Wir lieben die Sterne zu sehr, um uns vor der Nacht zu fürchten - Teil 6

Autor: MusicJunkie91
veröffentlicht am: 03.09.2011


Ich lasse mich neben sie sinken und schaue sie erwartungsvoll an. Sie zögert erneut, doch beginnt dann zu sprechen. „Dein Vater und ich verheimlichen dir was. Aber erst will ich mich dafür entschuldigen, dass wir so wenig Zeit für dich haben .. es passiert einfach so viel in letzter Zeit! Dein Vater wurde befördert und ich auch .. du musst verstehen, dass es nicht immer leicht ist, alles unter einen Hut zu bringen.“ Sie schaut mich einen kurzen Moment nachdenklich an und räuspert sich dann. „Dieser Ted, in welcher Beziehung steht ihr zueinander?“ „Er nervt mich.“ „Womit?“ „Na ja, er ist halt ständig um mich rum .. aber was hat das mit unserer Unterhaltung zu tun?“ „Ich wollte .. nur wissen, ob er dein Freund ist oder .. wir haben uns schon so lange nicht mehr unterhalten ..“ Sie seufzt und knete ihre Hände nervös in ihrem Schoß. Und dann rückt sie endlich mit dem heraus, was sie beschäftigt. „Wir wissen von deinen Visionen.“ Ich reiße den Kopf hoch, die Augen auf und starre sie lange an, bevor ich ein heiseres „Wie bitte?!“ über die Lippen kriege. Sie nickt leicht und gibt mir Zeit, mich zu beruhigen.
Sie wissen es. Ted hat Recht. Ted hat verdammt noch mal Recht! Sie wissen es und haben es mir nie gesagt! Wieso? Und was kommt als nächstes? Sind sie vielleicht wirklich nicht meine leiblichen Eltern? Wenn sie mir das jetzt sagt, dann glaube ich Ted jedes Wort, jedes!
„Okay, ihr wisst es. Und weiter?“ Und dann beginnt sie mir was vollkommen anderes, als das, was ich bisher gehört habe, zu erzählen.
„Du hast dein Talent von deinem Vater geerbt. Er kann auch in die Zukunft sehen .. nicht den Tod, so wie du, aber ..“ „Woher ..“ „Du hast .. früher immer schon diese Anfälle gehabt, als du noch klein warst. Und wenn wir dich gefragt haben, hast du es uns erzählt .. du hast es gewusst, wie meine Mutter stirbt. Dass sie mit dem Flugzeug abstürzen wird .. wir haben sie versucht davon abzuhalten, wegzufliegen, aber sie hat nicht auf uns gehört. Wir wussten auch nicht, ob es ausgerechnet bei diesem Flug passiert oder bei einem späteren. Du wusstest nicht wann.“ Ich schaue sie an, lege meinen Kopf schief. „Ihr wusstet es die ganze Zeit?“ „Ja.“ Sie seufzt und nimmt meine Hände. „Dein Vater sieht die glücklichen Sachen in den Leben der Menschen um ihn herum. Du siehst die grauenhaften Dinge, die auf der ganzen Welt geschehen.“ „Warum ist das so?“ „Ich kann es dir nicht sagen, Süße. Das fragen wir uns auch seit geraumer Zeit. Dein Vater versucht auch schon lange irgendwas zu finden, dass dein Leben angenehmer machen könnte und seines auch.“ Sie schweigt einen Moment, schaut nachdenklich auf den Boden.
Ich warte einen Moment, hebe dann wieder an, will eine erneute Frage stellen, aber sie hebt die Hand und schüttelt den Kopf. „Lass mich weitererzählen .. sonst schaffe ich es nicht, alles zu sagen, was ich will.“ Sie sieht mich einen Moment an und ich nicke schnell. „Okay. Also, wir kannten dein Talent schon früh. Plötzlich hat es an der Tür geklingelt und ein paar Männer kamen .. sie wollten, dass wir dich ihnen verkaufen.“ Ich sehe ihr in die Augen und erkenne, dass sie die Wahrheit sagt. Sie wusste es also die ganze Zeit. Meine Gefühle schlagen Wellen, auf und ab, ab und auf. Ich bekomme es fast nicht mit, als sie weiter spricht. „Wir haben natürlich nein gesagt. Du warst, und bist es auch immer noch, unser Ein und Alles. Wir lieben dich so sehr, auch wenn wir es dir selten zeigen. Wahrscheinlich, weil wir ein wenig Angst davor haben, was du uns sagen könntest. Dass du uns erzählst, wie wir sterben.“ Sie legt ihre Arme um mich und zieht mich an ihre Brust. Das hat sie schon lange nicht mehr getan und ich fühle mich furchtbar wohl dabei. Hey, sie ist immerhin meine Mutter! Und seine Mutter liebt man. Immer. Egal, was passiert. Ich bin ja selbst schuld, dass unser Verhältnis so schlecht ist. Seit ich mich erinnern kann, gehe ich ihnen aus dem Weg. Denn ich habe selbst Angst davor zu sehen, wie meine Eltern diese Welt für immer verlassen.
Ich schaue sie an und sehe wie ihre Augen sich langsam mit Wasser füllen. Sie hat schöne Augen. Sie sind dunkelgrün, sie sehen aus wie ein Waldsee, in dem man nicht schwimmen gehen möchte, weil er voller Algen und ähnlichem ist, aber der wunderschön an einer Lichtung liegt. Mein Vater hingegen hat blaue Augen, ein wenig heller als meine, ein ziemlich durchscheinendes Blau. Beide gehen langsam in die Vierziger, daher bilden sich Falten auf den braungebrannten Gesichtern, die sie von ihren vielen Reisen haben. Früher haben sie mich mitgenommen, aber irgendwann habe ich ihnen gesagt, dass ich es nicht mehr will. Von da an habe ich eine Nanny gehabt, zumindest solange, bis ich alt genug war um ein paar Wochen allein Zuhause zu bleiben. Sie waren auf der ganzen Welt gewesen, ich hatte bisher nur europäische Länder und den Großteil der USA gesehen.
Meine Mama räuspert sich. „Dieser Junge, Ted, der in den letzten Tagen so oft hier ist .. beantwortest du mir meine Frage von vorhin jetzt?“ „Ted“, antworte ich nachdenklich und runzle die Stirn. „Er hat mir erzählt, dass ich eine Außerirdische bin.“ Schnell rattere ich die Geschichte mit den Sternenmädchen herunter. Sie schaut mich ernst an. „Dann halte dich von ihm fern. Er scheint etwas über dich zu wissen.“ Ich nicke, denn ich bin mir ganz sicher. Ted ist einer von ihnen. Einer von denen, die mich für ihre Zwecke benutzen wollen.

Ich gehe wirklich nicht in die Schule. Ich lege mich wieder in mein Bett und schaue meine Sterne an. Wir haben noch ein wenig geredet, meine Mum und ich, und eines hat sie mir klar gemacht. Ich kann jetzt nicht einfach zu Ted sagen, dass ich ihn niemals wiedersehen will. Na ja, meiner Meinung nach könnte ich das schon, aber meine Mum meint halt, dass dann die Gefahr besteht, dass dieser seltsame Verein einfach kommt und mich mitnimmt. Das will ich nicht, das will sie nicht, das will mein Dad nicht, niemand will das. Darum habe ich Ted durch die Gegensprechanlage mitgeteilt, dass ich leider krank bin und nicht in die Schule kommen kann, was ihn anscheinend nicht sonderlich überrascht hat. Klar, mir ging es gestern ja schließlich auch ziemlich schlecht.
Na gut, jetzt liege ich also hier. Ich weiß nicht, was ich machen kann, Zuhause sein ist langweilig. Im Fernsehen läuft nichts vernünftiges, nochmal geschlafen habe ich bereits – ohne Zwischenfall. Keine Vision an diesem Morgen. Ich habe bereits Mittag gegessen, aber es ist erst halb zwölf. Es dauert noch ungefähr drei Stunden, bis Viola aus der Schule kommt. Mit ihr muss ich unbedingt sprechen.
Ich stehe auf, gehe zu meinem Bücherregal, lese die verschiedenen Titel und ziehe schließlich eines meiner Lieblingsbücher raus. Drei Wünsche hast du frei von Jackson Pearce. Es geht in diesem Buch um ein Mädchen und um einen Dschinn, der bei ihr auftaucht und ihr, wie der Titel schon sagt, drei Wünsche erfüllt. Manchmal denke ich, dass das schon eine gute Sache wäre. Einfach so drei Wünsche erfüllt zu kriegen, wer will das nicht? Mein erster Wunsch wäre es, dass die Visionen verschwinden. Der zweite wäre wohl, dass meine Familie mehr Zeit füreinander hat. Und der letzte .. nun ja .. da müsste ich wahrscheinlich noch drüber nachdenken. Vielleicht würde ich versuchen ihn an jemand anderen zu verschenken. Oder so. Keine Ahnung.
Ich nehme mir das Buch und lege mich wieder auf mein Bett. Auf den Bauch, das Buch auf mein Kopfkissen. So lese ich am liebsten. Ich habe schon lange nicht mehr gelesen. Die Visionen haben mich so gefangen genommen, dass es mir nicht möglich war. Dabei lese ich gerne. Dem Alltag entfliehen, mich in andere Personen versetzen, das gefällt mir. Jemand anderes sein, jemand, der keine seltsamen Zukunftdinge sieht. Wenn ich auf einem Klappentext irgendwas mit Visionen lese, ist es für mich vorbei, dann landet das Buch garantiert nicht in meinem Regal. Sonst mag ich so ziemlich alles, was gut beschrieben ist, in das man sich gut reinversetzen kann.
Durch das Lesen vergeht der Rest des Tages schnell und als ich auf die Uhr schaue ist es bereits halb sechs. Ich stehe auf, gehe hinunter, begrüße meine Eltern und setze mich, zum ersten Mal seit mindestens einem Jahr, zu ihnen, zwischen sie, aufs Sofa. Mein Vater schaut mich warm an, lächelt und legt seinen Arm um meine Schultern. Sofort fühle ich mich geborgen, sicher. Er ist trainiert, um den Stress beim Job auszugleichen macht er Abends immer Krafttraining. Ich bin mir sicher, dass er mich beschützen kann, wenn es hart auf hart kommt. Er drückt mir einen Kuss auf mein Haar. „Alles okay, Kleine?“ Ich nicke und kuschle mich enger an ihn, bevor ich ihm die Frage stelle, die seit heute Morgen durch meinen Kopf geistert. „Hast du irgendeine Möglichkeit gefunden, die Visionen abzustellen?“ Er seufzt, schüttelt den Kopf. Enttäuscht schließe ich die Augen.
Es hat einen Vorteil, dass meine Mutter heute Morgen mit mir gesprochen hat. Ich muss kein Geheimnis mehr vor ihnen haben. Es tut gut, offen darüber sprechen zu können. Ich habe meiner Mama von den Visionen erzählt, die ich in letzter Zeit habe und auch meinem Dad erzähle ich jetzt davon. Doch ich verrate nicht, um wen es geht. Habe ich bei Mum auch nicht. Er hört mir aufmerksam zu und drückt mich, als ich ende, fester an sich. „Es tut mir so leid, dass du mit solch einer Bürde leben musst. Ich würde dir so gerne helfen. Aber ich weiß nicht wie, ich weiß es wirklich nicht .. ich komme ja nicht mal mit meinen eigenen Visionen klar und das, obwohl es positive Dinge sind .. sie überfallen dich immer einfach so, oder? Du merkst, wie dir kalt wird, erst in den Fingerspitzen, dann in den Zehen. Deine Haut fängt an zu kribbeln, dein Kopf wird schwer ..“ Ich nicke und presse mein Gesicht gegen seine Brust, damit er die Tränen nicht sieht, die mir über die Wangen laufen. Er streichelt mir über den Rücken, versucht mich zu beruhigen, aber sagt nichts, da er genau weiß, dass ich jetzt nicht reden mag.
Die Türklingel unterbricht unser Schweigen. Meine Mum, die die ganze Zeit stumm neben uns saß, steht auf und geht zur Tür. Ich kann nicht verstehen, wer davor steht, aber sie schickt die Person wieder weg, sagt ihr, dass ich krank sei. Zwei Minuten später kommt sie wieder, setzt sich neben mich und nimmt meine Hand. „Das war dieser Ted. Ich hab ihm gesagt, dass es dir nicht gut geht, trotzdem lädt er dich für morgen zu einer Party ein.“ Mein Vater grunzt. „Da gehst du aber nicht hin.“ Ich schüttele heftig den Kopf. „Nein. Das wäre sinnlos. Nachher füllt er mich ab, nimmt mich mit in den Abstellraum und sperrt mich da ein, bis diese Menschen kommen und mich mitnehmen.“ Meine Mama runzelt die Stirn. „Oder du gehst hin, trinkst aber nichts .. hast Spaß mit deinen Freunden.“ Ich schaue auf den Boden. „Du weißt genau, dass nur Viola meine Freundin ist.“ „Und was ist mit dieser Kristina?“ „Eine Bekannte.“ Sie seufzt. „Du gehst zu dieser Party. Du brauchst mehr soziale Kontakte.“ Mit diesen Worten steht sie auf und verlässt den Raum, um deutlich zu machen, dass sie damit das letzte Wort gesagt hat. Ich seufze und bleibe weiter an meinen Papa gekuschelt. Wir schauen eine Weile gemeinsam fern, bis meine Mutter uns zum Essen ruft. Sie hat gekocht, was sie viel zu selten tut, denn sie ist eine wahrhaftige Meisterköchin. Aber sie hat nicht genug Zeit dafür.
Nach dem Essen spielen wir noch gemeinsam was und glücklich lächelnd mache ich mich dann wieder auf den Weg in mein Zimmer. Das war ein wirklich schöner Abend gewesen. Sowas hätte ich demnächst gerne öfters.
Ich gehe ins Bad, schminke mich ab – meine Mama konnte es nicht lassen, mir Schminktipps zu geben – und betrachte mich dann im Spiegel. Ich sehe besser aus als heute Morgen. Und ich hatte keine einzige Vision. Ich bin total ausgeglichen. Schnell entledige ich mich meiner Kleidung und tapse mit nackten Füßen zurück in mein Zimmer, wo ich mich in mein weiches Bett kuschle.
Eine neue Frage taucht in meinem Kopf auf, als ich darüber nachdenke, wie gut es mir heute eigentlich geht. Ob meine Gefühlslage und die Anzahl der Visionen einen Zusammenhang haben?

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Ziemlich viel wörtliche Rede, ich weiß. Ein ziemlich trockener, Ted-loser Teil. Musste aber an dieser Stelle sein ;D
Das Buch, das erwähnt wird ist übrigens echt toll! Empfehle ich unbedingt =P

<3





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