Théâtre Ombre de Lutèce - Teil 10

Autor: Ananas
veröffentlicht am: 04.11.2011


Ich schlafe die Nacht nicht durch. Irgendwann liege ich auf den harten Dielen anstatt an die Wand zu lehnen, mein Rücken schmerzt fürchterlich und das Korsett, wenn auch nur schwach geschnürt, macht sie Sache nicht angenehmer. Doch ich fühle mich paradoxerweise in dieser fremden, dunklen Wohnung so sicher wie seit Tagen nicht mehr in meinem eigenen Zimmer und schlafe trotz aller Unbequemlichkeiten wieder ein.
Es dämmert gerade, als ich mich das Geräusch der sich öffnenden Tür weckt. Es ist Arla, die wiederkommt. Ich höre, wie sie sich auf einen Stuhl setzt und ihre Schuhe achtlos zur Seite wirft.
Ich drehe mich unter den Decken, bis ich sie sehen kann und beschließe mich aufzusetzen. Arla hat gerade eine Flasche Whiskey in der Hand und nimmt einen kräftigen Schluck, was mich noch mehr erschreckt, als die Zigarette vorhin. Als sie mich sieht, bietet sie auch mir die Flasche an.
„Nein, danke,“ sage ich schnell.
„Dann nicht,“ meint sie und nimmt noch einen Schluck, ehe sie die Flasche wegstellt „Wieso setzt du dich auf? Du kannst noch schlafen.“
„Ich... Mein Rücken schmerzt,“ antworte ich.
Arla lacht leise. „Sei froh, dass du dich nicht dran gewöhnen musst.“
Ich runzle die Stirn und frage mich, ob sie damit auf meine deutlich besseren Lebensverhältnisse anspielt oder ob sie damit sagen will, dass ich sicherlich nicht noch einmal bei ihr unterkommen werde.
„Hör zu. Ich werde mich heute, das heißt gleich, darum kümmern, Fox - Connor - zu erreichen. Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, wo er wohnt, aber ich weiß, in welchem Café er gerne frühstückt. Er wird vermutlich noch vor der Arbeit mit dir sprechen wollen, du wirst also nur eine Stunde oder so hier warten müssen.“
Nachdenklich nicke ich und frage mich, was dann wohl geschehen wird und was Connor nun eigentlich von mir will. Es entsteht ein unangenehmes Schweigen, während ich überlege.
„Ich werde ihm das mit dem Überfall erzählen, aber die Details überlasse ich dir. Fox wird dir vielleicht zu helfen wissen, aber er wird verlangen, dass du die Karten offenlegst,“ meint Arla nach einer Weile.
„Die Karten offen legen?“
Arla nickt ernst. „Ja. Du weißt mehr, als du bislang verraten hast. Ich weiß das, und vor allem weiß Fox das. Ich will nicht sagen, du tätest unbedingt gut daran, ihm alles zu sagen, aber du weißt ja – eine Hand wäscht die andere,“ sagt sie und ich meine sie im Halbdunkeln zwinkern zu sehen. Dann steht sie auf und zieht den Vorhang ein Stück weit zur Seite, um zu sehen, wie hell es ist. „Die Sonne geht gleich auf. Ich muss bald los.“
Langsam beginnt sie ihre Schuhe anzuziehen. Eigentlich muss sie unglaublich müde sein und doch zieht sie meinetwegen noch mal los.
Bevor sie geht, verschwindet sie noch einmal für eine Weile in dem anderen Zimmer. Ich höre gedämpfte Stimmen und ein leises Lachen, ehe Arla aus dem Zimmer wieder hervorkommt und die Tür so leise wie möglich hinter sich schließt.
„Gracie wird bald aufstehen. Ich will nicht, dass du sie unnötig aufhältst, schlaf besser weiter oder so,“ meint sie in ihrem breiten East End-Akzent, während sie zur Wohnungstür geht. „Bis nachher.“

Damit ist sie verschwunden und ich bin wieder allein. Ich stelle fest, dass es in den letzten Tagen schwieriger geworden ist, allein zu sein und bin froh, als ich eine Weile später Geräusche aus Gracies Zimmer höre. Bald darauf öffnet sich die Tür und ich sehe das Mädchen daraus hervorlugen.
„Morgen,“ flüstert sie vorsichtig und mustert mich mit großen Augen.
„Guten Morgen,“ erwidere ich. Dann fällt mir das Spiel von letzte Nacht ein und ich füge hinzu: „Mylady.“
Das zaubert Gracie ein schüchternes Lächeln auf's runde Gesicht, das Arlas ein bisschen ähnlich sieht. Sie kommt hinter der Tür hervor, vorsichtig, fast schleichend. Sie hat dunkles Haar und Augen, die an Kirschen erinnern. In ihrem Mund fehlen einige Zähne, sodass ihr Lächeln löchrig ist.
„Der Herzog von Kent lässt grüßen,“ fahre ich in gespielt förmlichen Ton fort und lächle herzlich.
Gracie kichert. „Oh, wirklich?“ fragt sie in gespieltem Erstaunen.
„Selbstverständlich. Und er kann es kaum erwarten Euch auf seine Sommerresidenz einzuladen,“ improvisiere ich weiter und nicke dabei eifrig.
Das Mädchen stockt kurz. „R... R-resisenz?“ fragt sie verwirrt.
„Ein Schloss,“ beeile ich mich zu erklären und Gracies Augen leuchten auf.
„Wie im Märchen?“
„Natürlich.“
Gracie kichert, während sie die nächste brisante Frage stellt. „Gibt es dort dann auch einen Prinzen, der mit mir tanzt?“
Ich nicke und das Mädchen lächelt kurz verträumt, sieht dann aber auf einmal zu Boden. „Arla würde nie erlauben, das ich dort hinfahre,“ sagt sie ohne aufzusehen.
„Warum nicht?“
„Sie sagt, ich soll mich von Männern fernhalten und am besten gar nicht mit ihnen reden,“ erklärt Gracie und sieht nachdenklich zum Fenster.
„Oh,“ mache ich und wir verfallen kurz in Schweigen. Nach zwei Minuten lebt Gracie wieder auf und beginnt schnell im Zimmer herumzulaufen und sich Brot und Wurst zu suchen. „Weil sie Schweine sind,“ erklärt Gracie, Arlas raue Stimme imitierend und kichert dabei, einmal absichtlich grunzend, sodass ich unwillkürlich auch lachen muss.
„Arla sagt, ich soll mit dir auch nicht reden,“ meint sie danach beiläufig. „Aber du bist nett.“ Gracie sieht mich eine ganze Weile an, forschend, glaube ich.
„Du bist eine richtige Lady stimmt's?“ fragt sie plötzlich und kommt einen Schritt auf mich zu. Ich nicke zaghaft. „Du bist schön,“ sagt sie offen. Die Worte kommen unerwartet und ich sehe dem Mädchen in die Augen. „Nicht so wie die ganzen Frauen in der Fabrik. Sie tragen keine so hübschen Nadeln im Haar und ihre Hände sehen auch viel viel gröber aus.“
Überrascht sehe ich auf meine Hände hinab. Viel zu fein und zart, um mit denen einer Arbeiterin verwechselt werden zu können. Gracies Beobachtungsgabe ist bemerkenswert.
„Dein Kleid...“ murmelt sie ehrfürchtig, während ich noch meine Hände anschaue, und sieht mit großen Kirsch-Augen auf den hellblauen Stoff hinab, der mit einem filigranen Blumenmuster überzogen ist. „Darf ich es mal anfassen?“ fragt sie, völlig gebannt.
Ich nicke und schaue zu, wie sie sich hin hockt und ihre Fingerspitzen sacht über meinen Rock gleiten lässt. „Ich möchte einer Tages auch mal so ein Kleid haben,“ flüstert sie langsam.
Erneut weiß ich nicht, was ich antworten soll. Ich denke an Arlas löchrige Wollstrümpfe und die stumpfen Farben ihrer Kleidung und dann denke ich daran, dass das Kind einer ganz anderen gesellschaftlichen Klasse angehört als ich. Die ganz offensichtliche Wahrheit, die sogar ich sehen kann, ist, dass Gracie niemals so ein Kleid besitzen wird. Ich habe einen Kloß im Hals, denn da ist trotz allem Hoffnung in den Augen des Kindes. Für einen Moment ist es so, als wäre ich dieser hilflos ausgeliefert. Sogar ich kann sehen, wie mächtig selbst dieses Fünkchen ist, deshalb wage ich es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Ich traue mich nicht, mich dieser Hoffnung anzunähern - ich könnte sie versehentlich zerstören oder bestärken oder gar davon mitgerissen werden und ich weiß nicht einmal, was davon mir am meisten Furcht einjagt.
Schließlich lässt Gracie von meinem Kleid ab, erhebt sich, schnürt ihre Stiefel und wickelt sich einen Schal um den Hals. „Ich werde dann gehen,“ murmelt sie, eine Hand an der Türklinke.
„Wohin?“ frage ich unbedacht.
Sie sieht kurz zu mir hoch. „Zur Fabrik,“ lautet ihre Antwort.
Ich sehe die schrecklichen Gebilde mit den rauchenden Schloten vor mir, in denen tausende Kinder wie Gracie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang schuften, vor mir. Gibt es einen Ort, der weiter von den Märchenschlössern, von denen sie träumt, entfernt ist?




So, das war der zehnte Teil mit etwas mehr von Arla und Gracie. Und hui, schon fast 30 Seiten geschafft ;)
Vielen Dank für eure lieben Kommentare, schön das es euch gefällt :) (Und wer mir diesmal schreibt, was schlecht ist und was ich besser machen soll, kriegt einen Keks von mir xD)





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