Liebe mich - Teil 2

Autor: Vivienne Rau
veröffentlicht am: 12.10.2011


Ich schaute in den Spiegel und sah eine junge Frau, die niemals Stella sein konnte. Zu viel Schminke in meinem Gesicht, knallrote Wangen und ungekämmte, blonde Haare. Mir war heiß und ich war ein wenig verschwitzt, da ich richtig schnell in diese stickige Wohnung voller Menschen hineingestürmt war und mich auf der Toilette eingesperrt hatte. Schließlich wollte ich nicht zu spät dran sein, um das Offensichtliche zu vermeiden. Andererseits wollte ich auch nicht „unbewaffnet“ erscheinen.
Mein Schminktäschchen, das ich glücklicherweise dabeihatte, lag einsam auf dem Waschbecken, während ich mich gegen dieses lehnte. Ich betrachtete mich näher und näher im Spiegel und fand nichts an mir, das auf ein männliches Wesen ansprechend wirken könnte. Ich war gewöhnlich. Plötzlich begann mein Spiegelbild mit mir zu reden: „Schmiere dir Rot auf deine Lippen.“
Ich hielt kurz inne und mir wurde bewusst, dass ich keine Halluzinationen hatte, sondern es mir gerade selbst befohlen hatte. Ich griff in das Schminktäschchen und holte den roten Lippenstift hervor, dessen schimmernde Farbe ich langsam und genüsslich auf meinen weichen Lippen verteilte. Es fühlte sich so angenehm an, dass ich mir dachte, sein Kuss, der Kuss dieses Mannes, müsste genauso sein. Es reichte jedoch nicht. Aggressiv riss ich meine bis oben hin zugeknöpfte Bluse auf. Ich fasste auf meine rechte Brust, die in einem schwarzen Spitzen-BH verpackt war, und stellte mir unverblühmt seine Augen vor. Seine tiefbraunen Augen, seinen schönen Mund, seinen Geruch, der sich trotz Rauch und Gestank flüchtig in meiner Nase verirrt hatte. Ich war von einem Fremden besessen und würde ihn gleich vor mir stehen haben und mich erneut der aufregenden Gefahr seines sehnsüchtigen Blickes aussetzen. Wie er wohl schmecken würde?
Jemand trat energisch gegen die Tür. Ich wurde aus meinen Tagträumen unschön in die Realität zurückgeholt. Die Gegenwart war ein Chaos: Gedämpfte Musik von draußen, quasselnde Leute, überall Zigarettengestank und meine Kopfschmerzen, die seit Jennifers Anruf nicht mehr weggehen wollten. Und dann auch noch ein Geschrei hinter der Tür: „Musst du kotzen, oder was?! Kotze bei dir, wenn du zu Hause bist, du blöde - “
Die Stimme kam mir bekannt vor. Ich entriegelte die Tür und öffnete sie langsam. Vor mir stand eine Anna, die dringend auf die Toilette musste und mir deswegen einen bösen Blick zuwarf. Ich lächelte sie an und wollte ihr gerade noch sagen, wie froh ich war, sie zu sehen, doch sie riss die Tür auf, stellte sich zu mir, sperrte dir Tür hinter uns ab und zog sich mürrisch ihre Hose hinunter. Bei der Unterwäsche guckte ich bereits weg.
„Jennifer hat dich schon gesucht“, sagte sie leise. Ich versuchte meine Arme so zu verschränken, dass man die offene Bluse nicht merkte. Vielleicht suchte mich Jennifer nur, um mir endlich zu beweisen, dass sie wirklich jeden haben konnte. Ich verzog mein Gesicht. Anna merkte es nicht, da ich konzentriert auf die Wandfliesen starrte, während sie ihre Notdurft verrichtete. Sie stöhnte auf und sagte „Befreiung“ oder so etwas. Ich fasste neugierig die Fliesen an und schloss meine Augen. Die Wand fühlte sich, im Gegensatz zur heißen Stadt, friedlich an. Friedlich kühl.
„Stella? Da liegen überall Knöpfe herum“, bemerkte Anna. Irgendwie klang sie sogar besorgt. Ich hielt meine Augen noch immer geschlossen, drehte mich um und öffnete demonstrativ meine Bluse vor ihr und fühlte wenige Augenblicke später ihre Hand auf meiner Brust. Ich zuckte zusammen, öffnete aber keinesfalls die Augen. Ich hatte wohl die Raumgröße der Toilette etwas überschätzt. Anna senkte ihre Hand wieder. „Willst du heute einen auf Nutte machen oder was soll der rote Lippenstift und das alles?“ fragte sie. Sie verstand es wirklich nicht. Ich ignorierte ihre Frage.
„Fasse mich noch einmal an“, bittete ich sie ehrlich und leise.
Sie zögerte, legte ihre Hand aber erneut auf meine Brust. Mein Herz klopfte unweigerlich schneller. Wir waren bis jetzt immer recht gute Freundinnen gewesen, aber sowas hätte ich mir nie von uns beiden erwartet, so etwas - Komisches. Ihre Hände waren sanft und warm und sie fasste nicht nur hin, sondern streichelte auch. Mein Atem wurde etwas lauter und entspannter, während die Stimmung hingegen immer angespannter wurde. Mein Gehirn war schon längst ausgeschaltet. Es begannen sich neue Gedanken in meinem Kopf zu entwickeln, die meine Wangen rot färbten. Plötzlich zerrte sie mich am Ärmel meiner Bluse zu ihr nach unten und flüsterte mir mit ihrer schönen Stimme ins Ohr:
„Ich bin Stella und ich habe es bitternööötig!“
Darauf öffnete ich meine Augen und sagte grinsend: „Du fieses, fieses Monster!“ und wir fingen beide zu lachen an. Wir lachten nicht über irgendetwas. Wir lachten über uns, und das lange und ausgiebig. Tatsächlich „komisch“ war das Ganze allerdings nicht. Wir versuchten das, was vorhin geschah zu überspielen und redeten kaum ein Wort miteinander während ich meine Wimpern tuschte. Sie lehnte sich gegen die Tür und wartete geduldig bis ich fertig war. Wir beschlossen uns in die Menge zu stürzen und teleportierten uns von einen Moment auf den anderen in eine neue, bunte Welt, in der alle tanzten und sich von der Musik erobern ließen. Ein großes Zimmer war zu einem dunklen Raum umgestaltet worden, in dem auf jeder Wand mindestens eine Schwarzlichtlampe hing und die betrunkenen Leute mit ihren voodoo-ähnlichen Körperbemalungen beleuchtete. Ich musste immer wieder zu Anna schauen, die meine flüchtigen Blicke nicht merkte. Sie selbst drängte sich durch die Menschenmassen nach vorne, um den Lautsprechern näher zu sein. Etwas desorientiert schlich ich ihr nach und sah die Gesichter jener, die tanzten. Ich konnte genau sagen, wer nüchtern und wer betrunken war. Ich konnte ebenfalls sagen, wer Drogen genommen hatte. Innerlich schüttelte ich den Kopf und bedauerte die Leute, die ihr Leben und ihre wertvolle Jugend Tag für Tag verschwendeten. Blöderweise merkte ich, dass ich auf dem besten Weg war, mich dieser Gruppe endgültig anzuschließen.
„Stella, endlich bist du da!“ Nadines hohe und überdrehte Stimme bohrte sich in mein vor Schmerzen pulsierendes Gehirn und rammte mir kleine Zahnstocher in den Bereich, der für das Gleichgewicht verantwortlich war. Ich drehte mich um und wollte ihr sagen, dass sie mir nicht ins Ohr brüllen soll, doch ich verlor die Kraft in meinen Muskeln und fiel jämmerlich um. Ein Paar Leute blickten mich fragend an, die meisten tanzten jedoch weiter, als wäre nichts geschehen. Anna drehte sich um und Nadine starrte mich an.
„Was war das?“, fragten beide zeitversetzt. Ich war selbst verwundert über meinen plötzlichen Kraftschwund. „Ich bin etwas müde“, antwortete ich leise und gab damit zu verstehen, dass mit mir alles in bester Ordnung wäre. Nadine und Anna stützten mich wie eine alte, schwache Dame, während ich mich aufrichtete. Beide waren größer und stärker als ich und hätten mich auch locker tragen können. Außerdem hätte ich nichts dagegen gehabt, es war einfach zu viel Aufregung in mir und um mich herum.
Nadine deutete in Richtung einer improvisierten Bar, die aus zwei Tischen und drei Mini-Kühlschränken bestand. Das musste das Herzstück der Gesellschaft hier sein, dachte ich mir, als ich bereits von den beiden hingezogen wurde. Meine Reaktionsgeschwindigkeit war enorm hinabgesetzt und ich konnte mich deswegen kaum wehren. „Du musst etwas trinken!“, hörte ich von beiden Seiten immer wieder. Als ich den Kopf schüttelte, hielten beide an und musterten mich, bevor sie mir wieder lautstark erklärten, dass mein Körper ach so dehydriert wäre und dass man, wenn man viel Alkohol trinkt, viel Wasser trinken müsste.
„Ich habe doch noch gar keinen Alkohol getrunken!“, brüllte ich verzweifelt.
„Achso“, sagte Anna leise.
„Na dann wissen wir ja, was das Problem ist“, sagte Nadine und grinste frech. Ich bekam Angst. Wir standen bereits bei den Kühlschränken. Nadine sagte nur etwas von einem „Cocktail“, von dem sie meinte, er wäre die beste Erfindung ihres gesamten Lebens. Sie schrie abwechselnd „Flasche!“ zu Leuten, die gerade den Alkohol hielten, den sie brauchte und „Flasche!“ zu Typen, die sie anmachten, an denen sie aber wenig interessiert war. Während Nadine sich in ihrem Cocktailwahn kurzzeitig von uns abkapselte, stellte sich Anna zu mir.
„Du bist also nicht einmal angeheitert?“
„Nein, du etwa?“ Ich schaute ihr tief in die Augen und merkte, dass sie irgendwie verletzt zu sein schien. Sie grinste künstlich und schaute auf den Boden.
„Wieso zur Hölle bist du jetzt plötzlich so?“, fragte ich direkt und ehrlich interessiert.
„Naja, es ist nur - “
„Hier, meine Hübschen!“ Nadine drückte uns Plastikbecher in unsere Hände, die mit einer rosa, dickflüssigen Substanz gefüllt waren, die gefährlich aussah. „Auf uns!“, rief sie fröhlich und wollte bereits trinken.
„Bist du dir sicher, dass wir das trinken können ohne zu verrecken?“, fragte Anna.
„Hundertprozentig sicher!“, sagte sie und nickte dabei die ganze Zeit hyperaktiv mit ihrem Kopf, wie ein glückliches Kleinkind.
„Na gut, dann auf uns!“, sagte ich etwas ängstlich.
„Auf uns!“





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