Théâtre Ombre de Lutèce - Teil 2

Autor: Ananas
veröffentlicht am: 08.08.2011


Schockiert starre ich auf den verschlossenen Vorhang und kann nicht glauben, was dort gerade geschehen ist. Stummes Entsetzen herrscht im Saal, dann bricht das Chaos los. Schreie, aufspringende Menschen und aufgeregtes Gerede. Sprachlos drehe ich den Kopf zu Christel, die ihrerseits nach Williams Blick sucht. Als sie sich treffen, scheint es, als stelle Christel ihm eine stumme Frage. William nickt. Dann dreht sich Christel wieder nach mir um.
„Beth, steh auf und nimm deine Sachen,“ sagt sie kalt.
Verwirrt sehe ich sie an, außer Stande nachzudenken. Ein Mensch wurde gerade vor meinen Augen erschossen. Und der Mörder ist noch hier! O Gott!
„Christel... der Schuss... gütiger Gott... sie... “ beginne ich zu stammeln, ehe mir Christel mit einem Zischen das Wort abschneidet.
Ihre Hand greift eisern nach meiner. Als ich zu ihr aufsehe, steht sie schon und zieht mich auf die Beine. Sie trägt wieder ihre Maske und nimmt keine Rücksicht mehr auf mich, sondern zieht mich einfach hinter sich her, durch den kleinen Vorhang in den Gang. Jedoch nehmen wir nicht den gleichen Weg, auf dem wir hergekommen sind, in der Eile komme ich aber nicht dazu, nach dem Grund zu fragen.
Wir biegen ein paar Mal ab, bis wir eine Wendeltreppe erreichen. Als ich mich umsehe, bemerke ich, dass wir hinter der Bühne sind. Während meine Begleiter weiter die Treppe hinunter eilen, bleibe ich auf den Stufen stehen und starre auf die kleine Gruppe, die sich um eine liegende Gestalt versammelt hat. Wie von allein setzten sich mein Füße von der Treppe auf den Parkettboden des Bühnenraums. Bevor ich begreife, was ich tue, trete ich näher. Um Emma herum stehen drei Personen, jemand kniet neben ihr, Gesprächsfetzen sind zu hören. Etwas von einer Rachel und „wegschaffen“. Ich will gar nicht wissen, was das bedeuten soll. Selbst im schwachen Licht in diesem Teil des Theaters wirkt Emmas Blut erschreckend rot, viel röter noch als ihre grell geschminkten Lippen.
„Beth, was machst du da?! Komm schnell, du musst sofort da weg!“ höre ich Christel rufen, die auf der Treppe steht.
Einen Moment noch bleibe ich stehen. Dann entdeckt mich einer der Männer. Er deutet auf mich, löst sich von der Gruppe und kommt auf mich zu. Meine Augen weiten sich vor Schreck.
„Beth!“ brüllt Christel.
Diesmal höre ich auf sie, renne zur Treppe und stolpere meiner Freundin hinterher in den Keller. „Christel, wo laufen wir?“ frage ich hektisch, als sie voran durch einen Gang stürmt, der wie der Teil einer Katakombe wirkt. Modrig, steinig, feucht und uralt. Christel dreht sich nicht mal um. Die schweren Schritte hinter uns kommen näher. „Lauf schneller!“ höre ich sie schreien. Ich sehe, wie Christel ihre hohen Schuhe zur Seite wirft und barfuß weiterläuft. Bald kann ich nicht mehr mithalten.
„Christel, warte auf mich!“ rufe ich, mein Puls rast, doch ich spüre bereits den Atem meines Verfolgers im Nacken.
Hände greifen nach mir, ich stolpere, falle der Länge nach hin und der Verfolger schnappt nach meinen Handgelenken. Ich schlage nach ihm, aber es nützt nichts. Plötzlich ertönt ein gellender Schmerzensschrei und er lässt mich los. Neben mir steht Christel. Ihre Nasenflügel sind aufgebläht, der Ausdruck in den Augen wild. Blutspritzer sind auf Christels Gesicht, Händen und Kleid. Sie hält etwas in der Hand, eine lange Haarnadel. Aus irgendeinem Grund tropft davon Blut. Fassungslos starre ich sie an. Ihr Atem geht schwer und sie wirkt wie im Blutrausch.
„Beeil dich,“ sagt sie und zerrt mich hoch.
Über die Schulter sehe ich zu dem Mann, er wirbelt umher, stolpert und schlägt um sich wie ein Wahnsinniger und brüllt und jault vor Schmerz, hält sich die blutüberströmten Hände ans Gesicht. Entsetzt starre ich Christel an. Sie hat ihm die Nadel ins Auge gestochen. Ohne zu zögern. Plötzlich sehe ich sie in einem anderen Licht und das neue Bild von ihr macht mir Angst. Wäre sie nicht meine Freundin, würde ich verängstigt vor ihr davon laufen.
Bevor ich etwas sagen kann, zieht mich ihre Hand immer weiter in die Finsternis der Gänge. Es ist ein schwarzes Labyrinth aus Nässe und Stein. Christels Hand, die mir ständig zu entgleiten droht, ist das Einzige, was mich durch die Dunkelheit führt. Meine Strümpfe sind nass von den Pfützen und meine Ausdauer am Ende, als Christel plötzlich stehen bleibt.
„Deine Naivität hätte uns beiden fast den Kopf gekostet!“ wirft sie mir schwer atmend vor.
„Aber du hast ihn aufgehalten,“ erwidere ich kleinlaut. Ich bin mir meiner Schuld wohl bewusst. Ohne Christel...
„Es ist noch nicht vorbei. Halt dir die Nase zu,“ sagte sie bestimmt.
„Was?“ frage ich verwirrt.
Anstatt einer Antwort spüre ich Christels Hände in meinem Rücken, die mir einen kräftigen Stoß verpassen. „Christel, was soll...?!“ brülle ich während ich stürze.
Doch anstatt auf dem Steinboden aufzuprallen, falle ich einfach immer weiter. Ich will schreien, doch nur Luft dringt aus meiner Kehle. Todesangst überkommt mich, unter mir höre ich Rauschen. Wasser. Noch während ich das denke, stürze ich in die Fluten. Das eiskalte Wasser durchtränkt meine Kleider, zieht mich runter. Wie besessen strample ich mit Beinen und Armen, versuche mich irgendwie oben zu halten, drohe aber immer wieder unterzugehen. Die Strömung ergreift mich und treibt mich fort. Hinter mit höre ich heftiges Platschen und einen Schrei.
„Christel!“ rufe ich über den Lärm des Wassers hinweg.
Irgendwie gerät dabei Wasser in meinen Mund und fließt mir in die Lungen. Verzweifelt versuche ich es raus zu husten und mich oben zu halten. Das Korsett behindert mich. Ich kämpfe um mein Leben, strample zur Seite, versuche an einer Wand Halt zu finden, aber schaffe es nicht. Stattdessen werde ich von irgendwas herumgewirbelt, sodass ich unter Wasser gerate und mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert werde. Die Welt entgleitet mir.

Ich erwache von einem heftigen Druck auf meiner Brust und huste heftig. Wasser sprudelt aus meinem Mund. Der Druck lässt nach und kommt dann mit voller Stärke wieder. Ein schrecklicher Hustenanfall schüttelt mich, ich drehe mich auf die Seite und Spucke Wasser aus meinen Lungen. Ich pralle mit den Gliedmaßen gegen etwas und merke es kaum. Der Husten schüttelt mich, erneut werfe ich mich herum, dann wieder der Druck auf meiner Brust. Mein Körper krümmt sich zusammen und eine neue Wasserfontäne schießt mir aus den Lungen in den Mund und dann hinaus.
Langsam wird der Husten schwächer und ich beginne meine Umgebung wahrzunehmen. Ich bin nass bis auf die Knochen, schwere Kleider hängen an mir, Kälte schüttelt mich. Jemand beugt sich über mich.
„Miss? Miss!“
Ich versuche, auf die Person zu fokussieren. Es scheint ein Mann zu sein, ich glaube eine Uniform zu erkennen, dann schüttelt mich ein neuer Hustenanfall und wieder spüre ich den Druck auf der Brust. Jetzt erst verstehe ich: Man presst mir das Wasser aus den Lungen. Es tut entsetzlich weh, aber ich lasse es geschehen. Das eiskalte Wasser in meinem Körper ist noch schlimmer.
Eine Hand hilft mir, mich aufzusetzen. „Miss! Kommen sie zu sich!“
Ich versuche mich zu konzentrieren und sehe dem Mann ins Gesicht. „Wo bin ich?“ frage ich. Meine Stimme ist selbst für mich kaum zu hören.
„Auf einem Boot, Miss. Wir haben Sie aus dem Fluss geholt. Wir sind von Scotland Yard. Wir bringen Sie ans Ufer,“ erklärt er mir.
Ich nicke langsam, meine Augen schließen sich. Ich bin so erschöpft, wie man es nur sein kann. Seine Worte ergeben erst nach und nach Sinn für mich. Ich höre weitere Stimmen und Wellen und Paddel. Nach wenigen Minuten stößt das Boot an etwas, vermutlich eine Anlegestelle.
„Madam?“ spricht mich erneut der Mann von gerade eben an.
Diesmal öffne ich die Augen richtig und bemerke sein flammend rotes Haar. Es sieht seltsam aus im Mondlicht, wo alles andere nur schwarz und silberfarben leuchtet. Er nimmt meinen Arm und hilft mir auf die Füße. Unsicher setzte ich sie immer weiter vor, während er mich weiter festhalten muss, ich bin völlig am Ende.
Mein Blick irrt im Mondlicht umher, fällt auf eine kleine Gruppe, die sich etwas dunkles versammelt hat. Etwas fällt mir dazu ein, ein ganz ähnliches Bild. Ich muss mich sehr anstrengen, damit es mir wieder einfällt. Es sieht aus wie im Theater, wie die Gruppe, die um Emma stand.
„Was ist da los?“ frage ich mit schwächelnder Stimme.
Der Mann zögert, ehe er antwortet. „Nichts, worum Sie sich sorgen müssten, Ma\'am.“
Ich schüttele widerspenstig den Kopf. Wir gehen in ein paar Metern Entfernung an der Gruppe vorbei. Ich sehe in ihre Richtung, ich muss einfach hinsehen. Trotz meiner schwachen Glieder löse ich mich von dem Polizisten und irre mit meinen zitternden Beinen zu der Gruppe.
Das dunkle Etwas am Boden ist ein Mensch, ein Mann, wie ich unter dem Licht der Laterne, die jemand über ihn hält, erkennen kann. Mit blondem Haar und etwas Ungreifbarem in seinem toten Gesicht, dass ich überall auf der Welt erkennen würde.
Ich erstarre, alles in meinem Inneren sträubt sich gegen diesen Anblick. Fassungslosigkeit steht mir ins Gesicht geschrieben. Ich sinke auf den Boden und obwohl meine Kehle sich wie zugeschnürt anfühlt, stoße ich, ohne es zu merken, einen langen Klagelaut aus.
„Miss!“ ruft jemand nach mir. „Miss, was ist mit ihnen? Kannten sie das Opfer etwa?“
Die Frage kommt von irgendwoher. Ich blicke zum Mond. Es ist, als würde Gott persönlich sie mir stellen. Ich nicke.





Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz