Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte - Teil 6

Autor: sunny
veröffentlicht am: 29.08.2011


Hey, hier kommt endlich mal Kapitel sechs... Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, aber die Schule hat wieder angefangen und da ist viel zu tun... Könnte also bei den nächsten Kapiteln auch wieder länger dauern. Ich bitte jetzt schonmal um Entschuldigung dafür!!
Da ich den Teil gerade erst fertig bekommen habe, hoffe ich, dass ich keinen Fehler übersehen habe... wenn euch was auffällt oder stört, schreibt einfach einen Kommentar ;) Dieser Teil ist nicht so besonders toll, aber im nächsten wird's wieder spannender! Achja, und nochmal danke für eure tollen Kommentare, die bauen mich immer wieder auf!

***


Kapitel sechs
Fallen und Aufstehen

Wieder sitze ich hier mit meinem iPod in den Händen, die Stöpsel in den Ohren, und starre blicklos geradeaus aus dem Fenster, als könnte ich die Welt so dazu bewegen, sich zurück zu drehen, damit ich alles nochmal, noch besser machen kann. Damit ich noch eine Chance bekomme.
Ich drücke die Lieder weiter. Ich finde einfach nichts, das passt. Nichts, was ich in einem solchen Moment hören könnte.
Nach einer Weile schalte ich das Gerät schließlich ab und lege es genervt beiseite. Erneut starre ich aus dem Fenster, hinaus in die tiefe Nacht.
Sie scheint zufrieden zu sein.
Keine Ahnung, warum ich das jetzt denke, und ich weiß, es klingt irgendwie absurd; aber das ist genau das Wort, das mir in den Sinn kommt, als ich dort hinaussehe, zum gefühlten tausendsten Mal in dieser Nacht. Zufrieden. Die Nacht kommt mir vor wie eine große, schläfrige Katze, die sich zufrieden auf einem Kissen zusammenrollt und nur desinteressiert unter ihren Lidern hervor blinzelt, wenn jemand ihre Ruhe stört. Ein großes, stolzes, weiches Tier, dem es völlig egal ist, was die anderen denken. Es ist einfach zufrieden, so wie es ist.
Ich seufze und lasse mein Gesicht in meine Hände fallen, vergrabe es tief darin, will erst gar nicht wieder aufblicken. Wenn es nur so einfach wäre. Wenn ich nur eine Katze wäre, stolz und schön, und mir egal wäre, was die anderen von mir denken… Was JACK von mir denkt!
Verdammt! Jetzt heule ich schon wieder!
Ich hab es so satt! Dieses ständige Weinen ist anstrengend und schmerzhaft, sowohl psychisch als auch physisch, weil meine Haut die viele Feuchtigkeit und Reibung nicht gewohnt ist und wund wird. Und helfen tut es sowieso mal überhaupt gar nicht. Ich hasse Weinen.
Ach, verdammt… im Moment hasse ich sowieso fast alles. Alle Welt scheint in schönster Ordnung zu sein, während mein Leben gerade seinen krönenden Abschluss in einer absoluten Katastrophe findet.
Okay, vielleicht übertreibe ich ein bisschen. Aber es ist das einzige, was jetzt zu helfen scheint: Ein wenig übertreiben und mich völlig in mein Leid fallen lassen. Wenn schon Leiden, dann richtig.
Stöhnend richte ich mich auf.
Habe ich jetzt völlig den Verstand verloren? Was ist bloß aus mir geworden? Aus mir, der alten, vertrauten Monster, die vor solchen Gefühlen immer zurück schreckte?
Irgendwo auf dem Weg von damals nach heute muss sie verloren gegangen sein. Irgendwo auf dem Weg von jenem blauen Dienstag zur heutigen samtschwarzen Nacht.
Ich verstehe mich selbst nicht mehr und versuche krampfhaft, herauszufinden, wann ich damit begonnen habe – mich selbst zu verlieren. Mir fremd zu werden.
Denn das bin ich doch – mir fremd. Oder?
Ist ein Mensch nicht immer er selbst?
Blau ist die Einsamkeit, schwarz ist die Trauer. Rot meine schmerzhaften Tränen.



Es dauerte genau eineinhalb Tage, bis ich Jack wieder sah.
Es war Zufall – und dann auch wieder nicht. Ich wollte ihn wiedersehen – und dann auch wieder nicht. Es tat weh, und trotzdem war es das Beste, was mir passieren konnte. Kann das irgendwer verstehen?
Es tat weh, so nah bei ihm zu sein, aber nur aus dem einen Grund, weil ich wusste, dass ich ihm nicht näher kommen konnte, wollte, durfte. Jeder Schritt in seine Richtung bedeutete automatisch einen Schritt von ihm fort, denn innerlich mühte ich mich verzweifelt, mich von ihm zu distanzieren. Es war verrückt, masochistisch und absolut unlogisch, aber so war es; genau so.
Manchmal sind die Dinge eben einfach nicht logisch. Das, was die Grundlage unseres Seins ist, all die chaotischen, undurchschaubaren Gefühle, Instinkte und Geistesblitze, ist niemals aufseiten der Logik vollkommen zu erklären. Der Mensch ist kein logisches Wesen, er schafft es ja noch nicht einmal, sich selbst zu verstehen.
Zumindest bin ich kein logisches Wesen. Absolut nicht.
Wahrscheinlich erklärt das auch mein Verhalten an diesem Tag; diesem Abend, dieser Nacht. Eineinhalb Tage, nachdem ich Jack gesagt hatte, er solle nicht wieder kommen; eineinhalb Tage nach jenem blauen Dienstag… stand er wieder vor der Tür.
Es war Zufall, denn eigentlich brachte Susan ihn her, und er hatte sie zufällig getroffen. Andererseits war es alles andere als Zufall, dass Jack ihr half; denn es war Jack.
Ausnahmsweise war es einmal Susan, die sich eine Blessur zuzog. Ich weiß nicht, wie genau sie es schaffte, aber irgendwie musste sie gefallen sein und hatte sich ihr Knie aufgeschlagen. Es blutete ziemlich heftig und sie konnte das Knie nicht ohne Schmerzen beugen.
Ziemlich fassungslos stand ich in der Küchentür und schaute zu, wie Jack sich um Susan kümmerte. Er würdigte mich keines Blickes, während seine sanften Hände behutsam die Wunde versorgten. Susan saß auf dem Küchentisch, genau wie ich damals, und wischte sich ein paar kleine Tränen aus den Augen. Sie lachte schon wieder. Susan konnte nie lange traurig sein, dazu hatte sie zu viel Lebensfreude.
„Oh, danke, Jack, ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte!“, wiederholte sie zum fünfzigsten Mal. „Du bist ein Engel. Wirklich! Du bist so… toll und… lieb und…“
Jack sah auf und lächelte sie an. „Übertreib’s nicht, Susan. Ich bin wirklich kein Engel. Und wenn, bist du auch einer!“ Er zwinkerte ihr zu.
Wie sie da saßen, und ihre Worte versetzten mir einen Stich, sodass ich gar nicht auf Jacks Augen achtete. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst, oder mich eben einfach umgedreht und wäre weggelaufen; aber ich konnte mich einfach nicht rühren. Stocksteif stand ich da und sah zu. Ich sah und hörte alles, und es tat so verflixt weh, und ich konnte nichts dagegen tun.
Niki, der mit einem Teller in der Hand an der Küchenzeile lehnte und schmatzend ein Würstchen verzehrte, grinste den beiden zu. „Unsere beiden Engel. Sie passen gut zueinander, nicht wahr, Monster?“ Er warf mir einen Zustimmung heischenden Blick zu. „Sie sind beide so hilfsbereit…“
Ich hörte mein Herz in meinen Ohren laut pochen, nahm kaum mehr etwas anderes wahr als dieses alles übertönende Geräusch, und versuchte, Herr über meinen Schmerz zu werden und kein Zeichen davon nach außen dringen zu lassen. Ich zwang mich zu einem Lächeln und nickte Niki zu. Mir wurde beinahe schlecht dabei, aber innerlich schimpfte ich mit mir selbst. Was war ich nur für ein unsensibler, egoistischer Mensch? Wie konnte ich mir nur anmaßen, Jack für mich behalten zu wollen? Niki hatte doch Recht… Susan passte viel besser zu ihm. Abgesehen davon kannte sie ihn schon viel länger und hatte, wie man so schön sagte, ältere Rechte an ihm. Außerdem hatte ich sie gerade eben hier vor meinen Augen flirten sehen. Und war es nicht das, was ich wollen sollte? Sollte ich Jack nicht wünschen, dass er glücklich war; einzig, dass er glücklich war, und zwar egal, wodurch oder durch wen? Ja… das war es, was ich ihm wünschen sollte. Das war es, was ich mir fest vornahm, zu wollen. Mit letzter Kraft drängte ich meine widersprüchlichen Gefühle in die hinterste Ecke meines Herzens zurück und versiegelte sie sorgfältig, damit keines mehr an die Oberfläche kommen konnte. Es kostete mich einiges an Reserven, aber ich schaffte es. Ich hatte meine Maske wieder aufgesetzt; die Show konnte weiter gehen, ohne an einem Aussetzer zu scheitern. Kein Zeichen nach außen. Bleib standhaft, Monster. Denk daran: Du darfst nicht zeigen, wie es in dir aussieht.
Mein Blick ruhte, kalt und verschlossen, auf Jack, wie er da saß und mit Susan scherzte, und ich ignorierte vollkommen, wie Lars nach Hause kam und Niki ihn begrüßte. Doch dann wandten auch Susan und Jack den Kopf nach ihm, und Jacks Blick traf den meinen.
Es war ein zitternder, ein nicht beabsichtigter und vollkommen unkalkulierter Augenblick, in dem wir uns gegenseitig ansahen, und er traf uns beide unvorbereitet. Einige Augenblicke lang hing etwas angespannt in der Schwebe, und keiner von uns konnte sich in die eine oder andere Richtung bewegen. Dann gelang es mir, mich von ihm zu lösen, und ich schaute rasch zu Boden und biss meine Zähne aufeinander, um niemandem preis zu geben, was Jack in mir auslöste.
„Hey, Lars!“, begrüßte Jack meinen Mitbewohner freundlich. „Tauchst du auch mal wieder auf? Hast dich ja lang nicht mehr blicken lassen!“
Tatsächlich hatten die beiden sich seit einigen Tagen nicht gesehen, und ich begann unwillkürlich, darüber nachzudenken, wie seltsam oft die gesamten WG-Mitbewohner – einschließlich mir selbst – ihn in den letzten beiden Wochen getroffen hatten. Ich fragte mich, ob das auch vor meiner Ankunft schon so gewesen war und wie genau Jack eigentlich mit allen in Verbindung stand, wie eng ihre Freundschaft war; und ob sie nicht noch andere Freunde dieser Art hatten. Mit Verwunderung stellte ich fest, dass mir bisher nur wenige der Freunde meiner Mitbewohner begegnet waren. Da waren Sascha, den ich am ersten Tag kennen gelernt hatte, und Laura und Melina, zwei Freundinnen von Susan, die ich nur einmal flüchtig gesehen hatte, als sie Susan von der WG abholten, um mit ihr feiern zu gehen. Mir fiel auf, dass ich keinen von Ben oder Nikis Freunden bislang kannte, weil sie zwar oft mit welchen unterwegs waren, aber nur selten jemand in die WG zu Besuch kam. Das lag wahrscheinlich daran, dass wir kein Wohnzimmer oder etwas Ähnliches hatten und uns daher, wenn wir uns zu mehreren treffen wollten, immer in die Küche setzen mussten, die auf Dauer nicht wirklich gemütlich war, da auch sie nicht besonders groß oder komfortabel war. Da auch ich mich selten anderswo aufhielt als hier, in der Eisdiele oder aber auf einem von meinen Ausflügen mit Jack (die jetzt wohl vorbei waren…), hatte ich tatsächlich, wie ich verdutzt feststellte, auch wenig Gelegenheit, auf Freunde meiner Mitbewohner zu treffen. Ich hatte mich kaum mit ihnen beschäftigt und spürte, während ich dem Gespräch der anderen lauschte, eine Spur meines schlechten Gewissens, dass ich meine Zeit fast ausschließlich Jack gewidmet hatte; dabei war es doch nicht er gewesen, der mich vorbehaltlos aufgenommen hatte, sondern die anderen. Diese Erkenntnis machte mir die Entscheidung, Jack aus dem Weg zu gehen, etwas leichter, stellte sie doch ein weiteres logisches und vernünftiges Argument dafür dar.
Dieser Abend war einer von denen, die wir gemeinsam in der Küche verbrachten; eigentlich war es ja schon kein Abend mehr, sondern eher die Nacht. Erst, als Jack sich, weil er am nächsten Tag arbeiten musste, verabschiedete, löste sich die Runde auf.
Ich hatte die ganze Zeit dabei gesessen, zwar wenig gesagt, aber doch mehr oder weniger zugehört. Obwohl ich versucht war, einfach auf mein Zimmer zu gehen und Jack zu vergessen, war es mir aus irgendeinem Grund unmöglich, zu gehen. Ich konnte mich einfach nicht entfernen. Als wäre ich an meinem Platz fest geeist, blieb ich den ganzen Abend dort sitzen und rührte mich nicht vom Fleck.
Jack saß neben Susan, die ganze Zeit über, und ich interpretierte jede seiner Gesten, jedes Lachen von ihm als Beweis seiner Zuneigung zu ihr. Beinahe fanatisch versuchte ich, mich mit diesen Indizien zu beruhigen, aber es wollte mir einfach nicht gelingen.
Bei seiner Verabschiedung warf er nur einen Gruß in die Runde, schlüpfte in seine Schuhe und verschwand durch die Tür.
Es war merkwürdig, ohne ihn in der WG zurückzubleiben, und ich fragte mich, wieso. Jack gehörte doch gar nicht hierher. Er gehörte doch gar nicht dazu. Er wohnte doch überhaupt nicht in der WG, wieso fühlte es sich dann falsch an, ihn gehen zu lassen?
Auch, als ich schlaflos auf meiner Schlafcouch lag, konnte ich die Gedanken an Jack nicht ausschalten. Als ich mich genug hin und her gewälzt hatte, packte ich mein Zeug und zog wie so oft in die Hängematte um. Genau in dem Moment, in dem ich die Decke erneut über mich zog, fiel es mir auf.
Der Blick, den wir bei Lars‘ Eintreffen getauscht hatten – der Blick, aus dem ich mich nur so schwer hatte lösen können – es war der einzige Blick gewesen, den Jack heute für mich übrig gehabt hatte. In all den Stunden, die wir gemeinsam an einem Tisch saßen, hatte er mich nicht ein einziges Mal angesehen. Nicht ein einziges Mal mehr.
Ungeduldig strampelte ich die Decke von meinen Füßen, weil es mir schon wieder zu heiß war, und rollte mich frustriert zu einer kleinen Kugel zusammen. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, etwas kaputt gemacht zu haben.
Aber ich hatte mich doch bloß retten wollen.
Ich hatte doch bloß verhindern wollen, dass mir jemand weh tat…
Genau so, wie es jetzt wehtat.
Verdammt. Irgendetwas war da schief gelaufen.
Irgendetwas kam in meinem Gehirn – oder besser, in meinem Herzen – nicht so an, wie es sollte.
Warum konnte ich denn nicht aufhören, mich nach Jack zu sehnen?
Mit aller Macht versuchte ich, das unangenehme Gefühl zu vertreiben, aber es blieb allgegenwärtig. Als ich die Augen schloss, sah ich Jacks Gesicht genau vor mir, so, wie er mich an diesem Abend angesehen hatte.
Seine Züge waren undurchdringlich, wie aus Eis gemeißelt, reglos. Ich bemerkte es kaum, denn mein Blick war auf seine Augen fixiert.
Und seine Augen waren pechschwarz.
Rasch ging ich den restlichen Abend durch und versuchte herauszufinden, ob sich die Farbe seiner Augen auch nur einen Moment geändert hatte.
Vergeblich.
Die einzigen Szenen, an die ich mich erinnern konnte, zeigten Jacks faszinierende Augen genauso wie in jenem unseligen Moment. Sie hatten sich die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal aufgehellt.
Ich versuchte, mich zu erinnern, wann ich Jacks Augen das letzte Mal in dieser Farbe gesehen hatte, aber mir wollte nichts einfallen. Selbst am Tag meiner ersten Begegnung mit ihm, als seine Augen die dunkelste Facette gezeigt hatten, die ich an ihm erlebt hatte, waren sie nicht so schwarz gewesen. Nicht so vollkommen und undurchdringlich dunkel.
Unwillkürlich jagte mir ein Schauer über den Rücken.
Wenn ich Recht hatte mit meiner Vermutung, dass Jacks Augenfarbe mit seinen Gefühlen in Verbindung stand, dann fragte ich mich wirklich, was ihn dermaßen beeinflusste, dass sie sich den ganzen Abend über nicht geändert hatte. Und noch dazu in dieser Farbe. Irgendetwas schien Jack wirklich sehr zu bedrücken oder wütend zu machen. Was von beidem würde wohl eher diese Farbe auslösen? Und wie, zum Teufel, hatte er es geschafft, den ganzen Abend Gelassenheit und Frohsinn vorzuspielen, wenn er in Wirklichkeit ganz anders fühlte?
Und warum hatte niemand es bemerkt?
Jacks Verhalten gab mir Rätsel auf, und in dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen.
Der nächste Tag, ein Donnerstag, brachte aber überraschenderweise mehrere positive Wendungen. Obwohl ich nur wenige Stunden geschlafen hatte, stand ich pünktlich in der Eisdiele. Irgendwer war ausgefallen, für den Samira nun den Dienst übernahm, und ihre leichtfertige, positive Art rettete mich durch die Arbeitszeit. In manchen Dingen war sie Susan recht ähnlich, nur redete sie nicht so viel.
Am Abend, als ich müde nach Hause kam, war überraschenderweise Lars zuhause. Was mich noch mehr überraschte, war die Tatsache, dass er in der Küche auf mich wartete und mich bat, mich zu ihm zu setzen.
Zögerlich und misstrauisch kam ich seiner Bitte nach und ließ mich auf der äußersten Kante der Küchenbank nieder. Nicht einen Moment lang ließ ich ihn aus den Augen. Wir waren allein in der Wohnung, keiner der anderen war da, und ich gebe offen zu, dass der erste Gedanke, der mir kam, eine Warnung an mich selbst war. Er kann mit dir machen, was er will, teilte mir eine Stimme in meinem Kopf mit, und obwohl ich sie sofort verdrängte, wurde ich doch mein Misstrauen nicht ganz los. Lars war ein Mann, und auch wenn er bisher keine Anstalten gemacht hatte, mir weh zu tun; im Prinzip kannte ich ihn gar nicht. Ich sollte vorsichtig sein. Also ließ ich ihn nicht aus den Augen.
Auch er sah mich unverwandt an, während er sich in seinem Stuhl nach hinten lehnte. Er saß mir schräg gegenüber, die Beine unter dem Tisch ausgestreckt, und machte ernste Miene.
„Kann sein, dass es immer noch wegen…“ Mit dem Kinn wies er auf meinen Körper, „Früher ist… aber irgendwie bist du nicht gut drauf.“
Das saß. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte, weil ich damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, jemand könnte merken, dass es mir nicht gut ging. Wahrscheinlich, weil ich früher auch nie daran hatte denken müssen. Früher war es mir eigentlich nie gut gegangen; mein stilles, verschlossenes Verhalten war Alltag gewesen und typisch für mich; etwas, das mich prägte, meine Rolle in der Gruppe. In meinem Selbstmitleid versunken, hatte ich völlig vergessen, dass meine WG-Mitbewohner mehr über mich wussten als irgendein Mensch zuvor und dass sie auch schon andere Seiten an mir erlebt hatten. Innerlich schalt ich mich selbst. Ich hätte daran denken müssen. Ich dachte immer an alles. Warum nur hatte ich daran nicht gedacht?
Und wenn?, höhnte die Stimme in meinem Kopf, Was hättest du dagegen tun wollen?
Sie hatte ja Recht, aber das hatte überhaupt nichts mit meinem Problem zu tun. Ich hätte daran denken müssen, ganz egal, ob das nun etwas geändert hätte oder nicht.
„Du musst nicht darüber reden“, fuhr Lars fort, und ich schrak auf.
„Ich dachte nur… naja, ganz egal, was genau in deiner Vergangenheit passiert ist; und unter welchen Umständen du hierher kamst… ich dachte nur… naja… bis jetzt hat sich doch noch niemand gemeldet, oder? Niemand hat nach dir gesucht. Also ist es Vergangenheit.“
Verblüfft starrte ich ihn an.
Er hatte Recht.
Diese mehr als faszinierende Tatsache war mir bisher völlig entgangen; niemand suchte nach mir. Meine Mutter und mein Bruder hätten zur Polizei gehen können; sie hätten eine Vermisstenanzeige aufgeben können, immerhin war ich schon fast zwei Wochen fort, und dann hätten sie mich gefunden. Wenn im Fernsehen und im Radio oder auch nur mittels Plakaten nach mir gesucht worden wäre, hätten sie mich mit größter Wahrscheinlichkeit inzwischen gefunden. Schließlich war ich täglich auf den Straßen da draußen unterwegs; ich hatte einen Job; ich hatte ein Konto.
Dass mich niemand gesucht hatte, war eine aufwühlende Erkenntnis. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht darüber sein sollte.
Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie leichtsinnig es gewesen war, einfach so unter meinem Namen eine Arbeit anzunehmen und ein Konto zu eröffnen. Hatte ich nicht gewollt, dass sie mich nicht fanden? Warum hatte ich dann nicht meinen Namen geändert?
„Monster?“, fragte Lars vorsichtig, „Hörst du noch zu?“
Erschrocken sah ich ihn an und nickte hastig.
„Naja“, sagte er verlegen. „Wie auch immer. Ich hab einen neuen iPod. Wenn du willst, kannst du den hier haben.“
Er schob mir über den Tisch ein kleines Gerät entgegen. Verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel und fassungslos über dieses unerwartete Geschenk starrte ich erstmal nur darauf.
„Nur wenn du willst, natürlich“, beteuerte Lars hastig. „Aufladen müsstest du ihn an einem von unseren Computern, du hast ja keinen. Oder bei mir, ich hab ne Ladestation für meine Anlage. Also, wenn du willst.“
Immer noch schweigend, hob ich meinen Blick und starrte nun Lars fassungslos an.
„Äh… es… sind ein paar Lieder drauf, ich weiß nicht, ob die dir gefallen…“ Nervös kratzte er sich am Hinterkopf. „Wenn nicht, frag einfach Susan, die hat bestimmt was Passendes auf ihrem Computer… oder so…“
Weil er sich so unwohl zu fühlen schien, zwang ich mich, etwas dazu zu sagen. „…Danke.“
Lars strahlte mich an. „Gern geschehen“, freute er sich. „Frag mich einfach, wenn du was wissen willst.“
Momentan wollte ich nichts wissen, aber ich nickte. Sehr vorsichtig nahm ich das kleine Kästchen in die Hand und betrachtete es. Ein iPod – sowas Teures. Wenn Lars sich einfach so einen neuen kaufen konnte, musste er wirklich über viel Geld verfügen. Ich dachte kurz an das, was ich über ihn wusste; es war nicht viel, reichte aber aus, um mir ein ungefähres Bild von ihm zu machen.
Lars trug immer modische Klamotten, war immer gepflegt, er hatte braunes Haar und grüne Augen. Als einziger der WG-Mitbewohner hatte er keinen Job, schien aber immer flüssig zu sein. Soweit ich das mitbekommen hatte, studierte er Informatik, was ich völlig schräg fand. Wie konnte sich jemand freiwillig ein solches Studium antun? Mein Ding waren Computer und der ganze Technikkram noch nie gewesen. Vielleicht lag das daran, dass ich niemals etwas besessen hatte, das weiter gegangen wäre als mein billiges Handy, das ich zuhause gelassen hatte.
Später am Abend, als ich in meinem Zimmer saß, mit angezogenen Beinen auf einem der Kissen in meinem Refugium, kam Susan nach Hause und stürmte sofort zu mir. Ich war gerade dabei, mir die Lieder auf Lars‘ altem iPod anzuhören, und dementsprechend vertieft.
Erschrocken zog ich die Stöpsel aus meinen Ohren, als sie die Schranktüren aufriss und mich mit weit offenen Augen anstarrte.
„Monster!“, rief sie, obwohl ich direkt vor ihr saß, „Monster!“
„Ja?“, fragte ich zögernd. Mal wieder konnte ich Susans übersprudelnde Energie nicht so recht einschätzen.
„Mooooonnnsssteeeeeerrr, komm sofort da raus! Ich muss dir was zeigen, ich hab was tolles gefunden, komm schon, komm da raus!!!“ überschwänglich zerrte sie an meiner Hand.
Rasch befreite ich mich aus ihrem Griff und legte den iPod beiseite.
„Ist ja gut“, kommentierte ich und stellte überrascht und erleichtert fest, dass ein kleines Lächeln über mein Gesicht huschte.
Siehst du, sagte ich mir selbst, du kannst doch noch lächeln. So schlimm ist es doch gar nicht, von Jack getrennt zu werden.
Und schon war das Lächeln wieder fort.
Frustriert kletterte ich aus der Nische und folgte der aufgeregt plappernden Susan zur Küche. Blöde Gedanken! Blöde Erinnerungen! Konnten die mich nicht einmal in Frieden lassen?!
„Augen zu!“, kommandierte Susan und hielt mir schon im selben Moment die Augen zu. „Und jetzt… Achtung, komm hierher…“ Sie lotste mich in die Küche hinein und vor den Küchentisch. „Augen auf!“ Sie nahm ihre Hände fort und ich sah auf den Tisch vor mir.
Kleine Gegenstände waren darauf verteilt, mehrere. Zaghaft streckte ich die Hand aus und nahm einen hoch.
„Was… ist das?“, wollte ich verblüfft wissen.
Lars, der vor mir am Tisch saß, öffnete den Mund zu einer Antwort, aber natürlich war Susan schneller.
„Perlen!“, quietschte sie, und ich spürte, wie sie auf und ab sprang. „Und Draht und Verschlüsse und alles, was du dafür brauchst!“ Sie packte meine Schulter und drehte mich schwungvoll zu sich herum. „Ist das nicht toll?“
Angesichts ihres Strahlens konnte ich gar nicht anders, als zu nicken.
Was hatte sie bloß wieder veranstaltet? Wie kam es, dass sie ständig Geld für mich ausgab? Langsam machte mir das wirklich zu schaffen.
„Susan, du musst nicht…“, begann ich zögerlich, „Du solltest nicht…“
„Jetzt kannst du mir eine Kette basteln!“, unterbrach sie mich. „Ist das nicht wundervoll? Jetzt kannst du all die fantastischen Entwürfe in die Tat umsetzen! Das ist soooo toll!“
„Ja, aber, Susan!“, machte ich mich bemerkbar. „Warum gibst du dauernd Geld für mich aus?“
Verblüfft starrte sie mich an. „Na, weil du meine Freundin bist.“ Sie sagte das, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. „Gefällt es dir denn nicht?“
Ich haderte mit den Worten. „Doch, ich meine, nein, ja… Ich verdiene doch selbst Geld, Susan! Du musst nicht immer alles für mich bezahlen!“
„Aber das brauchst du doch für die Miete, Dummerchen!“, lachte Susan unbeschwert, „Und für die Essenskasse. Und überhaupt, was ist schon dabei, wenn Freundinnen sich etwas schenken? Nun freu dich einfach!“
Sie drehte mich wieder zum Tisch herum. Lars sah mich mit erhobenen Augenbrauen an, schwieg aber. Nachdenklich richtete ich meinen Blick auf den Tisch.
„Freu dich und mach Ketten, ja?“, fragte Susan dicht an meinem Ohr.
Unwillkürlich nickte ich gehorsam.
Erst, als ich samt dem ganzen Zeug in meinem winzigen Zimmer an dem kaputten Schreibtisch saß und in der einen Hand eine Perle, in der anderen ein Stück Silberdraht hielt, registrierte ich, was gerade geschehen war.
Freu dich und mach Ketten. Was war das denn bitte für ein Auftrag? Freu dich und mach Ketten.
Ich kam immer noch nicht ganz hinter Susans Verhalten. Irgendwie war alles immer noch… verwirrend.
Freu dich und mach Ketten.
Also, Ketten konnte ich machen… aber mit der Freude sah es dann doch ein bisschen schwieriger aus.
Seufzend legte ich die Perle und den Draht ab, kramte meine Skizzen hervor und sah sie lange mit gerunzelter Stirn an, bevor ich den Stapel auf den Tisch legte. Sorgfältig strich ich das Papier glatt und wandte meinen Kopf, um aus einem der beiden Fenster nach draußen zu sehen.
Es war noch nicht vollkommen dunkel, eher diesig. Ein merkwürdiges Wetter. Nicht wirklich schlecht und nicht wirklich gut. Ich mochte dieses Wetter nicht; ganz und gar nicht. Es machte mich immer so unruhig und unzufrieden. Es war ein wenig unentschlossen. So, als hinge man in der Schwebe. Als sei man gestolpert, aber noch nicht am Boden angekommen. Noch nicht tief genug gefallen.
Nachdenklich starrte ich in den merkwürdig graublauen Himmel, in die verwaschenen Wolken, die keine wirkliche Grenze zu haben schienen. Was assoziierte ich bloß mit diesem Bild? Es erinnerte mich ein wenig an mich selbst.
Ein wenig?
Na gut, vielleicht auch ein wenig mehr als nur ein wenig.
Dieses Wetter war wie ich.
Unentschlossen.
Konturlos.
Nicht gerade entscheidungsfreudig.
Ärgerlich zog ich die Augenbrauen zusammen.
Hatte ich nicht gerade eben erst Entscheidungen getroffen?! Hatte ich mich nicht entschieden, von zuhause weg zu gehen, allein?! Hatte ich mich nicht entschieden, Jack fort zu schicken…?
Hastig verbarg ich mein Gesicht in meinen Händen. Ich atmete hastig, als ich an all die vielen Entscheidungen denken musste, die ich nicht getroffen hatte.
Ja, ich hatte mich entschieden, von zuhause fort zu gehen. Aber wann? Erst dann, als es unerträglich wurde, dort zu bleiben.
Ich hatte mich nicht entschieden, nach Berlin zu fahren. Ich hatte mich einfach nur treiben lassen.
Ich hatte mich nicht entschieden, in die WG zu ziehen. Das hatte Susan für mich entschieden.
Ich hatte mich nicht entschieden, mit Jack zu reden. Umgekehrt hatte Jack sich entschieden, mit mir zu reden.
Ich hatte mich auch nicht entschieden, mein Zimmer umzugestalten oder ein Konto anzulegen oder den Job in der Eisdiele anzunehmen; all das waren die Entscheidungen meiner Mitbewohner gewesen.
Hatte ich, seit ich hier war, überhaupt eine einzige eigene Entscheidung getroffen?!
Ja.
Eine einzige.
Und zwar die, mich von Jack fern zu halten.
Aber wenn ich ganz ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich mich nur aus einem Grund dafür entschieden hatte: Und zwar, weil ich unfähig war, mich anders zu entscheiden.
Ich war nicht in der Lage, mich für Jack, für das Risiko, für das Abenteuer, das Wagnis, das Unglück, aber auch das Glück zu entscheiden. Lieber blieb ich in meiner altvertrauten Gleichgültigkeit, in meiner schützenden Lethargie, als mich einer möglichen Enttäuschung auszusetzen.
Wie blöd war ich eigentlich?
Jetzt, Stunden, Tage später, als ich hier saß, allein in meinem winzigen Zimmer im diffusen Abendlicht, unter einem Himmel, der sich nicht wirklich entscheiden konnte, nach einem Tag, der mehr als unerwartet verlaufen war; jetzt, in diesem Moment, während ich abwesend auf die bunten, glänzenden Perlen starrte, die Susan mir geschenkt hatte; jetzt, weit weg von allem, konnte ich meine einzige Entscheidung seit meinem Fortgehen kaum mehr nachvollziehen.
Es kam mir so falsch vor. So falsch und feige.
Feige, ja, das war es. Das war das Wort, nach dem ich gesucht hatte. Feige.
Genauso war ich.
Wieder einmal dachte ich an meinen Bruder.
Während unserer Kindheit war er oftmals angeeckt, hatte meist irgendwelche Probleme mit irgendwelchen Leuten am Hals, war patzig und respektlos und liebte es, seine Macht zu demonstrieren. Eigentlich hat er sich nicht verändert, solange ich mich erinnern kann. Er war niemals besonders feinfühlig oder rücksichtsvoll oder freundlich oder all die anderen Dinge, die in dieser Gesellschaft so geschätzt werden.
Aber eines war er ganz sicher nie, und darum habe ich ihn immer beneidet.
Johannes war niemals feige.
Worum es auch ging, er scheute sich nie, ein Risiko einzugehen, ganz im Gegensatz zu mir.
Eigentlich hatte auch ich mich nie verändert.
Was ich heute war, war ich auch damals schon gewesen.
Meist schäme ich mich dafür, aber so bin ich nun mal: Feige. Ich bin nicht mutig oder draufgängerisch, ich gehe immer lieber auf Nummer sicher. Risiken sind nicht mein Ding. Ich hasse den Nervenkitzel. Was ich liebe, ist das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Jenes Gefühl, das ich nur bei… Jack… fühle…
Oh, verdammt, verdammt nochmal.
Jack…
Wie hatte ich ihn nur gehen lassen können?
Wie, um alles in der Welt, hatte ich ihn bloß weg schicken können?!
Ich begriff es selber nicht. Im einen Moment war mir völlig klar, dass ich einfach nicht das Risiko eingehen wollte, von ihm verletzt zu werden; im nächsten schalt ich mich selbst für meine unheimliche Dummheit.
Wenn Jack das einzige war, was mir in dieser großen, unübersichtlichen, feindlichen Welt Trost spendete, was Sicherheit für mich bedeutete und Schutz… wie konnte ich dann auf die Idee kommen, mich von ihm zu trennen???
Jack war ohne Zweifel das Wunderbarste (im wahrsten Sinne des Wortes „Wunderbarste“), was mir jemals geschehen war. Und ohne Zweifel war das auch der Grund sowohl für meine Sehnsucht nach ihm als auch dafür, dass ich ihn fort geschickt hatte.
Denn wenn ich selbst so klein und unscheinbar und unwichtig war; wie konnte ich dann erwarten, dass jemand wie Jack sich mit mir abgab, ohne mich zu verletzen? Ohne mich lediglich zu benutzen? Wie konnte ich erwarten, dass jemand wie er sich überhaupt auch nur in irgendeiner Form für mich interessierte?
Genau: Das konnte ich nicht.
Aber mittlerweile war ich bereit, das Risiko einzugehen.
Auch auf die Gefahr hin, dass danach eine nicht enden wollende Ära des Unglücks und Leids folgen würde, wollte ich auf dieses kleine Stückchen Glück, diesen Hoffnungsschimmer am Horizont, dieses zaghafte Gefühl von zuhause, das Jack mir bot, nicht verzichten.
Es war mir egal.
Zum ersten Mal in meinem Leben war mir wirklich völlig egal, was danach kommen würde.
Was zählte, war nur der Augenblick. Die Tatsache, dass ich zwar gefallen war, aber nicht länger bereit war, liegen zu bleiben, um die Gefahr eines erneuten Sturzes zu vermeiden.
Und ich straffte die Schultern, sah entschlossen hinaus ins dämmrige Dunkel und dachte, dass es vielleicht das war, was das Leben ausmachte: Zu fallen und immer wieder zu fallen. Und den Mut und die Entschlossenheit zu haben, immer einmal mehr aufzustehen, als man gefallen war.






Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz