Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte - Teil 13

Autor: sunny
veröffentlicht am: 08.02.2012


Vorletzter Teil, letzter Teil in der Vergangenheit. Ab jetzt dreht sich's nur noch um die Gegenwart :)
Ich hoffe, ich habe alles einigermaßen verständlich geschildert, meine Erfahrung mit Szenen besonders wie die gegen Ende des Teils hält sich nun wirklich in Grenzen. Wenn ihr etwas auszusetzen habt, sagt es mir bitte, ich lerne immer gern dazu :)
Ooookay, viel Spaß also mit diesem vorletzten Teil der Geschichte. Danke für eure tollen Kommentare, ich würde zugrunde gehen ohne euch!! xD


***


Kapitel dreizehn
Honigaugen

Nebenan ist die Haustür aufgegangen, und Frau Mitzegrin ist rausgekommen. Sie geht wirklich früh zur Arbeit; mir fällt auf, dass ich gar nicht weiß, was sie von Beruf ist… wer fängt so früh an zu arbeiten? Ich werfe einen kurzen Blick auf den Wecker. Hm, kurz vor fünf. Wirklich früh. Wirklich, wirklich früh.
Aber immerhin ist es schon hell.
Es ist Sommer.
Es ist schon Tag.
Ich bin so unruhig in meinem Zimmer hier oben unter dem Dach. Ich hocke hier und starre auf die Straße, unentwegt, nach draußen, wo das Leben augenscheinlich schon begonnen hat und mich mit den süßen Stimmen der Ablenkung lockt.
Ja, ich möchte s o g e r n abgelenkt werden. So gern. Ich habe das Gefühl, mein selbst konstruiertes Gefängnis aus Angst und Verzweiflung, Unsicherheit und Enttäuschung, aus meiner überwältigenden Sehnsucht und dem daraus resultierenden Schmerz nicht länger ertragen zu können.
Wie schon gesagt, es frisst mich auf.
Ich hasse dieses Gefühl.
Bah.
Ich hasse es.
Und ich fühle mich so eingesperrt hier oben, dass ich schon anfange, wie ein Tiger im Käfig hin und her zu laufen, hin und her, hin und her. Bloß, dass ich nicht halb so anmutig bin wie ein Tiger. Vielleicht eher wie ein… Hase? Ich weiß nicht. Ein Hase ist ein Fluchttier, oder?
Stöhnend fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht. Was denke ich da bloß wieder für wirres Zeug zusammen?
Es ist doch egal.
Es ist doch wirklich und wahrhaftig absolut egal, welchem Tier ich nun gleichen mag, während ich hier oben hin und her schleiche.
Also. Was kann ich dagegen tun?
Tja, was tut man gegens eingesperrt Sein?
Weglaufen.
Ausbrechen.
Entschlossen bleibe ich stehen.
Ja, und genau das werde ich jetzt tun.
Ich werde ganz einfach vor meinem Kummer und der Erinnerung an weiche Haut und Honigaugen davon laufen.
Das kann doch nicht so schwer sein!



Freitagnachmittag saßen Ben und ich schweigend nebeneinander im Auto. Eigentlich war es schon eher früher Freitagabend; die Stille war rauschend, diesmal, aber es war nach wie vor eine Stille.
Der Schock saß uns beiden wohl noch tief genug in den Gliedern. Als wir losgefahren waren, hatte Ben das Radio aufgedreht, aber nach einer Weile waren wir beide so genervt von dem Geräuschpegel im Hintergrund, dass ich es wieder aus stellte.
„Sorge dich nicht, Kind“, hallte es in meinem Kopf wieder, „Nun wird endlich alles gut.“
Ja, ich hatte Frau Lehmann getroffen. Kurz nur hatten wir sie gesehen, Ben und ich, bevor wir los gefahren waren, nach unserem Besuch auf dem Polizeipräsidium, wo wir beide gegen Johannes ausgesagt hatten. Frau Lehmanns Fotos, jetzt blutbefleckt, hatten ihr übriges getan.
Ich müsse nicht bei dem Prozess dabei sein, hatte man mir gesagt.
Meine Aussage war zu Protokoll genommen worden, und in Anbetracht des psychischen Drucks, unter dem ich stehen müsse, wurde mir diese Pflicht großzügig erlassen.
War ich froh darum?
Keine Ahnung.
Nachdenklich tastete meine Hand nach dem dicken Verband an meinem rechten Schlüsselbein.
Das Messer hatte keinen großen Schaden angerichtet. Es war nicht so weit eingedrungen, dass es mich ernsthaft verletzt hätte, ich war schon im Krankenwagen wieder zu mir gekommen, im Krankenhaus war die Wunde rasch genäht und verbunden worden.
Es stellte sich heraus, dass Ben in der Zeit, in der Johannes und ich allein im Zimmer waren, die Polizei gerufen hatte, die uns fand, als ich gerade das Bewusstsein verlor. Johannes hatte keinen Widerstand geleistet, er hatte bloß geweint und wiederholt beteuert, er hatte nie so werden wollen.
Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, nahmen uns zwei freundliche Beamte direkt mit zur Polizeiwache, wo wir unsere Aussagen zu Protokoll bringen konnten. Das dauerte etwas länger, da ich erstens viel zu erzählen hatte und die Polizisten zweitens sehr beschäftigt zu sein schienen.
Es war ein unheimliches Gefühl, all das zu erzählen, was ich jahrelang verheimlicht hatte. Ich dachte an Jack, während ich auf den schwarzen Kasten starrte, der meine Worte aufzeichnete. Ich stellte mir vor, ich würde ihm erzählen, was ich den fremden Menschen in diesem fremden Gebäude schilderte.
Danach mussten wir wieder einige Zeit warten, bevor uns die Papierbögen mit unseren Aussagen vorgelegt wurden, die wir durchlesen und unterschreiben sollten.
Erst nach Mittag durften wir endlich gehen, und ich hatte Hunger.
Ben auch, darum kauften wir uns rasch etwas zu Essen, bevor wir uns auf den Weg ins Sankt Louisen Heim machten. Tatsächlich fanden wir Frau Lehmann dort, und nach einigem hartnäckigen Betteln wurden wir auch zu ihr durchgelassen.
Das erste, was ich tat, als ich sie in ihrem Zimmer in ihrem Schaukelstuhl sitzen sah, war, in Tränen auszubrechen. Ich konnte mich kaum noch halten, stürzte auf sie zu und warf mich ungeachtet der Schmerzen in meiner rechten Schulter in ihre Arme.
„Mona-Kind!“, begrüßte sie mich freundlich und kein bisschen überrascht. Ihre Hand strich ruhig über mein Haar. „Hast du meine Nachricht also gefunden. Ich wusste, du würdest zu mir kommen.“
Das war mehr als vier Stunden zuvor gewesen. Viele Tränen, Erzählungen und tröstende Worte später hatten Ben und ich das Heim verlassen und uns auf den Rückweg gemacht, schweigend, weil keiner von uns wusste, was er sagen sollte.
Und so saßen wir in Bens kleinem Auto, stumm nebeneinander, noch immer in jener wort- und hilflosen Stille versunken. Wir waren auf dem Weg zurück nach Berlin, zurück zu den anderen, die uns sicher mit Fragen löchern würden (Bens Handy war aufgrund zu wenig Energie aus gegangen, wir hatten beschlossen, erst in Berlin mit unseren Freunden zu reden).
„Dein Bruder war es also“, durchbrach Ben irgendwann die Stille, und er klang hilflos wie ein kleines Kind, etwas, das irgendwie gar nicht zu seinem gewöhnlichen ausgeglichenen, ruhigen mütterlichen Verhalten passen wollte.
Ich brauchte ein, zwei Minuten, bis mir aufging, was genau er damit meinte: Mein Bruder war es gewesen – Johannes war derjenige, der für meine körperliche Verfassung in der Anfangszeit in Berlin gesorgt hatte. Mein Bruder hatte mich… misshandelt? War das das richtige Wort dafür? Ich zögerte, schob den Gedanken dann von mir und entgegnete schlicht: „Ja.“
„Das war… irgendwie… heftig“, kommentierte Ben zögernd.
Dieses Wort traf es ganz gut – „heftig“, das war es in der Tat gewesen. Das war das Wort, das auf alle Ereignisse des heutigen Tages zutraf, und auf alle des gestrigen ebenso. So kam es mir zumindest vor.
Glücklicherweise hatte Ben wenigstens keinen Arbeitstag verpasst, da er diesen Freitag frei hatte. Dennoch konnte ich nicht umhin, mich irgendwie schuldig zu fühlen ihm gegenüber. Es war nicht geplant gewesen, ihn so weit mit hinein zu ziehen – es war nicht geplant gewesen, ihm so viel zu offenbaren und ihn so sehr zu involvieren.
„Ja“, stimmte ich Ben abwesend zu und ließ meinen Blick wieder aus dem Fenster schweifen. Wir würden noch einige Zeit unterwegs sein.
Mein Kopf tat weh.
„Ben, glaubst du, Jack ist wieder da, wenn wir zurück kommen?“ Die Frage war mir entwischt, noch bevor ich darüber nachdenken konnte. Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund. Ich spürte, wie die Röte in meine Wangen kroch, während ich den Kopf abwandte. „Oh, vergiss es.“
Aber Ben vergaß es natürlich nicht. Er gab mir eine ehrliche Antwort, etwas, das ich an Ben mochte: „Ich habe keine Ahnung, was bei ihm zuhause los ist, also kein Plan, wann er wieder kommt. Kann sein, dass er da ist. Vielleicht aber auch nicht.“
Ich sah ihn nicht an, starrte weiterhin stur aus dem Fenster, während wir wieder in Stille versanken.
„Sei nicht zu enttäuscht, wenn er nicht da ist“, fügte Ben plötzlich leise hinzu.
Zögernd drehte ich ihm das Gesicht zu, sah ihn an, einen müden, mitgenommenen Ben. Etwas musste noch gesagt werden.
„Ben?“, sprach ich ihn zaghaft an.
„Ja?“
„…Danke.“
Ben lächelte, und beruhigt lehnte ich meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe und schloss die Augen.
Stunden später parkte Ben das Auto in einer winzigen Parklücke am Straßenrand.
„Wir sind da“, stellte er fest.
Ich starrte aus dem Fenster, unentschlossen, was ich davon halten sollte, bevor ich mich aufraffte und ausstieg.
Stumm liefen wir nebeneinander her auf das Haus zu.
Da Bens Handy schon vor geraumer Zeit den Geist aufgegeben hatte, wusste keiner der anderen Bescheid; uns war bewusst, dass es jetzt viel Klärungsbedarf geben würde.
Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war das Gesicht, das mich anstarrte, als Ben die Wohnungstür geöffnet hatte und geradeaus in die Küche trat.
Mit riesengroßen Augen starrte es mich an, fassungslos, und ich konnte nicht anders als ebenso überrascht zurück zu starren.
„Monster“, hauchte Jack überrumpelt, stand auf und kam auf mich zu. Seine Hand berührte mein Gesicht, und ich schloss unwillkürlich die Augen.
„Monster, wo w a r s t du bloß?!“, fragte Jack, und ehe ich irgendwie reagieren konnte, hatte er mich in seine Arme gezogen und hielt mich ganz fest. Ein Arm umschlang meine Taille, mit der anderen Hand hielt er meinen Kopf an seiner Schulter.
Diesmal brauchte ich nicht lange, um zu reagieren. Instinktiv erwiderte ich die Umarmung, legte beide Arme um ihn und drückte ihn an mich. Dummerweise begann ich nahezu sofort zu weinen. Obwohl ich mir diese Geste nicht einmal selbst erklären konnte, konnte ich einfach nicht aufhören, und ich bemerkte kaum, wie Nico, Susan und Lars um uns herum wuselten und aufgelöst dieselbe Frage stellten wie Jack eben gerade; ich blieb einfach nur eng an Jack geschmiegt stehen und weinte.
Am Ende war es Ben, der nahezu die ganze Geschichte erzählte. Ich habe nicht mehr wirklich viele präzise Erinnerungen an diese Unterredung; alles, was mir deutlich im Gedächtnis geblieben ist, ist Jack. Die ganze Zeit über blieb er nah bei mir. Seine Hand spielte unablässig mit meinem Haar, strich über meinen Rücken, hielt mich fest. Als wir uns an den Tisch setzten, zog er mich kurzerhand auf seinen Schoß und spielte mit meinen Fingern.
Mein Herz klopfte zum Zerspringen laut. Schon allein das Bewusstsein seiner Berührungen hinderte mich daran, auch nur ein Wort zu sagen; so blieb ich den ganzen Abend über ziemlich still.
In dieser Nacht ging Jack nicht mehr nach Hause. Da in den Zimmern der Jungs kein Platz war, bot Susan an, er könne bei ihr schlafen, aber Jack warf einen Blick zu mir und lächelte, als er meine Miene sah.
„Wenn Monster in ihrer Hängematte schläft, kann ich ja die Couch nehmen“, schlug er gelassen vor und boxte gleichzeitig Niki in den Bauch, der ein Kichern nicht hatte unterdrücken können.
Ich konnte nicht anders als Nicken. Sagen konnte ich nichts. Seine Hand an meiner Taille löste ein lähmendes Kribbeln aus, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte.
Wir gingen in dieser Nacht alle ziemlich zeitgleich zu Bett, weshalb es ein ständiges Kommen und Gehen um das Badezimmer gab. Als wir endlich alle bettfertig waren und Stille in der Wohnung einkehrte, standen Jack und ich uns in meinem Zimmer gegenüber. Er trug Shorts und ein T-Shirt, beides von Ben geliehen, weil die beiden ungefähr dieselbe Größe hatten.
Er sah mich an, und sein Blick war anders als sonst. Atemlos erwiderte ich ihn. Obwohl mir unzählige Fragen auf der Zunge brannten, war ich nicht in der Lage, auch nur eine davon zu stellen.
„Monster“, flüsterte Jack und streckte eine Hand nach mir aus. Bereitwillig ließ ich mich an seine Brust ziehen und erschauerte, als er mir das Haar aus dem Nacken strich. „Ich hab dich vermisst. Ich hab mir furchtbare Sorgen um dich gemacht, weißt du das?“
Mein Herz klopfte zum Zerspringen, ich war überzeugt, dass er es hören musste, wo ich doch so nah bei ihm stand. „Ich mir auch“, entgegnete ich leise, und es stimmte.
Jack lachte leise. „Tatsächlich?“, fragte er und schob mich ein Stück von sich weg, um mich ansehen zu können. Seine Hände umschlossen mein Gesicht und seine Augen leuchteten in einer merkwürdigen Farbe, sie schwankten zwischen hell und dunkel, beinahe flackerten sie.
Ich hätte ihm geantwortet, ich hätte ihm auch erklärt, weshalb ich mich um ihn gesorgt und ihn vermisst hatte – sofern mir das selbst klar war – aber ich kam nicht mehr dazu. Denn auf einmal war sein Gesicht so nah, und als er flüsterte: „Lauf nie mehr weg, ohne etwas zu sagen“, konnte ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren, erschauerte und schloss unwillkürlich die Augen.
Das nächste, was ich spürte, waren seine Lippen auf meiner Haut. Sie trafen zuerst auf meine Augen, weshalb ich sie, obwohl ich überrascht zusammenzuckte, nicht öffnen konnte, wanderten von dort zu meiner linken Wange und hinunter zum Mund. Anfangs küsste er nur meinen Mundwinkel, verweilte dort für einen Augenblick, und ich stand still und atemlos und konnte mich nicht rühren.
Dann küsste er mich richtig, erst sehr sanft und zart. Die Berührung löste etwas in mir aus, das ich nicht bändigen konnte, und ich griff mit zitternden Händen nach ihm, schlang die Arme um seinen Nacken und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm noch näher zu sein. Ich krallte meine Finger in sein Haar, und noch während mir durch den Kopf schoss *hoffentlich tue ich ihm nicht weh!*, spürte ich, wie er den Kuss vertiefte und mich seinerseits näher an sich zog, bis kein Blatt Papier mehr zwischen uns gepasst hätte. Ich hörte auf zu denken und überließ mich vollkommen der Welle der Gefühle, auf der wir beide dahintrieben. Alles, was ich wusste, war das Wir, und alles, was ich dachte, waren Hände und Finger und Lippen und Haut.
Vielleicht Sekunden, vielleicht Minuten später, vielleicht auch Stunden – ich hatte das Zeitgefühl völlig verloren – erwachte ich aus diesem Rausch, weil Jack von mir abließ und mich heftig atmend von sich schob. Was nicht einfach war, da er mittlerweile rücklings auf der Sofalehne saß und ich, beide Beine um ihn geschlungen, auf seinem Schoß hockte.
Augenblicke lang registrierte ich gar nicht, was gerade geschehen war, wo ich war und warum wir aufgehört hatten. Ich war völlig im Rausch der Emotionen gefangen, die so viel größer waren als ich.
Dann stotterte Jack: „S… sorry, ich… da… das war nicht… geplant…“ Und fuhr sich nervös mit beiden Händen durch sein offenes Haar, wirr vom Griff meiner klammernden Finger. „Ich… das… sollte… äh. Ich sollte schlafen gehen.“ Ein konfuser Blick traf mich und ich trat irritiert einen Schritt zurück. „Und du auch. Wir sollten jetzt schlafen gehen.“
Sekundenlang verharrten wir beide bewegungslos und völlig durcheinander, maßen einander mit fragenden, forschenden, misstrauischen Blicken, bevor er es über sich brachte, sich zu bewegen, und auf das Sofa kletterte. Noch während er unter seine Decke kroch, fand ich meine Sprache wieder und platzte, bevor ich darüber nachdenken konnte, heraus: „Ich kann jetzt nicht schlafen.“
Jack hielt in seiner Bewegung inne, wandte sich zu mir um und sah mich mit schuldbewusstem Gesicht an. „Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht… drängen.“
Mit großen Augen starrte ich ihn an. „Ich… das… hast du nicht.“
Jack lächelte sein wehmütiges Lächeln, das ihn wieder so viel reifer als mich erscheinen ließ, nickte und entgegnete mit weicher Stimme: „Doch, Monster. Doch, das habe ich.“ Sein Blick traf meinen, in einem warmen, hellen Braunton leuchtend, und er fügte hinzu: „Und du und ich, wir wissen beide, dass du noch nicht soweit bist.“
Kurz herrschte Schweigen, weil mir darauf absolut keine Antwort einfiel. Dann brach Jack erneut die Stille, indem er mich aufforderte: „Leg dich jetzt schlafen, Monster. Es war ein langer Tag, und ich weiß, du bist müde.“
Tatsächlich w a r ich müde, ich war unheimlich müde! So viele Stunden Schlaf hatte ich nachzuholen… aber das bedeutete nicht, dass ich mich jetzt einfach so hinlegen und schlafen konnte. Schon gar nicht in meine Hängematte, wenn ich mir bewusst war, dass Jack nur wenige Meter von mir entfernt auf der Schlafcouch lag…
„Jack“, stieß ich hervor, und beinahe hätte ich es mir anders überlegt, aber dann kniff ich einfach die Augen zu und fragte gerade heraus: „Kann ich nicht bei dir schlafen?“
Ich blinzelte ihn vorsichtig an, und als ich sein verblüfftes Gesicht sah, legte ich schnell nach. „Bitte. Bitte, Jack, ich kann jetzt nicht schlafen… nicht allein. Bitte, lass mich… bei dir schlafen…?“
Offensichtlich brauchte Jack einige Sekunden, um zu realisieren, was ich von ihm wollte, und die passende Antwort zu finden. Dann fuhr er sich erschöpft durchs Haar und seufzte.
„Also gut“, gab er nach und rückte ein Stück zur Seite, „Hol deine Decke und komm her. Ich werd‘ dir dein Schlaflied singen.“
Keine Worte der Welt können beschreiben, wie glücklich ich in diesem Moment war. Ich kannte jene andere Art der Glückseligkeit noch nicht… und obwohl mir körperliche Nähe eigentlich immer unangenehm gewesen war, verspürte ich, als ich zu Jack auf das Sofa kroch, auf einmal das Bedürfnis, ihm noch näher zu sein. Einem plötzlichen Impuls folgend schlang ich meine Arme fest um ihn und verbarg mein Gesicht an seinem warmen Oberkörper.
„Hey, Jack“, flüsterte ich, „Danke.“
Sein Herz schlug direkt an meinem Ohr, irgendwie schnell und holprig, aber ich war zu müde und zu aufgeregt und verwirrt, um darüber nachzudenken.
In der nächsten Sekunde löste Jack meine Hände von seinem Rücken und befahl mit rauer, wackeliger Stimme: „Leg dich jetzt hin, Mona. Schließ die Augen, ja? Du bist müde, schlaf ein bisschen.“
Lächelnd gehorchte ich seinen Anordnungen, kuschelte mich neben ihm in meine Decke und sah zu ihm auf. „Singst du für mich?“
Und er nickte nur. Mit einer Berührung, die so zart war, dass sie schon kaum mehr spürbar war, strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ich schloss die Augen und lauschte seiner warmen, sanften Stimme.
„Honey is for bees, silly bear…“
Noch vor Ende des Liedes war ich eingeschlafen, und in einer Welle prickelnder Wärme endete mein Freitag.
Der Samstag begann ebenfalls mit Musik – allerdings mit lauter und fröhlicher Musik. Niki hatte sie aufgedreht, um uns alle zu wecken, und ich hörte, schon bevor ich die Augen geöffnet hatte, Susan durch die Wohnung stampfen und lauthals auf ihn schimpfen. Schmunzelnd kuschelte ich mich enger in die warme Geborgenheit meiner Bettdecke… woraufhin sie mich enger an sich zog.
Irritiert öffnete ich die Augen und blickte geradewegs auf ein T-Shirt, das mir vage bekannt vorkam.
Erst nach dem dritten Blinzeln fiel mir wieder ein, wie der gestrige Abend verlaufen war, und mein Herz begann sofort unkontrollierbar laut und schnell zu schlagen. Ich befürchtete, dass er davon aufwachen könnte, bevor mir wieder einfiel, dass ja ohnehin im Moment laute Musik durch die Wohnung dröhnte… darum sollte ich mir also eher weniger Sorgen machen.
Fast traute ich mich nicht, den Kopf zu heben, um in Jacks Gesicht zu schauen, aber dann tat ich es doch.
Seine Augen waren geschlossen und sein Atem ging ruhig, nichts deutete darauf hin, dass er wach war; dennoch konnte ich mir schwer vorstellen, dass er bei diesem Lärm noch immer schlafen konnte… dann fiel mir ein, wie erschöpft er am Abend zuvor gewirkt hatte. Wieder fragte ich mich, was um Himmels Willen bei ihm zuhause wohl vorgefallen war, dass er dermaßen fertig war.
Nachdenklich betrachtete ich sein schlafendes Gesicht, die geschlossenen Augen, die nicht ganz entspannten Züge, sein Mund, seine Augenbrauen, die aus irgendeinem Grund Sorge auszudrücken schienen. Seine Wangen, die irgendwie schmaler wirkten als sonst, und die Ringe unter seinen Augen.
Jack musste wirklich ernste Sorgen haben, denn diese Ringe waren tief. Erschreckend müde sah er aus, und so erschöpft, dass ich ihn am liebsten einfach weiter hätte schlafen lassen.
Aber in diesem Moment donnerte es an meine Zimmertür und Niki brüllte: „MONSTER, JACK, AUFWACHEN!!!“
Im Stillen dankte ich ihm dafür, dass er geistesgegenwärtig genug gewesen war, nicht einfach die Tür aufzureißen, und entgegnete: „Ja, wir sind wach!“, während Jack träge seine Augen öffnete.
Sein Blick trug jenen dunklen, grünstichigen Braunton, der von Sorge zeugte, aber schon nach wenigen Augenblicken hatte sich die Farbe verändert, war heller geworden, sein weiches Beige, das er immer an den Tag legte, wenn er sich freute. Verschlafen lächelte er mich an. Wieder einen Augenblick später schwankte seine Augenfarbe zu einem sehr dunklen Braunton, gleich darauf aber wieder zurück zu Beige.
Ob er sich wohl gerade an gestern Abend erinnert hatte?
Unter dem Wust aus unseren beiden Decken, die sich über Nacht irgendwie miteinander verwoben zu haben schienen, bewegte sich seine Hand an meinem Rücken, und ich schauderte unwillkürlich und lag ganz still, um ihn nicht zu erschrecken.
„Morgen“, murmelte Jack.
„Morgen“, entgegnete ich atemlos. Mit dem Kopf deutete ich vage Richtung Tür. „Äh… Niki ist schon wach. Und die… anderen wahrscheinlich auch…“
Jack lächelte, und auf einmal überfiel es mich wieder und ich konnte nicht anders, als ihn ganz fest zu umarmen und mein Gesicht an seiner Brust zu verbergen.
„Jack“, flüsterte ich und sog ganz tief seinen Geruch ein, der so warm und weich und auf eine merkwürdige Weise vertraut war.
Seine Hand glitt über meinen Rücken nach oben und strich mir über den Kopf, und ich musste heftig schlucken. Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus, der ich nur Herr werden konnte, indem ich mich noch fester an ihn klammerte.
„Wir sollten aufstehen“, stellte Jack nach einer Weile leise fest, und weil er ja Recht hatte, löste ich mich seufzend von ihm, setzte mich auf und versuchte, mich aus den verworrenen Decken zu kämpfen. Nachdem er mir eine Weile dabei zugesehen hatte, musste Jack lachen. Er kletterte auf seiner Seite vom Sofa, griff nach den Decken und zog daran.
Mit einem erschrockenen Aufschrei kippte ich rückwärts auf das Sofa zurück – Offensichtlich hatte sich eine der Decken um meinen Fuß gewickelt gehabt. Jack prustete laut los, als er das sah, ließ die Decken los und setzte sich zu mir auf den Rand des Sofas. Ich liebte sein Lachen, und ich konnte einfach nicht anders, als mit zu lachen.
Als wir Minuten später, immer noch lächelnd, die Küche betraten, stand Niki am Herd und briet Spiegeleier. Überrascht blieb ich stehen und sah ihm zu.
„Er will einen schönen Tag mit uns verbringen“, knurrte Susan, die, noch immer schlecht gelaunt aufgrund der unsensiblen Weckung an diesem Morgen, im Schlafanzug am Küchentisch saß und missmutig vor sich hin starrte.
Lars neben ihr lachte amüsiert. „Hab dich nicht so. Ist doch ne schöne Idee!“ Er griff nach einer Flasche und goss Orangensaft in ein Glas.
„Wow, ihr habt ja schon den ganzen Tisch gedeckt!“, stellte Jack fest und trat an mir vorbei auf den Tisch zu.
„Das war Niki“, gab Lars lächelnd zu.
„Wo ist Ben?“, wollte ich wissen. Seine Abwesenheit kam mir komisch vor.
„Im Bad“, zerstreute Lars sorglos meine Bedenken, und ich atmete langsam aus. Ich sollte wirklich aufhören, mir ständig solche Sorgen zu machen.
„Ja, und blockiert es schon seit geraumer Zeit“, grummelte Susan.
Lars lachte. „Das waren höchstens zehn Minuten! Jetzt komm, jetzt hab dich mal nicht so, Susan! Es ist doch nicht so schlimm, einmal unsanft geweckt zu werden…!“
„Das ist nicht der Punkt!“, fauchte Susan aggressiv, „Der Punkt ist, dass mir dadurch mein wertvoller Schlaf geraubt wurde! Ich bin müde, verdammt! Außerdem ist Jockel heute nicht da und…“
„D a r u m bist du also so mies drauf!“, platzte Niki heraus und musste lachen. Nach und nach fielen wir alle mit ein. Jack legte Susan eine Hand auf die Schulter und tröstete sie: „Mach dir nichts draus, Susan. Morgen siehst du ihn doch wieder, oder?“
Widerstrebend nickte sie.
„Siehst du“, lächelte Jack, „Was spricht also dagegen, heute einen schönen Tag mit deinen Freunden zu verbringen?“ Ihm schien etwas einzufallen, und noch bevor Susan reagieren konnte, fragte er: „Was ist dein Lieblingslied?“
„Äh… ähm… ich denke… *Somebody that I used to know*, wahrscheinlich… momentan“, stotterte Susan überrascht.
„Von Gotye?“, hakte Jack nach. Noch bevor Susan nicken konnte, war er aus der Küche verschwunden. Verwirrt sahen wir uns alle an, doch nur Minuten später war er wieder da, in der einen Hand seinen iPod, in der anderen eine Station, die ich ziemlich sofort Lars‘ Bestand zuordnete.
„Hey, das gehört mir!“, wandte dieser auch sofort ein.
Jack strahlte ihn an. Irgendwie war er heute ungewöhnlich gut gelaunt, fast schon… manisch.
„Du erlaubst mir doch, es hierfür auszuleihen, oder?“, fragte er und stöpselte noch im selben Atemzug Station und iPod aneinander. Mit einer Hand brachte er das Radio, das bis dahin gelaufen war, zum Schweigen. Sekunden später klang *Somebody that I used to know* laut durch die Wohnung.
Faszinierenderweise funktionierte es tatsächlich. Susans missmutige Miene verzog sich beinahe augenblicklich zu einem Lächeln. Sie boxte Jack in die Seite und warf ihm vor: „Jack, du bist verrückt!“, aber ihre Augen glänzten dabei.
„Ich weiß“, lachte Jack, wuschelte durch ihr Haar und wandte sich Niki zu. „Kann ich noch was helfen? Soll ich noch ein bisschen Obst schneiden?“
Ich versuchte, meine Eifersucht zu unterdrücken, während ich beobachtete, wie er mit den anderen umging, konnte mich aber eines kleines Stechens in meiner Herzgegend nicht erwehren. Jack und ich hatten uns gestern Abend geküsst. Nicht bloß so, sondern r i c h t i g. Hätte er es nicht unterbrochen, wären wir, da war ich mir ziemlich sicher, auch noch weiter gegangen. Jack war für mich ohne Zweifel etwas Besonderes. Ob ich das für ihn aber ebenso war, stellte ich jedesmal aufs Neue infrage, wenn ich beobachtete, wie selbstverständlich, empathisch und freundlich er mit den anderen umging. Warum hatte er sich überhaupt mit mir eingelassen? War es nicht hauptsächlich aus Mitleid geschehen? Und musste eine solche Gefühlsregung jetzt, wo meine Mutter… fort und mein Bruder eingesperrt war, nicht automatisch verschwinden? Es wäre kein Wunder, würde er sich jetzt von mir abwenden. Und hatte ich denn ein Recht, unzufrieden damit zu sein?
Nicht das geringste. Ich sollte mich einfach freuen über jedes Lächeln, das er mir schenkte.
Ja, das sollte ich.
Ich konnte es aber schlichtweg nicht.
Seufzend ließ ich mich neben Lars am Küchentisch nieder und beschloss, Jack an diesem Tag nicht zu sehr für mich zu beanspruchen. Ich würde ihm einfach seine Freiheit lassen. Es war seine Sache, mit wem er sich beschäftigen wollte, und das sollte er sich nicht durch ein anhängliches Nervenbündel wie mich kaputt machen lassen.
In diesem Moment trat Ben durch die Küchentür, die Haare noch nass vom Duschen, in T-Shirt und Shorts gekleidet. „Ah, guten Morgen, alle zusammen!“ Er lächelte in die Runde und wandte sich dann an Niki: „Was hast du denn heute geplant, großer Meister?“
Niki drehte sich mit einem beinahe beängstigend breiten Grinsen zu uns um. „Lasst uns was Verrücktes machen!“
Und das taten wir.
Wir fuhren mit Fähren und Touristenbussen quer durch Berlin, kauften sinnlose Souvenirs und lachten über die blödesten Dinge. Es war unglaublich, wie viel Unsinn man an einem Tag machen konnte – Niki balancierte in einer lebensmüden Anwandlung über ein unheimlich schmales Brückengeländer, Susan diskutierte stundenlang mit ein paar gebrochen deutsch sprechenden Jugendlichen, die sie blöd angemacht hatten, und als Ben und Niki sich von ein paar Breakdancern zum Mittanzen überreden ließen, sah ich das erste Mal, dass unser stiller, ruhiger Ben tatsächlich tanzen konnte. Jack sang mit ein paar Straßenmusikern und Lars schoss Unmengen an Fotos und kommentierte gemeinsam mit Niki alles, was wir taten. Es war sinnlos – aber es machte Spaß. Dieser Tag wird für immer fest in meinem Gedächtnis verankert sein. So frei hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, und die seltsame Düsternis in Jacks Augen blickte auch nur noch in seltenen Momenten durch. Ich dachte daran, dass ich ihn fragen wollte, was bei seiner Familie los war, warum er so plötzlich ein paar Tage dort verbracht hatte, was sein Problem war (denn er hatte ganz sicher eines!) und ob ich helfen konnte, aber es fand sich einfach nie der richtige Augenblick. Noch dazu war ich ziemlich mit mir selbst beschäftigt – zu viele schockierende Dinge waren innerhalb einer zu kurzen Zeitspanne geschehen – und musste mit dem Umstand klarkommen, dass Susan mich tatsächlich dazu gebracht hatte, T-Shirt und Shorts zu tragen.
In Anbetracht des Wetters war das eine fabelhafte Idee – es war wirklich brütend heiß – aber ich war solche Kleidung schlichtweg nicht gewohnt und fühlte mich immer noch reichlich unwohl, wenn ich so in der Öffentlichkeit herumlief. Ich meine, Shorts! Die zeigten einfach so ungewohnt viel von meinem Körper…
Gegen Abend aßen wir in einem der Restaurants am Ufer der Spree und blieben noch lange dort. Die anderen tranken einige Gläser Alkohol, aber ich hielt mich bewusst fern. Die Leidensgeschichte meiner Mutter hatte mich gelehrt, den Alkohol zu hassen und zu fürchten, aber nichts auf der Welt fürchtete ich mehr als den Gedanken, ich könne eines Tages genauso werden wie sie.
Ich weiß nicht, woran es lag – vielleicht daran, dass ich nichts getrunken hatte, vielleicht hielt der Alkohol die anderen wach. Jedenfalls wurde ich nach einer Weile müde, und die Müdigkeit ließ sich kaum verscheuchen.
Ich denke oft darüber nach, was wohl geschehen wäre, wenn ich an diesem Abend vor vier Tagen nicht müde gewesen wäre. Was wäre geschehen, wenn ich mit den anderen getrunken hätte? Wenn ich mich nicht wieder so… a n d e r s verhalten hätte?
Ob ich es bereue, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, ob die guten oder die schlechten Resultate aus diesem Handeln überwiegen. Tatsache ist jedoch, dass ich so gehandelt h a b e und dass ich keinen Weg kenne, mein Handeln wieder rückgängig zu machen. So gesehen sollte jedes Grübeln über diesen Vorfall unnötig sein.
Das sollte es… das sollte es.
Aber ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken.
Darüber, wie Jack und ich irgendwann mitten in der Nacht noch vor den anderen nach Hause zurückkehrten, kichernd und mit weitaus mehr Körperkontakt als üblich. Darüber, wie wir die ganze Busfahrt über lachten und prusteten über die unwichtigsten Dinge und wie wir, schwindelig vor Alkohol, Müdigkeit und den warmen Emotionen eines glücklichen Sommertages, aus dem Bus stolperten.
Darüber, wie wir durch Treppenhaus bis hinauf zur Wohnung polterten und dabei so viel Lärm machten, dass wir bestimmt sämtlich Nachbarn weckten – besonders Jack schien nur mehr über grobmotorische Bewegungen zu verfügen. Was sich allerdings schlagartig änderte, als wir in die Stille meines Zimmers traten und er meine Hand festhielt.
Es war warm hier oben unterm Dach, wie fast den ganzen Sommer über. Seine Hand aber war wärmer, und ich konnte in der wattigen Luft unser beider Herzen zum Zerspringen laut und übermütig schlagen hören, unser beider Atemzüge raschelnd durch die Stille schneiden, aufgewühlt von so viel unerwarteter Zweisamkeit. Seine Augen leuchteten in einem merkwürdigen Glanz, den ich so noch nie zuvor an ihm gesehen hatte.
Nie werde ich etwas mehr lieben als seine Augen, die in jedem Augenblick so anders und einzigartig sein können und die wirklich und wahrhaftig das Fenster zu seiner Seele sind. Man muss sie nur lesen lernen, und nichts wollte ich lieber tun als das.
In diesem Augenblick jedenfalls starrte er mich an mit diesem merkwürdigen Glanz in den Augen, sodass ich irgendwann fragte: „Was ist los?“, leise, um die Stille nicht zu zerstören.
Seine Augen veränderten sich, wurden dunkler und gewöhnlicher. „Nichts“, sagte er und wandte sich so heftig um, dass er über eine Ecke des Ausziehsofas stolperte und fiel. Weil er meine Hand noch immer in seiner hielt, konnte ich nicht anders als mit ihm zu fallen, und wir landeten ziemlich unsanft in einem Wust aus rudernden, haltsuchenden Gliedmaßen auf dem ausgezogenen Sofa. Jack, der noch versucht hatte, den Fall zu bremsen, lag halb über mir, und sein Herz schlug gegen meine Rippen.
„Au!“, beschwerte er sich und ließ den Kopf in meine Halsbeuge fallen.
„Jack“, flüsterte ich, als er sich nach einigen Sekunden immer noch nicht gerührt hatte. „Ich kann nicht aufstehen.“ Mein Herz schlug unerträglich heftig, und ich wusste, dass seine Nähe daran schuld war.
Jack brummte bloß. Sein Atem traf die nackte Haut an meinem Hals, und ich schauderte. Na toll, jetzt hatte ich auch noch Gänsehaut.
„Jack“, wiederholte ich eindringlich.
„Grrr“, brummte Jack missmutig. „Mir egal, ich will nicht aufstehen.“
Ehe ich noch etwas entgegen konnte, schob er seine Hände links und rechts unter mich, und mein Körper reagierte augenblicklich auf seine Berührung. Wie elektrisiert blieb ich stocksteif liegen, kaum fähig, zu atmen, geschweige denn, mich zu bewegen.
Seine Finger fanden meinen Nacken und streiften in einer fast beiläufigen Bewegung die empfindliche Haut dort.
Ein merkwürdiger Ton entrang sich meiner Kehle, etwas, das wie „Nnng“ klang und absolut spontan und unbeabsichtigt war. Ich spürte, wie die Röte in meine Wangen kroch, aber da sein Gesicht noch immer in meiner Halsbeuge verborgen war, machte es nichts aus.
„Monster“, flüsterte Jack. Seine andere Hand streifte die nackte Haut an meiner Hüfte, wo das T-Shirt nach oben gerutscht war, und ich schauderte erneut.
Im nächsten Augenblick hörte ich schlicht auf zu denken. Ich handelte einfach nur noch, willkürlich und instinktiv.
Meine Arme schlangen sich ganz von allein um seinen Körper, meine Finger glitten über die glatte Haut unter seinem Shirt, spürten sein Schaudern und Zittern und wanderten weiter, schmetterlingszart über die bebende Oberfläche seines Bauches und tiefer, bis an den Rand seiner Jeans.
Sein Stöhnen klang ganz natürlich, und es war nichts Verwunderliches daran, dass auch ich mich seinen Berührungen hingab, ihn gewähren ließ, ihn weiter vordringen ließ als je ein anderer gekommen war.
Alles war warm, und das Einzige, was mich zittern ließ, als er mir die Kleidung vom Leib streifte, war die brennende Berührung seiner Fingerspitzen. Ich hielt seine Hand fest, folgte einem Impuls und küsste eine Fingerkuppe nach der anderen mit geschlossenen Augen. Mein Körper blieb in permanenter Bewegung, mein Fuß streichelte sein Bein, meine Hüfte die seine, während ich mich schlicht dem Moment hingab und nichts mehr fühlte außer ihm, außer Jack.
Mit zärtlichen Bewegungen öffnete ich den Zopf an seinem Hinterkopf, fuhr durch sein offenes Haar, wieder und wieder, während er, schon längst nicht mehr bekleidet, mich näher an sich zog.
Sein Atem war so laut wie meiner, und er klang wie Musik in meinen Ohren, bestimmte den unabänderlichen Rhythmus unserer Bewegungen, während unsere Körper sich wie nie zuvor im Einklang bewegten, einander erforschten, neckten und verwöhnten, bis sie nichts mehr wollten als eins zu werden.
Es war kaum mehr als eine kleine Bewegung, ein natürlicher Schritt in dem Tanz, auf den wir uns eingelassen hatten. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich in diesem Augenblick keinen Gedanken daran verschwendet hatte, aber Jack hatte in einer unerhört typischen Weise tatsächlich an ein Kondom gedacht. Seine Finger, die den hauchdünnen Gummi überstreiften, übten eine Art magische Anziehungskraft aus, und ich konnte nicht anders, als sie festzuhalten, sie fortzuziehen und mit meinen zu verweben, damit ich noch näher an ihn rutschen konnte. Ich wollte nichts mehr zwischen uns, nicht das kleinste Staubkörnchen. Selbst unsere Haut schien mir schon zu viel zu sein, eine unüberwindbare Barriere, ich wollte nicht von ihm getrennt sein, ich wollte e i n s werden mit ihm.
Das Gefühl von seiner Haut auf meiner, nackt und ohne Hindernisse, war eines, das ich nie mehr missen wollte. Nie zuvor hatte ich etwas so Erfüllendes und gleichzeitig Unzureichendes erlebt, nie zuvor wahrgenommen, wie viel Körperkontakt mir geben konnte.
Es gab auch Momente der Angst in diesem Strudel des Verlangens und der Lust, der tränentreibenden Sehnsucht nach ihm, der sich doch direkt vor mir befand, an mir, i n mir.
Es war die altvertraute Angst vor allem, was Nähe und Berührungen beinhaltete, die beständig in meinem Hinterkopf pochte und rumorte. Nichts war einfach, aber alles war notwendig und absolut richtig genauso, wie es war. Es war ein Machtkampf, und die simple Tatsache, dass meine Sehnsucht nach Jack mittlerweile größer war als meine Angst vor Nähe entschied über den Ablauf dieser Momente.
Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es nicht wehgetan hätte. Nie zuvor hatte mein Körper die Erfahrung gemacht, etwas auf diese Weise in sich aufzunehmen, und die empfindliche Öffnung reagierte als Erstes mit Schmerz. Tatsache aber war, dass ich den Schmerz zum ersten Mal, solange ich mich erinnern kann, nicht als Fremdkörper, sondern als natürlich und notwendig, als selbstverständlich und alles andere als störend wahrnahm. Er gehörte einfach dazu, und ich begrüßte ihn, nahm ihn mit offenen Armen auf wie alles andere in diesem Moment.
Sobald Jack in mir war, nahm ich nichts anderes mehr wahr. Die verschwommene Wahrnehmung von Laken unter uns, von der Sofalehne neben seinem Kopf, verschwand vollkommen, und ich konnte keine meiner Regungen mehr kontrollieren. In einem Reigen gegenseitiger Reaktionen aufeinander nahmen Atemzüge, Herzschläge und Bewegungen an Tempo zu, und die merkwürdigen Geräusche, die wir beide von uns gaben, schienen natürlich zu sein und steigerten zumindest mein Verlangen nach ihm.
Ähnlich wie bei unserem Kuss am vorherigen Abend verschwamm die Umwelt und verschwand hinter unseren überwältigenden Empfindungen, nur dass ich diesmal nicht nur den Bezug zu und das Bewusstsein für alles andere, sondern tatsächlich auch mich selbst an ihn verlor.
Ich fühlte nichts mehr als das, was Jack mich fühlen ließ, die Zärtlichkeit und Behutsamkeit seiner Berührungen, die Sehnsucht und das Verlangen seiner Bewegung, die Wärme seines Atems an meiner Wange, die überwältigende Weichheit seiner Lippen auf meinen.
Ich hörte nichts als seinen Atem und seine abdriftende Stimme, nah bei mir, besser noch als das Schlaflied, das er immer für mich sang.
Ich schmeckte nichts als ihn, seine Lippen, seine Zunge, seine Haut, und wollte nichts als ihn, alles von ihm, ich wollte es alles so tief wie möglich in mich aufnehmen, damit es sich nie wieder von mir entfernte.
Was ich sah, war das helle Braun seiner Augen.
Eigentlich waren sie sogar noch heller als das – beige, vielleicht, fast golden. Seine Wimpern schienen lang und zart und umrahmten dieses Leuchten in perfekter Harmonie, sodass ich unfähig war, meinen Blick davon zu lösen.
Was ich nie vergessen werde, ist die Farbe seiner Augen in diesem einen Moment, als die Wärme und das Kribbeln überwältigend wurden und nicht mehr steigerungsfähig schienen. Die Farbe seiner Augen in dem Moment, in dem er diesen unterdrückten Ton von sich gab, den Kopf zurückwarf und sie kurz schloss – als er mich dann wieder ansah. Diese Farbe ist mit keiner anderen vergleichbar, die ich je in seinen Augen gesehen habe. Sie schienen f l ü s s i g zu sein, warm und heller als je zuvor.
Womit ich sie am ehesten Vergleichen kann, ist die Farbe von Honig, hell, weich und in diesem merkwürdigen Glanz.
Oh, wie ich diese Farbe liebe.
Und oh, wie ich es liebte, in seinen Armen einzuschlafen, erschöpft, verwirrt und glücklich, zum ruhiger werdenden Rhythmus unserer Atemzüge, eingelullt von der Wärme seines weichen Körpers, abgelenkt von der Berührung seiner Haut auf meiner.
Ja, wie ich es liebte.
Aber oh, wie ich es hasse, mich an alles zu erinnern, was danach kam.
Wie ich es hasse, an seine Reaktion am Sonntagmorgen zu denken und an seinen überstürzten Aufbruch. An seinen Blick.
Seine Augen.
Oh, wie ich es hasse, daran zu denken.
Er war schon wach, als ich aufwachte, offenkundig aber noch nicht lange, denn sein Blick glitt irritiert und schlaftrunken durch mein Zimmer, blieb am unordentlichen Haufen unserer abgestreiften Kleider hängen und wanderte zu mir.
Mit aufgerissenen Augen sah er mich an, und ich konnte das Erschrecken und die Abscheu in seinem Blick erkennen.
„Das ist nicht wirklich passiert“, stieß er mit rauer Stimme hervor und versuchte hastig, sich in den verworrenen Laken aufzurichten.
Ich konnte ihn nur anstarren und versteckte mich, erschrocken von seiner Reaktion, hinter meiner Decke. Was sollte ich darauf auch sagen? „Nein, ist es nicht“? Oder „Doch, ist es“? Beides erschien mir falsch und unpassend, und so schwieg ich hilflos.
„Nein“, knurrte Jack zwischen zusammengebissenen Zähnen und wühlte sich aus den Decken hervor, „Nein.“
Und mit heftigen, beinahe wütenden Bewegungen stand er auf und begann, seine Kleidungsstücke einzusammeln.
Panik breitete sich in mir aus. Ich wollte nicht, dass er ging, das wollte ich auf keinen Fall. Aber ich wusste kaum, wie ich mich wehren konnte. Wie vor den Kopf geschlagen sah ich ihm zu.
„Jack, geh nicht!“, stieß ich schließlich verzweifelt hervor, als er in seine Jeans stieg und den Knopf mit routinierter Bewegung schloss. „Geh nicht!“
Beinahe unerträglich schämte ich mich für meine Worte, aber ich wusste mir nicht anders zu helfen.
Jack drehte sich, sein T-Shirt in der Hand, noch einmal zu mir um. Seine Augen, schwarz wie die Nacht, funkelten mich aufgebracht an. Mit einer ruckartigen Bewegung öffnete er die Tür und wandte sich, schon halb auf dem Flur, noch einmal nach mir um.
„Das hier“, brüllte er, „Hätte nicht geschehen sollen!“
Die Eiseskälte, die sich in diesem Moment in mir ausbreitete, war mit nichts anderem vergleichbar, nicht einmal mit meiner Leidensgeschichte bei meiner Familie.
Dies war der Moment, in dem ich lernte, dass schlimmer ist, etwas zu verlieren, das man einmal hatte, als ganz ohne es zu leben. Kein Schmerz war mit diesem vergleichbar.
Verlust.
Das Wort hallte in meinem verwirrten Herzen wieder. Ich hörte kaum, wie Jack die Tür zuschlug und sich seine zornigen Schritte über den Flur entfernten, wie er die WG verließ und aus meinem Leben verschwand.
Susan war es, die mich irgendwann später heulend in der Küche fand. Dorthin hatte ich mich geschleppt, notdürftig bekleidet mit den Klamotten von gestern, und nun saß ich da, die Hände krampfhaft um eine längst ausgekühlte Tasse Tee geklammert, die Augen rot vom Weinen. Die Tränen wollten einfach nicht stoppen, ganz egal, was ich tat, ganz egal, was Susan tat oder einer der Jungs. Es hörte nicht auf. Es nahm einfach kein Ende, dieses Leid.
Bis heute nicht.
Denn jedesmal, wenn ich sie schließe, habe ich doch nur wieder dieses eine Bild vor Augen: Von Jack, Jack mit seinen Honigaugen.






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