillt, und das Infektionsrisiko ist über die Muttermilch am höchsten.“ Ganz kurz blitzt ein Lächeln auf seinem Gesicht auf. „Naomie ist fast ausgeflippt, als sie davon gehört hat. Wir haben uns alle testen lassen, und gestern… kamen die Ergebnisse.“
Wahrscheinlich bemerkt er meine Anspannung, denn er lächelt und erklärt: „Du kannst dich entspannen. Bei mir kannst du dich jedenfalls nicht angesteckt haben.“
Ich bin so erleichtert, dass ich beinahe schon wieder heule. Meine Hände zittern von der Anspannung, die jetzt gewichen ist. Eine Frage aber brennt mir immer noch auf der Seele.
„Und… deine Schwestern?“
Jack schüttelt den Kopf. „Keine von ihnen ist positiv. Aber sie hätten es sein können. So leicht.“ Er sieht mich an, flüstert jetzt beinahe: „Wir hatten verdammtes Glück, Monster.“
Ich schlucke, da hat er Recht. „Und… und deine Mutter? Wie geht’s ihr?“
Jack zuckt die Schultern. „Aids ist noch nicht ausgebrochen. Bisher ist sie nur Träger des HI-Virus. Vielleicht bricht es nie aus, vielleicht doch. Wer weiß das schon.“ Er seufzt abgrundtief. „Jedenfalls hat es unserer Familie einen Schlag versetzt.“
Das kann ich mir vorstellen, und während wir so stumm nebeneinandersitzen und auf den See hinaus starren, kommt mir unwillkürlich der Gedanke, was ich wohl tun würde, wenn es m e i n e Mutter wäre, m e i n e Familie, m e i n e Zukunft.
Mir wird schlecht, und ich schiebe den Gedanken sofort weit von mir. Wie schwer ich es auch hatte, ich bin verdammt froh, dass mir ein solches Schicksal erspart blieb. Und meine Güte, was hatte Jacks Familie für ein unglaubliches Glück gehabt! Ich konnte immer noch kaum fassen, was er mir gerade erzählt hatte.
Erst nach einer Weile des Grübelns fällt mir auf, dass wir damit vom eigentlichen Thema abgekommen sind.
Zögernd sehe ich ihn von der Seite an. Ich finde partout keinen Anfang zu dem schwierigen Thema „Du und ich und was da zwischen uns ist oder nicht“.
Nervös knete ich meine Hände ineinander. Jetzt, wo ein so schwerwiegendes Thema aufgekommen ist, fällt es mir natürlich noch schwerer. Und mal ehrlich, wer wüsste schon, wie er in so einer Situation mit so etwas anfängt?
Ich weiß es jedenfalls nicht.
Aber ich m u s s es ansprechen, ich m u s s einfach. Die Quälerei der letzten Tage hat mir gezeigt, dass es anders nicht geht. Ich muss mit ihm darüber sprechen, was passiert ist und warum und wie es jetzt weitergehen soll. Denn ich will ihn nicht verlieren, auf keinen Fall. Lieber gebe ich mich mit dem kleinsten Bisschen von ihm zufrieden, als ganz auf ihn zu verzichten.
So sehr bin ich schon von ihm abhängig. Ein kleines, wehmütiges Lächeln schleicht sich auf meine Züge. Wie selbstzerstörerisch. Er könnte machen, was er will, und ich würde ihn trotzdem noch immer lieben, das weiß ich genau. Und obwohl es mir verdammt viel Angst macht, dieses Gefühl, weiß ich doch, ich komme nicht dagegen an. Ich kann es einfach nicht ändern.
Also kneife ich die Augen zusammen und hole tief Luft.
„Jack –“, beginne ich, breche aber gleich darauf wieder ab, weil er im selben Moment meinen Namen gesagt hat. Mit großen Augen sehen wir uns an, und dann lachen wir.
„Fang du an“, prustet Jack, aber ich schüttle den Kopf und beharre: „Nein, du.“
Jack wird wieder ernst, und er schaut mit verschlossener Miene auf seine Finger herab.
„Was ich getan habe, war unverantwortlich und eigentlich unverzeihlich. Ich weiß das…“, beginnt er leise.
„Aber… du hast doch verhütet…“, wende ich ein und werde knallrot.
„Trotzdem!“, widerspricht er heftig und sieht mich mit funkelnden Augen an. „Ich hätte das nicht tun dürfen! Mit niemandem, und erst recht nicht mit dir! Du bist… ich bin… ich meine, du…“ Er bricht ab und starrt mit roten Wangen erneut auf seine Hände. Seine Stimme zittert, als er weiter spricht. „Es tut mir Leid, Mona. Ich weiß, ich bin nicht gerade ein Traumtyp, und ich könnte es auch verstehen, wenn du mir nicht verzeihen könntest…“ Er wird immer leiser, „Aber… ich… liebe dich.“
Er hat so leise gesprochen, dass ich ihn geraume Zeit nur anstarren und mich fragen kann, ob ich das gerade tatsächlich gehört oder mir nur eingebildet habe.
Dann hebt er den Blick, und das hoffnungsvoll helle Braun in seinen Augen, das sich mit einem beschämten, dunkleren abwechselt, veranlasst mich dazu, den Mund zu öffnen, um eine Frage zu stellen.
„Ha- hast du gerade… gesa… agt…“ Ich komme nicht weiter.
Jetzt wechseln seine Augen ganz in die dunkle Farbe, aber er setzt trotzdem ein Lächeln auf. Seine Stimme klingt fester, als er mir bestätigt: „Ja, ich habe gerade gesagt, dass ich dich liebe. Es tut mir Leid, Monster, ich weiß, dass ist nicht gerade…“
Aber noch bevor er weiter sprechen kann, unterbreche ich ihn: „Warum?“
Diese Frage liegt mir wirklich am Herzen, denn von allen Mysterien der Menschheit ist es jenes, das ich am wenigsten begreifen kann. Warum, um alles in der Welt, sollte mich jemand lieben? Ich bin weder schön noch begabt, weder besonders freundlich noch besonders aufgeweckt… was sollte auch nur irgendwer an mir finden, am allermeisten Jack? Jack, der mir immer so unerreichbar erschienen war…
„Warum?“, hakt er erstaunt nach. Seine runden Augen haben einen fragenden, mittel- bis hellbraunen Farbton angenommen. Oh, wie ich seine Augen liebe.
„Ich… ich weiß auch nicht, du bist einfach so… so stark und so… selbstlos und…“ Er sieht zu Boden und flüstert: „Du bist so schön.“
Perplex starre ich ihn an.
Was?! Stark? Selbstlos? Schön?! I c h?! Wie um Himmels Willen kommt er denn d a rauf?
„Was?!“, rutscht es mir heraus, und ich schüttle den Kopf, richte mich auf: „Ich meine, WAS?! Wie kommst du denn bloß darauf?!“
Die Röte in Jacks Gesicht wird noch eine Nuance dunkler, und er erklärt: „Es… ich weiß auch nicht… du hast einfach immer noch genug Kraft, um weiter zu machen… an Punkten, wo ich schon längst… aufgegeben hätte, und… und du denkst einfach immer erst an die anderen und dann an dich, und… du bist so… so süß, wenn du so schüchtern bist, und es…“ Er bricht ab, reibt sich heftig übers Gesicht. „Das ist mir jetzt echt peinlich. Ich meine, tut mir Leid, Monster, aber du… du bist einfach so p e r f e k t!“ Einen ganz kurzen Blick wirft er mir zu, bevor er wieder weg sieht, und ich kann nicht umhin, ihn niedlich zu finden.
Es ist genau genommen das erste Mal, dass ich Jack niedlich finde, aber ich kann schlichtweg kein passenderes Wort finden als dieses, wo er da so neben mir sitzt, tiefrot, die Beine an die Brust gezogen, den Blick zu Boden gerichtet, nervös die Hände knetend.
Mein Herz schäumt über vor Zuneigung in diesem Moment, und ich platze heraus: „Du auch.“
Überrascht sieht er mich an, dann lacht er nervös. „Perfekt? Ich?“ Bestimmt schüttelt er den Kopf. „Ich bin alles andere als das. Ich meine, schon allein, dass ich… auf Monster stehe…“ Er lacht, als ihm die Zweideutigkeit klar wird.
„Ich weiß, und das… liebe ich.“ Jetzt bin ich es, die ihn nicht ansehen kann. Stur schaue ich auf meine Knie herab. „Ich… ich liebe… alles an dir.“ Ich flüstere kaum noch, aber Jack muss es gehört haben, denn er beugt sich zu mir vor und flüstert mit rauer Stimme über das Dröhnen meines wild schlagenden Herzens hinweg: „Monster?“
Ich wende ihm mein glühendes Gesicht zu. „Ja?“
„Darf ich… dich küssen?“
Ich kann nur nicken.
Zögernd nähern sich unsere Gesichter einander an, kommen sich immer näher. Zuerst ist es nur ein einfacher, kleiner Kuss auf die Lippen, aber dann höre ich Jack ausatmen und spüre im nächsten Moment seine Hände in meinem Haar. Er zieht mich näher zu sich, küsst mich diesmal stärker, fordernder, sehnsüchtiger. Irgendwann wird der Kuss fast verzweifelt, wir klammern uns wie Ertrinkende aneinander, ich klettere fast auf seinen Schoß, kann ihm nicht nah genug sein.
*Jack*, denke ich, und wieder *Jack*. Und ich kann nichts anderes denken als JACK.
„Irgendwann“, flüstert Jack in einer der Atempausen, „Musst du mir erklären, warum du mich liebst.“
„Irgendwann“, stimme ich abwesend zu und verschiebe diesen Zeitpunkt auf irgendwann später – nur nicht jetzt. Denn jetzt will ich nichts anderes als bei ihm sein. Ihn küssen, ihn spüren, und ihn nie wieder gehen lassen.
Nach einer Weile löst Jack seine Lippen von meinen, lehnt keuchend seine Stirn an meine. „Lass uns gehen“, flüstert er, „Hier kriegen wir zu viele Zuschauer.“
Er hat Recht, immer mehr Menschen tuckern in Booten an uns vorbei, immer mehr Autos fahren über die Straße. Es wird ungemütlich hier.
Also nicke ich, und wir rutschen von dem Boot hinunter ins Gras.
Hand in Hand kämpfen wir uns durch das Gebüsch und machen uns einfach auf den Weg die Straße entlang.
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, teilt Jack mir mit und schüttelt hilflos den Kopf.
„Ich auch nicht“, gebe ich zu, und er drückt meine Hand.
Neben uns im Gebüsch zwitschert ein Vogel, dann fliegt er vor uns davon.
„Lass uns bei Gelegenheit meine Familie besuchen“, schlägt Jack vor, und mein Herz schlägt Purzelbäume.
„Kl- klar!“, stimme ich aufgeregt zu. Jacks Familie. Das interessiert mich brennend!
Und ich weiß, dass es noch längst nicht vorbei ist. Es gibt noch so viel zu tun, zu klären, so vieles, worüber man sich sorgen kann.
Aber jetzt, für heute, nur für diesen einen Moment, ist einfach alles gut.
Und ich bin glücklich.
Ich könnte platzen vor Glück, so gut geht es mir! Und ich kann nicht anders, als zu lachen, einfach nur, weil ich so unlogisch und unerklärlich glücklich bin.
„Jack“, sage ich und lege meinen Kopf auf seine Schulter. „Wohin gehen wir?“
Jacks Hand hält meine, und es fühlt sich nicht so an, als würde er sie jemals wieder loslassen wollen. Mein Gott, ist das ein g u t e s Gefühl.
„Keine Ahnung“, sagt Jack. Seine Stimme klingt genau wie meine, so flatterig.
„Aber irgendwo werden wir schon ankommen.“
Und da hat er, verdammt nochmal, Recht.






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