Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte - Teil 8

Autor: sunny
veröffentlicht am: 12.09.2011


Yahoo, Kapitel acht ist fertig!! Ich konnte einfach nicht aufhören und habe dehalb unvernünftigerweise eine Nachtschicht eingelegt... hoffentlich merkt man das dem Kapitel nicht an!
Danke für all eure Kommentare!!! Jedes einzelne macht mir so viel Mut! :)

***

Kapitel acht
Tränen

Ich gehe in die Küche und hole mir noch ein Glas Wasser. Auf Zehenspitzen schleiche ich zurück auf den Flur und nehme Kurs auf mein Zimmer, aber natürlich steht das Schuhregal im Weg und ich stoße mit meinem nackten Fuß dagegen, dass der kleine Zeh vom Fuß abspreizt. Ich verschütte mein halbes Wasser auf mich und den Boden, kneife fest die Augen zusammen und beiße mir vor Schmerz so fest auf die Unterlippe, dass sie fast aufplatzt. Au! Au, au, au! Tut das weh… das tut so weh…
„Aua“, forme ich lautlos mit den Lippen, und merkwürdigerweise geht es mir danach besser. Ich denke daran, dass manche Dinge allein dadurch, dass man sie ausspricht, besser zu werden scheinen. Oder wenn nicht besser, dann doch zumindest erträglicher. Ist das nicht merkwürdig? Ich meine, es ändert doch nichts an den Dingen selbst, dass man sie in Worte fasst, oder?
Vorsichtig gehe ich zurück in die Küche, trockne mein Glas und fülle es erneut mit Wasser, bevor ich – diesmal sehr aufmerksam – durch den Flur in mein Zimmer zurückkehre.
Zuerst stelle ich das Glas auf meinen Schreibtisch, dann suche ich mir etwas Trockenes zum Anziehen heraus.
Irgendwie scheint keine trockene Schlafkleidung von mir mehr vorhanden zu sein, aber das ist auch egal, da ich es mittlerweile aufgegeben habe, einschlafen zu wollen. Ich ziehe mich einfach jetzt schon an.
Es ist halb vier Uhr morgens, und ich habe noch kein Auge zugetan. Dann wird es jetzt wahrscheinlich auch nichts mehr werden. Zumal ich kein Stück müde bin. Nicht im herkömmlichen Sinne müde zumindest…
Aber ich bin es Leid, hier herum zu hocken wie ein Häuflein Elend und mich auf nichts konzentrieren zu können. Ich bin es Leid, dass meine Gedanken sich immer noch ausschließlich um Jack drehen und ich bin es verdammt nochmal Leid, so allein zu sein. Ja.
Ich denke daran, was ich jetzt tun würde, wenn ich nicht allein wäre, und seufze genervt auf. Okay, vermutlich ist es doch ganz gut so, dass ich allein bin.
Resignierend setze ich mich an meinen Schreibtisch und trinke einen Schluck Wasser. Nachdenklich stütze ich den Kopf in eine Hand und drehe das Glas in der anderen.
Das Licht meiner Stehlampe spiegelt sich darin. Es sieht faszinierend aus. So viele verschiedene Facetten, immer wieder ein Aufblitzen, Flächen von Licht und Dunkelheit.
Genau wie wir Menschen.
So verscheiden.
So facettenreich.
Niemand kann einen Menschen einfach so durchschauen. Das geht gar nicht, weil ein Mensch niemals nur eine Sache denkt, fühlt, wahrnimmt. Wahrscheinlich hängt es auch damit zusammen, dass Entscheidungen uns häufig so schwer fallen. Wenn man nicht nur eine Sache denkt, nicht nur eine Sache fühlt, wie kann man sich dann darauf beschränken, nur eine Sache zu wollen? Es hängt doch immer alles miteinander zusammen. Das eine beeinflusst das andere, permanent, pausenlos.
Erneut seufze ich auf. Ja, ich hasse Entscheidungen. Andererseits würde ich auf meine Entscheidungsfreiheit nicht verzichten wollen.
Jack hat das immer berücksichtigt.



Der Tag, nachdem Jack das erste Mal für mich gesungen hatte, war ein Sonntag; jener Sonntag, den ich mir laut ihm hatte freinehmen sollen.
Ich schlief lange an diesem Tag.
Wirklich lange, für meine Verhältnisse. Als ich aufwachte, war es bereits elf Uhr und Jack saß mit Susan und Ben in der Küche und zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, als ich dazu kam.
„Es regnet“, bemerkte er, als sei das ein Grund, auf der Stelle in Tränen auszubrechen und an den Weltuntergang zu glauben.
Verwirrt nickte ich. Ja, es regnete. Seit langen Tagen wieder einmal, und es waren wahre Sturzbäche, die sich vom Himmel auf uns ergossen. Ich hatte nichts gegen Regen. Ich liebte es, drinnen zu sitzen und nach draußen in das graue, ungemütliche Wetter zu schauen; sich sicher zu fühlen, ja, das liebte ich. Ab und zu liebte ich es auch, mich nass regnen zu lassen; manchmal war das eine wirkliche Erleichterung für die Seele, aus welchem Grund auch immer.
Aber Jack war an diesem Morgen todunglücklich, weil es regnete.
„Ich hab so ein schönes Picknick für uns geplant!“, erklärte er. „Und jetzt? Es regnet. Es regnet!!! Warum, verflixt nochmal, hätte es nicht gestern regnen können, als wir sowieso drinnen waren? Oder morgen? Oder…“ Er seufzte und ließ seinen Kopf auf seine Hände fallen.
Verblüfft starrte ich ihn an. „Du… hast ein Picknick vorbereitet?“, fragte ich überrascht.
„Ach, jetzt ist das sowieso egal“, stöhnte er, ohne den Kopf zu heben.
„In Afrika“, begann Susan, die bis eben eifrig an einem Brötchen gekaut hatte, „Da gibt es eine Trockenzeit. In der Trockenzeit regnet es nie, und dann ist alles fast vertrocknet, und manchmal verdurstet man sogar! Aber wenn die Zeit vorbei ist, dann regnet es in solchen Sturzbächen, dass man glaubt, die Welt ginge unter und es würde nie mehr aufhören. Alles ist dann nass. Und matschig. Alles ist matschig, ja. Stellt euch mal vor, hier wäre alles matschig! Wenn jetzt die Straßen nicht betoniert wären oder gepflastert, und alles wäre so wie im Mittelalter, und dann müsste man noch mit langen Röcken rumlaufen… da wäre einfach alles nass! Und schmutzig! Stellt euch mal vor, wir hätten dann keine Häuser. Wir können wirklich froh sein, Häuser zu haben. Ich hab da mal von einem Mann gehört, der hatte so viele Schulden, dass sein Haus gepfändet wurde, und der hatte sieben Kinder… oder sechs…. Und jemand hat gesagt, dass seine Frau weg war; und dann musste der mit sieben Kindern – oder sechs – unter freiem Himmel leben! Der muss doch froh sein, nicht in Afrika zu leben, während der Regenzeit! Aber eigentlich ist es im Winter hier ja auch hart. Ich kannte da mal jemanden, der hatte einen Cousin, der hat einen Kumpel gehabt, der ist mal im Winter zu Fuß ein paar Kilometer durch den Schnee gelaufen; und alles war nass; das war eine Sauerei, kann ich euch sagen! Der ist danach in seine Wohnung, und weil er keine Zeit hatte, zu waschen und so, ist sein ganzes Zeug eine Woche oder so so liegen geblieben, und als er es waschen wollte, da war es geschimmelt! Könnt ihr euch das vorstellen? Es war geschimmelt! Ich find das so eklig! Ich meine, stellt euch doch mal vor, euer liebsten Kleider würden verschimmeln und ihr könntet sie nie wieder anziehen, weil Schimmel nicht mehr raus geht! Geht Schimmel wieder raus? Ben, geht Schimmel wieder raus?“
„Keine Ahnung“, entgegnete Ben gleichmütig und rührte in seinem Kaffee. Jack hatte sich während Susans schier endlosem Monolog aufgerichtet und starrte ihn nun hilflos an. Als Ben den Blick bemerkte, seufzte er.
„Susan, wollen wir nicht mal Jockel besuchen gehen? Ich glaub, der hat so ein neues Spiel für die Wii, das wolltest du doch ausprobieren, oder?“
Susans Augen leuchteten auf. „Ja!“ Sie sprang auf und warf uns einen entschuldigenden Blick zu. „Ihr kommt doch klar, oder?“
Überrumpelt räusperte ich mich. „Ähm. Klar.“
Wenige Minuten später waren sie unter einem neuerlichen Redeschwall Susans aus der Tür verschwunden.
Jack seufzte erleichtert auf. „Ich hab sie ja wirklich gern, aber manchmal ist sie selbst mir zu viel.“
Dieser Kommentar brachte mich unwillkürlich zu Lachen, weil ich daran denken musste, wie krampfhaft ich mir noch vor Kurzem versucht hatte einzureden, dass mehr zwischen Jack und Susan wäre.
Verwirrt sah er mich an. „Schön, dass du lachst“, befand er, „Aber könntest du mich auch zum Lachen bringen? Ich bin so deprimiert…“ Erneut seufzte er.
„Nimmt dich das bisschen Regen wirklich so mit?“, fragte ich neugierig.
„Weniger der Regen“, erklärte Jack lächelnd. „Vielmehr die Tatsache, dass er meinen fabulösen Plan ruiniert.“
„Fabulös?“ Wieder musste ich lachen.
Diesmal stimmte Jack mit ein. „Du hast ja recht. Wir sollten uns davon nicht die Stimmung vermiesen lassen.“ Er stand auf. „Komm, lass uns was unternehmen!“
Ratlos blinzelte ich zu ihm hinauf. „Was denn?“
Jack grinste mich mit leuchtenden Augen an. „Picknick?“
Und wieder lachte ich. „Okay. Darf ich noch duschen?“
„Lohnt sich das?“, fragte Jack mit einem Blick nach draußen.
„Wahrscheinlich nicht“, stimmte ich ihm zu. „Aber anziehen ist drin, ja?“
„Alles klar.“ Er salutierte. „Hey, weißt du was? Ich hab Lust, schwimmen zu gehen. Wie sieht’s aus?“
Mit leuchtenden Augen sah er mich an, aber meine gute Laune war bereits verpufft. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in mir breit. Mein Lächeln erlosch.
„Was ist los?“, fragte Jack besorgt.
„Nichts.“ Ich senkte den Kopf und wandte den Blick ab, dann stand ich auf. „Ich zieh mich kurz an.“
Aber Jack hielt meinen Arm fest und blickte mir forschend ins Gesicht. „Mona, was ist los?“
Ich atmete tief durch, kniff die Augen zusammen. Dann sagte ich mir, wenn ich ihm nicht vertrauen kann, wem dann? Es fiel mir schwer, es auszusprechen, aber ich tat es trotzdem.
„Ich kann nicht schwimmen“, gestand ich flüsternd.
Kurz blieb es still, aber als ich vorsichtig zu Jack hoch blinzelte, erkannte ich, dass er lächelte.
„Lass es mich dir beibringen“, bat er. An seiner Augenfarbe erkannte ich, dass er verstanden haben musste, warum ich nie schwimmen gelernt hatte; und ich war verdammt froh, dass er nicht wieder Mitleid zeigte, sondern es einfach hinnahm und seine Hilfe anbot.
Ja, Jack war ein Wunder.
„Ich hab aber… gar keine Schwimmsachen“, fiel mir ein. Wozu auch? Ich hatte sie bis dahin nie gebraucht.
„Leih dir doch was von Susan“, schlug Jack vor. „Sie hat bestimmt nichts dagegen.“
Ich wollte mir aber nicht einfach so etwas von Susan nehmen, ohne zu fragen. Schon die Vorstellung, überhaupt etwas von ihr zu leihen, war mir so fremd.
Jack musterte mich forschend. Dann glätteten sich seine Gesichtszüge und er ermunterte mich sanft: „Ruf sie doch an.“
Noch bevor ich einwenden konnte, dass ich ja noch immer kein Handy besaß, hielt er mir seines entgegen. „Ihre Nummer ist eingespeichert.“
Zögernd nahm ich das Telefon entgegen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, Jacks Handy in der Hand zu haben, und es machte mich auf eine seltsame Art und Weise glücklich. Ich lächelte still und flüsterte „Danke“, ohne aufzusehen. Ich hörte Jacks leises Lachen – dieses Geräusch, das ich so liebte – während ich mich durch sein Telefonbuch klickte, um Susans Nummer zu finden.
Doch gerade, als ich auf „anrufen“ klicken wollte, klingelte das Telefon.
Das Telefon der WG stand im Flur auf dem Schuhschrank neben der Küchentür. Bisher war ich erst zweimal ans Telefon gegangen; ich war noch nicht allzu oft allein hier gewesen, und ohnehin wollte mich kaum jemand sprechen, höchstens Fabio, wenn es eine Änderung im Dienstplan gab.
Als jetzt das Telefon klingelte, dachte ich aber nicht lange nach. Ich drückte bloß Jack sein Handy in die Hand, ging in den Flur und nahm ab.
„Simmons?“, meldete ich mich.
„Monster?“, kam es zurück.
Ich zuckte zusammen und riss automatisch den Hörer von meinem Ohr. Mit großen Augen starrte ich ihn an, bevor ich mich zwang, ihn wieder zurück zu nehmen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht durchgedreht war. Noch nicht.
Johannes lachte. „Also, dass es so einfach wird, dich zu finden, hätte ich nun doch nicht gedacht“, teilte er mir mit, dann wurde er ernst. „Hör mal, dass du uns so einfach ohne jede Nachricht verlassen hast, war ziemlich unhöflich von dir. Mama war sehr ungehalten deswegen. Sie ist der Meinung, dass du schleunigst zurückkommen solltest. Der Meinung bist du doch auch, nicht wahr?“
Ich stand nur da mit dem Telefonhörer in der Hand, wie erstarrt, und konnte nichts sagen.
„Ich weiß, dass du mir zuhörst“, fuhr Johannes fort. „Und ich weiß, du wirst zur Vernunft kommen. Denk einfach mal über meine Worte nach.“
Tuuuuuuut.
Er hatte aufgelegt.
Unfähig, mich zu rühren, stand ich weiterhin starr da, das Telefon am Ohr, und starrte ins Leere. Erst nach einer Weile wurde mir bewusst, dass Jack versuchte, mich anzusprechen.
„…Mona? Ist alles in Ordnung? Wer war das?“ Besorgt sah er mich an. „Komm, gib mir mal den Hörer.“ Behutsam nahm er ihn mir ab und stellte ihn zurück in die Station, die ein zufriedenes Piepen von sich gab.
„Mona.“ Jack nahm meine Hand, die immer noch neben meinem Ohr schwebte, als würde sie ein Telefon halten. Seine Augen zeigten jenes merkwürdige Schwanken zwischen hell und dunkel, das für Sorge stand. „Mona, es ist alles gut. Ich bin bei dir, ja? Alles ist gut.“ Fest sah er mir in die Augen.
Ich atmete heftig, versuchte aber krampfhaft, mich zu beruhigen. Ich wollte Jack sagen, dass es mir gut ging, dass alles in Ordnung war; aber als ich den Mund öffnete, kam bloß ein hilfloses kleines Fiepen heraus, das mich selbst erschreckte.
„Komm mit.“ Bestimmte Jack. Ohne meine Hand loszulassen, drehte er sich um und steuerte auf mein Zimmer zu. Widerstandslos folgte ich ihm und ließ mich von ihm in meine Nische lotsen.
Er schob einige Kissen zusammen und setzte sich darauf, sodass er sich mit dem Rücken an die Wand lehnen konnte. Die Wahl meines Sitzplatzes überließ er komplett mir.
Ich setzte mich ihm gegenüber, hoch aufgerichtet, den Rücken steif, die Augen noch immer weit aufgerissen, unfähig, etwas zu tun oder zu sagen. Wieder entwich mir dieses merkwürdige kleine Geräusch. Voller Scham verbarg ich das Gesicht in den Händen.
„Mona“, sagte Jack. Seine Stimme klang auf eine Art und Weise weich, wie sie schwer zu beschreiben ist. Es war, als würde sie sich um mich schmiegen, mir tröstend über den Kopf streichen, wie Jack es so gern tat. Allein seine Stimme. Allein ein einziges Wort.
Sie brachte mich dazu, aufzusehen.
Auf diese unnachahmliche Weise hob Jack mir fast unmerklich die Hände entgegen, sah mich mit diesem liebevollen Blick an – ganz hell, in diesem Moment.
Und wieder einmal überraschte es mich selbst, wie heftig ich auf diese Geste reagierte.
Ich warf mich in seine Arme, die Hände an seiner Brust zu Fäusten geballt, das Gesicht an seiner Schulter geborgen, als wäre es der einzige Ort auf Erden, der mich retten konnte.
„Es ist alles gut“, flüsterte Jack. Seine Arme schlossen sich um mich.
Dies war der Moment, in dem ich nachgab.
In dem alles in mir nachgab.
Es war nicht ruhig, wie es all die Jahre gewesen war. Es kam nicht unmerklich, schlich sich nicht an.
Es war, als würden alle Dämme brechen. Es war ein lautes und hässliches Geräusch, und ich hasste es; aber ich konnte es nicht stoppen.
Zuerst war da nur meine Stimme. Ich schluchzte, ohne eine einzige Träne zu vergießen. Jack ließ mich keinen Augenblick los, er hielt mich fest im Arm und wiegte mich sanft hin und her.
„Mona“, flüsterte er.
Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden, und wenig später standen mir die Tränen in den Augen.
Ich glaubte nicht wirklich daran, dass sie überlaufen würden. Ich hatte so lange Jahre nicht geweint, dass es ein ungewöhnliches Gefühl war, die Tränen so in meinen Augen zu spüren und die schmerzhafte Enge in meinem Hals. Aber ich konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich wie jeder andere Mensch in der Lage war, zu weinen, Tränen wirklich zu vergießen, wie es immer in Filmen und Büchern vorkam.
Es war ein schockierendes Gefühl, als die erste Träne über meine Wange rollte, und selbst da zweifelte ich noch daran, dass sie weiter kommen würde als bis auf Höhe meiner Nasenspitze.
Aber sie rollte weiter. Sie glitt hinab bis an mein Kinn, ich spürte sie dort hängen und fand das Gefühl so faszinierend und auf eine Art und Weise gut und erleichternd, wie ich nie zuvor etwas empfunden hatte.
Das war nur die erste Träne. Sie blieb nicht einsam.
Mit einem Ruck vergrub ich mein Gesicht noch tiefer in Jacks Hemd und weinte hemmungslos.
Waren die Tränen anfangs spärlich und zögerlich geflossen, so verwandelten sie sich später in eine Flut aus salzigem Nass, aus Angst und Trauer und Wut und all den Gefühlen, die ich jahrelang geschluckt hatte, ohne einen Mucks zu machen. Und ich wusste, das war jetzt endgültig vorbei.
Ich wusste, ich würde nie wieder einfach so dabei stehen können, ohne etwas zu sagen. Ohne mich zu wehren.
Und wenn Johannes tausendmal mein Bruder war. Und wenn er mich liebte. Es war egal. Er hatte mir wehgetan, und ich war nicht länger bereit, diese Tatsache zu ignorieren.
Er hatte mich gequält.
Und, oh ja, das nahm ich ihm übel.
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich bereit, mir das selbst einzugestehen.
Und ich würde nicht zurück gehen. Ich würde nicht nachgeben.
Nie wieder.
Nie mehr wieder.
„Es ist okay“, flüsterte Jack und wiegte mich, ganz sacht, hin und her. Leise begann er, eine beruhigende Melodie zu summen, und obwohl ich nicht aufhören konnte, zu weinen, war ich ihm so dankbar dafür.
An seiner warmen Brust rollte ich mich zu einer kleinen Kugel zusammen und weinte, weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte und keine Kraft für einen weiteren Schluchzer. Ich lauschte Jacks stetig sanfter und beruhigender Stimme, seinem gleichmäßigen Herzschlag, bis ich selbst ruhig genug war, mich aufzurichten.
Jacks Augen sahen mich an, als ich mich umwandte. Sie waren von einem ruhigen Braun, schwenkten aber, sobald sie meine trafen, sofort ins Helle. Ich begann, diese Farbe zu lieben.
Jacks Summen verstummte, und ich wusste, ich war ihm eine Erklärung schuldig.
Es war verflixt schwierig, Worte zu finden, und ich brauchte wirklich und wahrhaftig einige Minuten, in denen ich mich unruhig wand, meine Hände ineinander krampfte und vor ihm saß, unfähig, den Anfang zu machen.
Aber Jack tat, wie immer eigentlich, das einzig richtige. Er blieb ganz ruhig sitzen, sagte kein Wort, wartete bloß still ab.
Ich war ihm so dankbar.
Und ich wusste, wenn ich es jetzt nicht tun würde, bekäme ich vielleicht nie wieder die Chance.
Ich tat es einfach.
„Mein Bruder“, sagte ich. Meine Stimme klang fest und klar. Ich schämte mich so. „Mein Bruder Johannes.“
Viele Leute behaupten, es würde helfen, zu reden.
Mir half es nicht.
Es tat weh.
Es tat verflixt weh, und jedes neue Wort kostete Überwindung.
Jack sah mich aufmerksam an, das wusste ich, obwohl ich nicht in der Lage war, ihn anzusehen, während ich sprach,. Ich fasste mich kurz und knapp, um es möglichst schnell hinter mich zu bringen. Es waren bloß drei Sätze, die ich sagte.
„Mein Bruder Johannes hat mich geschlagen. Ich bin von zuhause weg. Gerade hat er angerufen.“
Dann sah ich auf, und ein weiterer Satz kam unbeschwerter über meine Lippen: „Ich weiß nicht, was ich tun soll!“
Mein Blick war flehend, und Jacks Augen waren nahezu schwarz, als er ihn erwiderte.
„Du bleibst hier bei mir“, beschloss er. „Er kann dir nichts tun. Das darf er gar nicht. Und selbst wenn er herkommt, Monster; du bist volljährig und er ist nur dein Bruder, nicht mal ein Erziehungsberechtigter. Er kann dich zu nichts zwingen. Hörst du?“ Er nahm mein Gesicht in seine Hände, die warm waren und fest. „Du bist sicher hier. Du musst nicht nach Hause zurück.“
Angsterfüllt sah ich ihn an. „Aber – meine Mutter –“, wandte ich ein. Weiter kam ich nicht. Ich biss mir auf die Unterlippe und heulte erneut los, konnte es nicht unterdrücken. Diesmal wandte ich den Kopf ab, um Jack nicht ansehen zu müssen, und kniff fest die Augen zu.
Nur wenige Augenblick später spürte ich, wie er mich in seine Arme zog.
Nie werde ich das schützende Gefühl vergessen, das mich erfüllte, wenn ich in seinen Armen lag. Es war wundervoll. Es war ein verdammtes Wunder. Ich hatte nie daran geglaubt, dass es irgendwo auf der Welt tatsächlich noch einen Ort gab, an dem ich mich so sicher, so geborgen; so zuhause fühlen konnte.
„Meine – Mutter – meine Mutter hat doch…“, schluchzte ich zusammenhanglos vor mich hin. „Meine Mutter hat doch… dafür gesorgt, dass er es tat… Johannes hat doch nur… nur ihre Befehle… ausgeführt – meistens…“ Ich heulte vor mich hin. „ich – ich hab solche…“ Der Satz verebbte in weiteren Tränen. Ruckartig befreite ich mich aus Jacks Umarmung und sah ihn durch die Tränen hindurch an.
„Ich hab solche Angst, Jack!“, brach es aus mir heraus. „Ich hab solche Angst!“
Schweigend streckte Jack die Hand nach mir aus. Mit sanften Bewegungen wischte er die Tränen von meinen Wangen.
„Ich weiß“, sagte er. Mehr nicht. Nur diese beiden Worte.
Und langsam spürte ich, wie es mir besser ging.
Nach einer Weile musste ich durch die Tränen lachen, und als Jack mich fragend ansah, erklärte ich: „Ich hab seit Jahren… nicht mehr geweint. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt… jemals geweint habe…!“ Ich strahlte ihn schluchzend an und war mir bewusst über die Kuriosität dieses Anblicks. „Es tut so gut! Es tut so gut, zu weinen!“
Erleichtert und verzweifelt und genauso furchtbar hilflos wie ich stimmte Jack in mein Gelächter mit ein. Auch gelacht hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr.
Völlig überfordert von all den Emotionen sank ich in mich zusammen.
„Du hast geweint“, stellte Jack fest, „Du hast gelacht.“ Seine Augen glänzten hell und er sah seltsam glücklich aus. „Ich liebe es, wenn du lachst.“
Verblüfft und überrascht von dieser Aussage sah ich ihn an. Das Kompliment konnte ich eigentlich nur zurückgeben. Aber erstens wusste ich nicht, wie; und zweitens knurrte genau in diesem Moment mein Magen.
„Ich hab furchtbaren Hunger“, bemerkte ich.
Jack rappelte sich auf. „Lass uns in der Küche picknicken!“, schlug er vor und streckte mir seine Hand entgegen.
Fast ohne zu zögern schlug ich ein und folgte ihm in die Küche, wo er das Radio anstellte, laut genug, um die aggressiv klingenden Regentropfen an den Fensterscheiben zu übertönen, und einen Korb hinter dem Küchentisch hervor zerrte. Er nahm eine Decke heraus und breitete sie auf dem Boden aus. Dann sah er auf und lächelte mich an. „Das hätte ich fast vergessen“, gab er zu. „Geh du dich schnell anziehen, ich bereite hier alles vor.“
Verblüfft sah ich an mir herunter. Ach ja! Anziehen! Das hätte ich auch fast vergessen.
„Oh!“, stieß ich hervor. Dann wandte ich mich um und huschte schnell in mein Zimmer zurück, begleitet von Jacks herrlich glucksendem Lachen.
Nein, ich wollte nicht zurück.
Nein, ich wollte hier nicht mehr fort, nie mehr wieder.
Ich wollte nicht fort von Jack. Wie auch? Er war das Beste, das mir je passiert war. Er schien der Schlüssel zu allem zu sein.
Ich hatte mich rasch angezogen, aber ich ging nicht sofort zurück zu ihm. Eine ganze Weile stand ich einfach so in meinem Zimmer und starrte benommen auf die Fensterscheibe, an der der Regen abperlte.
Der Regen.
Wäre er nicht gewesen, hätte Johannes mich wahrscheinlich gar nicht erreicht. Dann wäre ich vermutlich längst unterwegs gewesen mit Jack, draußen, bei einem Picknick.
Aber wäre der Regen nicht gewesen, hätte ich vermutlich auch niemals geweint.
Etwas war geschehen, etwas hatte sich verändert, tief in mir drin; etwas weiteres. Es war aufgebrochen. Eine weitere Mauer war gefallen. Ich spürte es.
Es machte mir Angst, aber, ja, es war auch gut.
Ich fühlte mich so viel leichter an als vorher. Leichter und schwerer zugleich. Einfach anders.
Komplett anders als zuvor. Ein Wendepunkt.
Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht, bevor ich mich umdrehte, um zurück zu gehen zu Jack, in die Küche, zu unserem Picknick.
Ich wusste, dass es niemals wieder werden würde wie zuvor.
Ja, vieles hatte sich verändert.
„Setz dich!“, begrüßte Jack mich, als ich in die Küche trat. Er lächelte, aber ich sah in seinen Augen den dunklen Schatten, den er nicht abschütteln konnte. Er machte sich noch immer Sorgen.
Etwas kam mir in den Sinn.
„Jack“, begann ich vorsichtig, während ich mich setzte.
Aufmerksam sah er mich an.
„Hast du… eigentlich nie Probleme?“
Das war eine Sache, die mir schon seit längerem im Kopf herum geisterte. Jack beschäftigte sich immer so intensiv mit meinen Problemen, dass ich mich fragte, was er mit seinen eigenen tat. Hatte er überhaupt welche?
Erstaunt sah er mich an.
„Natürlich“, sagte er langsam und ließ sich ebenfalls nieder. „Jeder Mensch hat Probleme.“
An seinem Stirnrunzeln sah ich, dass er nicht verstand, worauf ich hinauswollte.
„Es ist nur“, setzte ich hinzu, „Du.. hast immer so viel Zeit für mich… Ich frage mich, wo da die zeit für dich bleibt.“ Offen sah ich ihn an.
Jack lachte. „Ach so!“, erkannte er. Verschmitzt lächelte er mir zu. „Weißt du, in letzter Zeit… hingen meine meisten Probleme irgendwie mit dir zusammen. Da ist es nicht schwer, beides miteinander zu verbinden, verstehst du?“
Als er meinen Gesichtsausdruck sah, musste er erneut lachen. „Mach dir keine Gedanken, Mona! Du kannst nichts dafür.“ Er lächelte mich an. „Ich mache mir nur einfach Sorgen um dich, das ist alles.“
„Oh.“ Ich hatte keine Ahnung, was das nun zu bedeuten hatte. Geschweige denn, wie ich darauf reagieren sollte.
„Lass uns etwas essen“, lenkte Jack vom Thema ab. „Ich hab mir so viel Mühe dafür gegeben!“
Das hatte er tatsächlich. Die Picknickdecke war über und über mit Schüsseln und Büchsen aus Plastik bedeckt, in denen sich irgendwelche Köstlichkeiten befanden. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie lange er dafür gebraucht hatte.
„Wann hast du das denn alles gemacht?“, fragte ich fassungslos, während ich mir etwas Nudelsalat auf den Teller lud. „Nudelsalat braucht doch Zeit!“
Jack zuckte die Schultern. „Die Nudeln hatte ich schon gekocht in meinem Kühlschrank. Gestern Abend kam mir die Idee, da hab ich ihn noch schnell fertig gemacht.“
Gestern Abend?
Fassungslos sah ich ihn an. Er war doch schon so spät erst nach Hause gegangen!
„Wann hast du denn geschlafen, um Himmels Willen?“
Da lachte er wieder. „Du bist erst um elf aufgestanden, vergiss das nicht!“
Trotzdem. Ich war immer noch ziemlich von den Socken von seiner Vorstellung. Meine Güte! Was machte der Typ eigentlich nicht perfekt?!
Natürlich schmeckte der Nudelsalat vorzüglich. Forschend sah ich Jack an.
„Sag mal“, wollte ich wissen, „Gibt es eigentlich irgendetwas, das du nicht kannst?“
Anstatt erneut zu lachen, wie ich es eigentlich erwartet hätte, entgegnete er prompt ernst: „Ski fahren. Ich bin ein grottenschlechter Skifahrer.“ Er biss von einem Stück Brot ab, kaute und setzte dann hinzu: „Oh, und im Stricken bin ich auch nicht gerade gut. Ganz abgesehen vom Zeichnen. Meine Zeichnungen sehen irgendwie immer alle nach Monstern aus…“
Er runzelte die Stirn und griff nach seinem Becher, den er mit der mitgebrachten Limonade gefüllt hatte.
Ich seufzte bloß und strich mir über die Stirn. Jack war unglaublich.
„Oh!“, sagte er plötzlich, stand auf und drehte das Radio lauter.
„Let’s twist again… like we did last summer. Let’s twist again.. like we did last year…”, ertönte es aus den Lautsprechern. Jack streckte mir lächelnd die Hand entgegen. „Komm, lass uns tanzen. Lass uns die ganzen Sorgen für eine Weile vergessen.“
Aber ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht tanzen.“
„Natürlich kannst du.“ Er beugte sich vor und ergriff meine Hand, um mich hochzuziehen. „Na, komm schon. Hier ist sowieso nicht viel Platz. Und niemand außer uns ist hier. Lass uns tanzen! Ich zeig’s dir, ja?“
Sein Blick war so flehend, dass ich nicht anders konnte, als zuzustimmen.
Der Platz war tatsächlich sehr beengt, und ich konnte wirklich nicht tanzen, aber es war egal. Wir taten es einfach. An diesem Tag hatte ich geweint, gelacht, zuhause gepicknickt und mit Jack in der Küche getanzt. Es war, so beschloss ich, irgendwie doch, trotz allem, ein guter Tag.
Als die Wohnungstür auf ging, saßen Jack und ich am Tisch und er brachte mir gerade ein Kartenspiel bei. Er konnte so viel mehr als ich.
Lars betrat die Küche.
„Oh, hi!“, begrüßte er uns. „Ihr seid ja hier.“
„Wir haben gepicknickt“, teilte ich ihm lächelnd mit.
„Setz dich doch zu uns!“, bat Jack ihn.
Lars zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Ihr habt hier gepicknickt?“, hakte er nach.
Ich nickte. Dann fiel mir etwas ein. „Wo ist Niki?“
„Der ist noch bei Veronika“, antwortete Lars beiläufig.
Da musste ich wieder lächeln. „Ah.“
„Kann ich mitspielen?“, fragte Lars, aber genau in dem Moment ging die Wohnungstür erneut auf. Es war Ben, der sich die Wassertropfen aus dem Haar schüttelte und seine Jacke an die Garderobe hängte, bevor er zu uns kam. „Ich hasse dieses Wetter!“, schimpfte er. „Zu nass, um ohne Jacke raus zu gehen, aber zu warm, um eine zu tragen!“ Missmutig ließ er sich auf einen Stuhl plumpsen.
„Du hast aber doch eine getragen“, bemerkte Lars.
Ben stöhnte nur genervt. „Ging ja wohl nicht anders.“
„Wo ist Susan?“, wollte Jack neugierig wissen. Das fragte ich mich allerdings auch.
Ein müdes Lächeln huschte über Bens Gesicht. „Bei Jockel“, erklärte er. „ich musste die beiden mal allein lassen.“
„Oh!“, macht ich überrascht, und das schlechte Gewissen suchte mich erneut heim. Nur, weil ich mich in letzter Zeit so wenig um sie gekümmert hatte, war mir etwas so Wichtiges entgangen. Susan und Jockel. Soso. Wie er wohl war?
„Was spielt ihr?“, fragte Ben.
Den restlichen Nachmittag verbrachten wir mit Kartenspielen. Susan schickte irgendwann eine sms an Ben, dass es später werden würde, von Niki hörten wir gar nichts.
Am Abend aßen wir zu viert Abendbrot. Lars und Ben verschwanden danach recht schnell auf ihre Zimmer. Ich saß mit Jack noch eine Weile bei mir, bis ich unaufhörlich gähnen musste.
„Geh ins Bett“, lächelte Jack, „Geh schlafen. Du musst morgen früh arbeiten.“
Er wartete, bis ich mich umgezogen hatte und auf mein Ausziehsofa gekrabbelt war.
„Gute Nacht, Monster“, wünschte er mir und wandte sich zum Gehen.
Hilflos sah ich ihm nach.
„Jack!“, rief ich, als er die Tür erreicht hatte.
Fragend drehte er sich zu mir um.
„Ich möchte jetzt nicht allein sein“, erklärte ich mit gesenktem Blick. Dann fragte ich unsicher: „Könntest du… könntest du bitte nochmal für mich singen? Und bei mir bleiben, bis ich schlafe?“
Jack lächelte. Er schaltete das Licht aus und kam zu mir.
Im Dunkeln hockte er sich vor das Sofa wie gestern, deckte mich richtig zu und strich mir über Haar.
Ohne ein weiteres Wort fing er an, zu singen, und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.
Beruhigt glitt ich hinüber in den Schlaf.






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