Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte - Teil 5

Autor: sunny
veröffentlicht am: 19.08.2011


Kapitel fünf
Die blaue Einsamkeit

Silberdraht und Perlen sind auf der Decke verteilt, die ich auf dem Holzboden ausgebreitet habe, direkt neben dem Sofa. Das ist keine gute Idee gewesen, denn nun kann ich die winzigen Perlchen vor Tränen nicht erkennen. Ich weine nicht, noch nicht, aber in meinen Augen steht die salzige Flüssigkeit gerade hoch genug, dass ich sie nicht einfach wegblinzeln kann.
Der filigrane Schmuck, den ich zu basteln begonnen habe, wird warten müssen. Es geht nicht. Ich kann schlichtweg nicht arbeiten in dieser Stimmung. Es soll ja Leute geben, die gerade in diesem Zustand Frust und Trauer in kreative Dinge stecken können, aber mir gelingt das einfach nicht. Meine zitternden Finger bekommen die winzigen Gegenstände nicht zu fassen, die Tränen versperren mir die Sicht und überhaupt habe ich keine einzige förderliche Idee.
Eigentlich wollte ich mich nur ablenken. Die Zeit herum kriegen, denn schlafen kann ich nicht, immer noch nicht. Mir ist nichts anderes mehr eingefallen. Gezeichnet habe ich schon, es hat nicht funktioniert, das Tagebuch, das Niki mir aufgeschwatzt hat, hat auch keine Lust mehr, sich mein Gejammer anzuhören, und alles andere, was ich gern tue, sind eher Tagaktivitäten. Überhaupt, wer sucht sich denn bitte Hobbies, die in der Nacht auszuüben sind? Also echt.
Die hastigen Bewegungen, mit denen ich die Arbeitsmaterialien wieder einzuräumen versuche, sorgen dafür, dass etwa die Hälfte der winzigen Perlen mit schadenfrohen Sprüngen durchs Zimmer hüpfen, auf den alten Holzdielen aufprallen und zwischen den Ritzen stecken bleiben. Ich stöhne lautlos. Verdammt. Genau das war der Grund dafür gewesen, dass ich eine Decke als Unterlage benutzt habe. Alles umsonst, mal wieder.
Es ist mittlerweile halb zwei und, weil es ein Wochentag ist, sehr still. Ich habe eines der beiden Fenster in meinem eigentlichen Zimmer geöffnet, höre aber minutenlang nichts. Eben ist ein Auto irgendwo in der Nähe mit Vollgas vorbei gefahren, jetzt schreit ein Käuzchen. Mehr auch nicht.
Tief sauge ich die kühle Nachtluft ein.
Während ich auf Knien auf dem Holzboden herum rutsche und versuche, wenigstens einen Großteil der Perlen wieder einzusammeln, schweifen meine Gedanken wieder ab zu dem einzigen Thema, zu dem sie in letzter Zeit fähig zu sein scheinen: Jack.



Am nächsten Abend, nachdem Jack gegangen war, kam Susan in mein Zimmer. Ungewöhnlich wortkarg für sie kroch sie zu mir in den Wandschrank, hockte sich auf eines der Kissen, die sie selbst ausgesucht hatte, und sah mir zu, wie ich, unsicher zu ihr hinübersehend, mit der Bürste durch mein langes Haar fuhr, wieder und wieder. Meine Beine hatte ich unter meiner Decke versteckt, nur die Arme waren in dem Schlaf-T-Shirt gut sichtbar. Ich fühlte mich unwohl, sagte mir aber, dass es auch egal sei, ob sie mich jetzt noch einmal sah; sie hatte schon mehr gesehen. Außerdem waren die Wunden am Abheilen, einige sogar schon fast verschwunden.
„Monster“, begann sie relativ zögernd, aber schon ziemlich direkt, nachdem sie sich gesetzt hatte, „Monster…?“
Es klang fragend, also sah ich sie an und entgegnete unsicher: „Ja?“
Sie schluckte und senkte den Blick. „War das… ich meine, warst du…“ Sie stockte und hob den Kopf wieder. „Wurdest du schon immer geschlagen? Ich meine, damals auch, als ich noch da war?“
Ich hielt in meinen langsamen Bewegungen inne, ließ die Bürste sinken, starrte sie an. Ich wollte den Kopf schütteln, wollte nicken, wollte irgendetwas sagen, um es ihr leichter zu machen; aber ich konnte nicht. Es ging nicht, zumindest nicht in der kurzen Zeit, die Susan mir ließ, denn jedes Wort, jede Bewegung zu diesem Thema kostete Überwindung.
„Es war so, nicht wahr?“, stieß sie hervor und ich konnte nicht widersprechen. „Es war schon damals so. Und ich habe nichts gemerkt. Ich… es…“ Zu meiner Bestürzung begann sie zu weinen. „Es tut mir so Leid, Monster! Ich kann mir… kann mir einfach nicht erklären… wie ich es nicht sehen konnte! Wie ich es nicht merken konnte! Die ganze Zeit hattest du keine Freunde… du hast nie jemanden mit heim genommen… immer hattest du irgendwelche Wunden… und es ist… es war eigentlich so offensichtlich! Nur habe ich... ich habe nie daran gedacht… dass es das… dass es so etwas sein könnte… Und alle haben immer gesagt… es ist… tut mir so Leid, Monster! Es tut mir Leid! Es tut mir Leid!“
Erschrocken schüttelte ich den Kopf, beugte mich instinktiv zu ihr vor und legte meine Hand auf ihren Arm. „Es… macht nichts. Es ist nicht schlimm.“
„Nicht schlimm?!“ Susan klang entsetzt. „Monster, es ist schlimm! Es ist schlimm, dass dir das passiert ist… schlimm, dass es jemanden gibt, der so etwas tut… aber am Schlimmsten ist es, dass niemand, absolut niemand in deinem Umfeld in neunzehn Jahren gemerkt hat, was los ist. Nicht mal ich. Monster, ich mach mir solche Vorwürfe. Ich hab immer geglaubt, wir wären… auf eine gewisse Art.. Freundinnen… ich hab geglaubt, ich weiß alles Wichtige über dich! Aber das ist… das war… alles überhaupt nicht wahr. Das ist so…“ Sie suchte nach Worten, schüttelte den Kopf und hob hilflos die Schultern. „Keine Ahnung… so falsch! Ich weiß, dass es falsch ist. Ich hätte es bemerken sollen. Ich hätte es bemerken müssen!“ Erneut schüttelte sie den Kopf. „Bitte verzeih mir, Monster!“
Ich nickte. „Es ist… ist okay, Susan. Du bist eine gute Freundin. Du hast mich einfach… einfach so aufgenommen… mach dir keine Vorwürfe.“
Susan lächelte und heulte erneut los. Dann streckte sie die Arme nach mir aus. „Tut mir Leid, aber das muss ich… jetzt tun.“ Sie zog mich an sich und umarmte mich ganz fest. Es tat weh, und im ersten Moment erschrak ich, aber ich wehrte mich nicht, weil ich wusste, dass Susan das jetzt brauchte. Es war komplett anders, als von Jack umarmt zu werden. Jack war ein reines Wunder. Aber es tat dennoch gut, in Susan, wie es aussah, eine wirkliche Freundin gefunden zu haben.
Fünf Tage nach jenem verhängnisvollen Mittwoch, vier Tage nach meinem ersten Ausflug mit ihm, kam der erste Tag, an dem ich Jack nicht sah. Es war ein Montag und der Geburtstag seiner kleinen Schwester, wie er mir sagte. Ehrlich gesagt war es irritierend für mich, ihn nicht bei mir zu wissen, denn bisher hatte ich jeden Abend mit ihm verbracht (auch die meisten Morgen) und eher den Eindruck gewonnen, Jack habe immer Zeit.
Dieser Montag war eine Tortur. Die ganze Zeit über musste ich mich zur Ordnung rufen, weil ich mich ständig dabei ertappte, mich auf den Abend zu freuen, nur um mich dann zu fragen, weshalb, da ich Jack doch ohnehin nicht sehen würde. Zu allem Überfluss schickte Fabrizio mich gegen fünf schon nach Hause, weil so wenig los war. Es war ein Regentag (natürlich), an denen in der Eisdiele generell nicht so viel Betrieb herrschte. Unmotiviert machte ich mich auf den Heimweg, betrat die leere WG und wandelte erst einmal auf der Suche nach Beschäftigung durch alle Räume. Keiner war da. Weil Nikis Freibad heute grundgereinigt wurde, hatte er frei und war mit Ben, der Überstunden abfeierte, und Lars auf irgendeinem Ausflug mit mir unbekannten Freuden. Susan war Babysitten, und da würde sie auch noch eine ganze Weile bleiben.
Ruhelos strich ich durch die Wohnung, starrte durch die nassen Fensterscheiben hinaus ins regennasse Grau der Wirklichkeit, fühlte mich gefangen, eingesperrt. Ich fühlte mich nicht wohl hier drinnen. Ich wollte weg, raus, am liebsten wäre ich zu der Stelle gefahren, wo ich am vergangenen Donnerstag mit Jack gewesen war. Aber erstens regnete es in Strömen, zweitens würde ich den Weg nie allein finden, drittens hatte ich kein Boot und viertens konnte ich noch immer nicht schwimmen und hatte nicht vor, mich absichtlich in Lebensgefahr zu begeben.
Bei dem Gedanken hielt ich kurz inne und musste lächeln. Es stimmte. Es war absolut wahr. Ich hatte nicht vor, in nächster Zeit zu sterben. Trotz allem Drunter und Drüber, trotz all dem Chaos und der Katastrophen in meinem aus den Fugen geratenen Leben, hing ich daran. Wenn dieses Leben auch ein ziemlich trübsinniges, chaotisches war, so war es doch das einzige, das ich hatte, und ich hatte nicht vor, es jetzt schon aufzugeben. Nicht kampflos.
Das war gut und wirklich beruhigend zu wissen und half mir irgendwie, mich mit der Situation abzufinden.
Schließlich ging ich in mein Zimmer, kramte ein paar der Stifte heraus, die Niki mir „unbedingt hatte mitbringen“ müssen, und lieh mir einige weiße Blätter von ihm, da ich zu diesem Zeitpunkt noch kein Skizzenbuch besaß.
Ich zeichnete den ganzen Nachmittag, mit großer Sorgfalt und Hingabe. Das Vertiefen in diese Tätigkeit half mir, mich von meiner eigenen Unruhe abzulenken. Jedes Detail arbeitete ich akribisch aus, und schließlich kam mir die Idee mit dem Schmuck. Rasch rannte ich hinüber in Nikos Zimmer und nahm mir einen weiteren Stoß Blätter.
Die ersten Skizzen waren zögerlich, unbeholfen, grob gehalten. Ich machte mir viele Gedanken über das Material, aus dem man den Schmuck herstellen könnte. Da ich auf diesem Gebiet nicht wirklich viel Erfahrung hatte, kam ich recht langsam voran. Linie für Linie bannte ich zarte Formen auf das Papier, baute gedanklich zierliche, zerbrechliche Konstruktionen, winzige Schlaufen und perlenbesetzte, glitzernde Details. Jedes von ihnen spiegelte ein Stück meiner Selbst wieder. Ich mühte mich, sie möglichst deutlich, möglichst genau auszuarbeiten, hatte aber anfangs noch sehr mit meinen ungeschickten Fingern und dem verwischenden Material zu kämpfen. Wie gesagt hatte ich kaum Erfahrung auf diesem Gebiet. Früher mochte ich, wie Susan erwähnt hatte, meine Schulhefte vollgekritzelt haben, aber ich tat es aus Langeweile und Hilflosigkeit, einfach für mich, und benutzte selten andere Stifte als Kugelschreiber.
Als irgendwann spät am Abend Susan nach Hause kam, saß ich hochkonzentriert an meinem kaputten Schreibtisch und war kaum dazu zu bewegen, auch nur den Kopf zu heben, während ich abwesend „hallo“ murmelte. Ich wollte nicht aufhören, zu zeichnen und zu konstruieren. Zwar war mir unangenehm, dass Susan nun näher kam und die Zeichnungen betrachtete, aber selbst das konnte mich nicht zu einer Unterbrechung veranlassen.
„Monster!“, rief Susan überrascht. „Hast du das gezeichnet?“
Abwesend nickte ich bloß, während mein Stift eine zarte Linie auf das Papier zog und ich über einem Verschluss grübelte, der möglichst filigran wirken sollte, ohne zu leicht kaputt zu gehen.
Susan hob einen Stapel der fertigen und verworfenen Skizzen auf und blätterte sie rasch durch. „Das ist… das ist… ich weiß auch nicht, das ist… fantastisch!“, stieß sie hervor. „Das ist unglaublich! Wie kann jemand solch filigrane Muster entwerfen, ohne dass es gekünstelt aussieht?!“ Sie ließ die Blätter sinken und starrte mich an. „Monster! Das ist so gut! Ich bitte dich, mach was draus! Lass dieses Talent doch nicht einfach verkümmern, indem du in Eisdielen kellnerst!“
Talent? Aufhorchend hab ich meinen Kopf. Talent… ich konnte mich nicht daran erinnern, dieses Wort jemals so direkt im Zusammenhang mit mir gehört zu haben. Talent! Aber dann fiel mir ein, dass Susan meine Freundin war und es deshalb wohl nicht allzu klug schien, sich ausschließlich auf ihre Meinung zu stützen. Ich lächelte sie schwach an. „Schön, wenn es dir gefällt“, sagte ich nur. „Vielleicht kann ich lernen, wie man sowas herstellt, dann mach ich dir auch mal was.“
Das war ein für meine Verhältnisse langer Monolog, aber er erfüllte seinen Zweck durchaus; Susan war davon abgelenkt, mich zu etwas überreden zu wollen, zu dem ich mich aus verschiedenen Gründen absolut nicht in der Lage fühlte.
Sie quietschte und freute sich und erstellte schließlich gleich eine Liste mit den Dingen, die ich brauchen könnte, um den Schmuck herzustellen, während sie unaufhörlich quasselte, wie es eben ihre Art war.
Gott sei Dank kamen die Jungs an diesem Abend erst so spät, dass wir bis dahin schon im Bett lagen. Ich schaukelte mit offenen Augen in der Hängematte und fragte mich unaufhörlich, ob ich Jack wohl am nächsten Tag sehen würde, wofür ich mich jedes Mal sofort gedanklich schalt. Monster! Hör auf damit! Du darfst dich an niemanden binden, du weißt, was dabei herauskommt! Und selbst wenn; du glaubst doch nicht im Ernst, dass JACK sich für DICH interessiert!
Vor lauter Schreck über meine Gedanken hielt ich die Hängematte an und lag einen Moment stocksteif im Dunkeln, während ich die Jungs draußen herum poltern hörte. Interessieren? War das wirklich das Wort gewesen, dass ich gedacht hatte?
Es war gefährlich. Dieses Wort war gefährlich, denn es barg die Möglichkeit, sich auf etwas einzulassen. Damit hatte ich in der Vergangenheit fast nur schlechte Erfahrungen gemacht. War es nicht also besser, sich von Jack fern zu halten? Ihn nicht mehr zu sehen? Das zwischen uns zu beenden, bevor es beginnen konnte, um die Möglichkeit auszuschließen, dass er mir wehtun würde?
Ich glaubte nicht wirklich, dass Jack mir wehtun würde, aber ich war bereits den ganzen Tag nervlich aufgewühlt und viel zu lange allein gewesen, und in der vertrauten Dunkelheit kamen all die düsteren Erinnerungen von früher hoch, die ich verdrängt oder vergessen zu haben glaubte.
Ich dachte an Johannes. Ich dachte viel an Johannes. An seine Worte, die letzten, die ich gehört hatte von ihm: „Monster. Ich liebe dich, das weißt du doch. Du bist meine kleine Schwester, ich liebe dich.“
Die Liebe. Ich dachte darüber nach.
Liebte mich Johannes? Konnte er mich wirklich lieben, wenn er mir so wehtat? War das vielleicht seine Art zu lieben? Oder tat Liebe immer so weh? Waren all die Geschichten nur Lügen, musste Liebe nicht wehtun? Oder musste Liebe bloß mir wehtun?
Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu Susan. Ihre Art zu lieben war anders, und sie hatte bisher noch nicht wehgetan. Es war seltsam. Es war, als sei ich in einem völlig fremden Universum gelandet. Alles war anders um mich herum, selbst die Menschen schienen einer vollkommen anderen Spezies anzugehören. Manches konnte ich mir erklären, anderes war mir ein absolutes Rätsel. So musste sich ein kleines Kind fühlen, das mit den Geheimnissen der menschlichen Gesellschaft konfrontiert wird. Das Dumme war nur, dass ich mittlerweile zu alt war, mir alles zu erfragen wie ein kleines Kind. Ich blieb still und musste irgendwie selbst eine Lösung finden.
Wenn ich hätte weinen können, hätte ich geweint, denn an diesem Abend kam mal wieder das ganze Leid der Welt über mich. Ich fühlte mich so einsam. So einsam und traurig und verlassen und auf eine Art unwürdig, die es mir unmöglich machte, auch nur in Erwägung zu ziehen, irgendjemand auf dieser düsteren, ungerechten Welt könne mich wirklich mögen.
Ich zweifelte an allem und war eine Zeit lang sogar fest davon überzeugt, dass Susan sich nur notgedrungen mit mir beschäftigte und mich in Wirklichkeit nie hatte bei sich haben wollen. Es tat weh, zu zweifeln, aber es kam mir wesentlich realistischer vor als dieser merkwürdige Gefühlsstrudel, in dem ich gelebt hatte, seit ich nach Berlin gekommen war. Und die Realität war der einzige Halt, den ich hatte. Sie half mir, mich festzuhalten, irgendwo, irgendwie zu orientieren und den Überblick und die Kontrolle über mein völlig aus den Fugen geratenes Leben nicht völlig zu verlieren. Die Realität war alles, was mir blieb, nachdem ich meine Traumschlösser nach und nach eingerissen hatte. Sie waren nicht real, wie ich seit meiner Kindheit wusste, und ich hatte mir eigentlich schon vor langer Zeit verboten, zu träumen. Träume weckten bloß unerfüllbare Sehnsüchte.
An diesem Abend war mir vollkommen unklar, wie ich mich nur jemals dazu hatte entscheiden können, einfach mein Zuhause hinter mir zu lassen und abzuhauen. Weg zu gehen. Weit weg. Einfach irgendwohin, wo es besser war als zuhause; wo ich doch keine Ahnung hatte, was mich dort erwarten würde…
Einsam lag ich in der Dunkelheit, zu einer kleinen Kugel zusammen gerollt, die Hände ins Kissen gekrallt, dass die Knöchel weiß hervor traten. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, was mir fehlte. Eigentlich war mir noch nicht einmal klar, dass mir etwas fehlte; ich wusste nur, dass etwas in Gefahr war, etwas auf der Kippe stand, und dieses Gefühl gefiel mir ganz und gar nicht, da es automatisch Kontrollverlust bedeutete. Um die Kontrolle wieder zu erlangen, beschloss ich, mich von Jack fern zu halten und niemanden mehr an mich heran zu lassen. Ich nahm es mir fest vor.
Mit diesem beruhigenden Entschluss im Kopf schlief ich schließlich erschöpft ein.
Am nächsten Morgen wachte ich still auf und blieb auch still. Meinen Entschluss hatte ich keinesfalls vergessen und als Lars mich in der Küche begrüßte, senkte ich nur den Kopf und wandte mich ab. Da Lars noch nicht besonders wach war (immerhin war es spät gewesen am Abend), fiel ihm das nicht besonders auf und er schnappte sich bloß einen Apfel und verschwand nochmal in sein Bett.
Auf der Arbeit war ich ebenfalls still und abwesend. Einige Kollegen fragten, was los sei, aber ich antwortete entweder gar nicht oder mit „Nichts“, bis sie mich in Ruhe ließen.
Am Abend stand Jack vor der Tür und wollte mich abholen. Ich wollte nicht, dass er mich sah. Ich wollte ihn nicht treffen, ich wollte mein Herz nicht an ihn hängen. Also verdrückte ich mich feige durch den Hinterausgang und lief einen riesen Umweg zur WG zurück.
Susan war da, als ich ankam, und plapperte fünf Minuten lang fröhlich vor sich hin, bevor ihr einfiel, dass sie ja noch Zeitung austragen musste. Rasch verschwand sie aus der Wohnung und polterte die Treppe hinunter. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie schweigsam ich war.
Von den Jungs war, wie fast immer, keiner zu Hause. Niki hatte seine Schuhe wie so oft kreuz und quer im Flur verteilt, also begann ich, ein wenig aufzuräumen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Erschrocken hielt ich inne.
Es gab kein Fenster, durch das ich hätte sehen können, wer da unten stand (immerhin war die Wohnung im dritten Stock!), und über eine Gegensprechanlage verfügte das alte Haus auch nicht. Dennoch war ich mir fast sicher, wer dort unten stand und eingelassen werden wollte.
Ich wollte ihn nicht sehen, um keinen Preis, ich hatte viel zu große Angst vor den Folgen. Aber es konnte natürlich auch sein, dass er es gar nicht war. Was, wenn einer der Jungs seinen Schlüssel vergessen hatte? Und ich war da, stand hier oben rum und öffnete nicht.
Es klingelte ein zweites Mal.
Hin- und hergerissen stand ich im Flur, einen Schuh von Niki in der Hand, genau auf halbem Weg zwischen Küche und Wohnungstür. Sollte ich öffnen… sollte ich nicht…?
Schließlich wurde mir klar, dass ich es schlichtweg nicht übers Herz brachte, die Tür nicht zu öffnen, bloß weil die Möglichkeit bestand, dass eine bestimmte Person unten stand, der ich gerade nicht begegnen wollte.
Also drückte ich kurz entschlossen auf den Knopf, der das Schloss löste, und öffnete die Wohnungstür.
Ich hörte, wie unten die Haustür aufgedrückt wurde und Schritte durchs Treppenhaus auf mich zukamen, sachte, bedächtige Schritte.
Ich kannte diese Schritte. Schon jetzt glaubte ich, sie überall wieder erkennen zu können.
Das war Jack.
Nein. Hilflos lehnte ich meinen Kopf an den Türrahmen und schloss die Augen.
Was sollte ich jetzt nur tun?
Keiner der anderen war zuhause, weshalb ich mich nicht einfach hinter ihnen verstecken konnte. Ich hatte die Tür bereits geöffnet, folglich konnte ich nicht einfach so tun, als sei ich nicht da.
Ich musste ihm also begegnen. Ich musste mit ihm sprechen.
Was sollte ich ihm nur sagen?
Um Himmels Willen, was sollte ich bloß SAGEN????
Mir fiel nichts ein, bis ich die Schritte stocken hörte. Jack stand jetzt direkt vor mir, ich wusste es, aber ich rührte mich nicht.
Was sollte ich bloß sagen?
Ich hörte seinen Atem, kaum beschleunigt von seinem Aufstieg im Treppenhaus, und ich wusste, dass er mich ansah und auf eine Erklärung wartete.
Jack war viel zu klug, nicht zu begreifen, dass etwas nicht stimmte. Er wusste bloß nicht, was.
Nach einer kleinen Ewigkeit löste ich mich schließlich vom Türrahmen und sah ihn an. Seine Augen waren dunkler als gewöhnlich, nicht so dunkel wie ganz am Anfang, aber es war doch nicht seine Alltagsfarbe. Er ahnte, dass das, was ich ihm zu sagen hatte, nichts Gutes war; und das wurde mir in diesem Moment auch klar.
Es war nichts Gutes.
Denn ich musste Jack sagen, dass ich ihn nicht mehr sehen konnte.
Nein, falsch. Ich musste ihm sagen, dass ich ihn nicht mehr sehen wollte.
Was er wohl davon halten würde?
Sicher wäre er heimlich erleichtert. Vielleicht würde er so tun, als sei er enttäuscht, aber innerlich wäre er bestimmt erleichtert, sich nicht mehr mit jemandem wie mir abgeben zu müssen.
Denn was hatte er schon von mir?
Jack hatte bestimmt viele andere Freunde, die viel besser zu ihm passten. Freunde, mit denen er sich lieber beschäftigte. Solche, mit denen der Umgang leichter war. Solche, die keine so verkorkste Vergangenheit; kein so verkorkstes Leben hatten wie ich!
Also verschloss ich meine Gesichtszüge sorgsam hinter einer Maske der Gleichgültigkeit, sah ihn fest an und verkündete: „Ich will dich nicht mehr sehen, Jack.“
Eine Weile stand er nur still da und ich konnte den faszinierenden Farbwechsel in seinen Augen verfolgen, während er seine Emotionen in den Griff zu bekommen versuchte. Ich versank völlig in diesem Schauspiel und hatte schon fast vergessen, was ich ihm gesagt hatte, als sich sein Blick klärte und er wissen wollte: „Warum?“
Äh…
Gewaltsam riss ich mich von seinem Anblick los, um wieder klar denken zu können.
„Weil es besser so ist“, erklärte ich dann.
Unverwandt sah er mich an. „Warum?“
Tja, weil… weil…
Warum nochmal?
Ich hatte keine Ahnung. All die Argumente, die ich mir zurecht gelegt hatte, die mir eben noch so klar vor Augen gestanden hatten, waren in seiner Gegenwart schlichtweg verblasst. Mit größter Mühe konnte ich mir in Erinnerung rufen, dass ich nicht wollte, dass er mir näher kam… aber…
Langsam trat Jack einen Schritt näher, nur einen kleinen Schritt.
Wie erstarrt stand ich da und starrte ihn an. Ich konnte nichts mehr denken, jeder Gedanke war wie fortgewischt aus meinem Kopf. Ich glaube, in diesem Moment hätte ich mich sogar schwerlich dran erinnern können, wer ich war, geschweige denn daran, was ich wollte.
Oder besser, was ich gewollt hatte, bevor Jack mich auf diese Weise angesehen hatte, seine dunklen Augen viel zu nah bei mir. Mein Gehirn war ausgeschaltet, es zählte nur noch, was mein Körper wollte. Und der wollte Nähe. Jacks Nähe. Und zwar jetzt. Sofort.
Gerade war mein linker Fuß im Begriff, einen Schritt auf ihn zu zu machen, da fragte Jack: „Hab ich irgendwas falsch gemacht?“
Schlagartig erinnerte ich mich wieder. Ich erinnerte mich wieder, was ich gewollt und bezweckt hatte, warum ich hier stand und was als nächstes geschehen sollte… geschehen musste.
Hastig trat ich einen Schritt zurück. Ich schüttelte den Kopf, kniff aber die Lippen zusammen und schaute zu Boden. Nervös räusperte ich mich, bevor ich ihn bat: „Geh, Jack. Bitte geh. Und komm nicht wieder.“
Dann schloss ich die Tür hinter mir, so hastig, dass ich nur noch gerade so meinen eigenen Fuß aus dem Weg ziehen konnte, und lehnte mich dagegen.
Ich fühlte mich so erschöpft wie schon lange nicht mehr, während ich da stand und auf die Stille vor der Tür lauschte.
Es dauerte lange, bis Jack ging. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe, einen nach dem anderen, sorgsam und behutsam wie immer. Aber er ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Ich spürte meinen heftigen Atem, meine enge Kehle, und stierte hilflos ins Halbdunkel des Flurs. Es war ein schreckliches Gefühl, das Jack hinterließ, und ich kam nicht dagegen an.
Es tat weh. Es tat alles so sehr weh.
Schließlich, nach einer weiteren kleinen Ewigkeit, löste ich mich von der Tür und ging mit schleppenden Schritten zum Schuhregal, weil mir aufgefallen war, dass ich Nikis Schuh noch immer in der Hand hielt. Sorgfältig sortierte ich ihn ein.
Dann saugte ich die Wohnung, putzte das Bad, weil mir nichts besseres einfiel, um mich abzulenken von meinem eigenen Schmerz, diesem Kummer, den ich mir diesmal selbst zugefügt hatte. Es tat so weh, und ich hatte kein Ventil dafür, ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte.
Dass Jack mir so fehlen würde, war nicht beabsichtigt gewesen. Diese Art von Schmerz war nicht beabsichtigt gewesen. Nichts davon.
Ich fluchte. Ich wünschte mir, ihn niemals kennen gelernt zu haben. Dann wäre alles so viel einfacher… aber…
Ich konnte mir schon längst kein Leben mehr ohne ihn vorstellen.
Wie wäre mein Leben in Berlin ohne Jack verlaufen? Weiterhin so düster, so trost- und farblos wie bisher?
So vieles wäre gar nicht geschehen. Selbst mit Susan wäre ich nicht so befreundet, wie ich es jetzt war; und ja, ich war mit ihr befreundet. Das, was uns beide verband, war Freundschaft, nach wie vor, auch wenn ich mir nun viel unsicherer war. Ich war mir kaum etwas sicher in diesen Zeiten. Außer der einen Tatsache, dass ich leben wollte.
Ja, ich wollte leben. Ich wollte mein eigenes Leben leben, meins, das nur mir gehörte, unbeeinflusst von außen.
Also war meine Entscheidung bezüglich Jack richtig gewesen.
Sie musste richtig gewesen sein.
Als die anderen am Abend nach und nach wieder eintrudelten, hatte ich den Tisch gedeckt und Essen gemacht, und alles schien perfekt. Wir aßen gemeinsam, und die anderen redeten viel, waren alle relativ gut gelaunt, bis auf Niki, der irgendwie einen schlechten Tag hatte heute und ein wenig mürrisch wirkte. Um mich herum war das Leben, und keiner merkte, dass ich still blieb.
Tief in mir drin war ich immer noch allein, allein und einsam, dafür hatte ich selbst gesorgt.
Dort schwebte ich, eingerollt zu einer kleinen Kugel, inmitten einer melancholisch blauen Welt.
In meiner Einsamkeit.
Meiner vertrauten, schützenden, verlässlichen Einsamkeit.
Meine blaue Einsamkeit.






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