Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt - Teil 22

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 23.10.2011


„Was ist das denn für eine Kette?“, fragte Joan mit gerunzelter Stirn. Sie war plötzlich neben Abigail aufgetaucht und ergötzte sich scheinbar daran, wie das Hausmädchen aussah.
„Das ist eine Zauberkette“, entgegnete Abigail. Sie wusste von der fehlenden Schulbildung der Zwillinge und obwohl die beiden schon zehn Jahre alt waren, konnte man ihnen den Mann hinterm Mond glaubhaft machen. Abigail hatte ihren Spaß daran, als sie sah, wie groß Joans Augen wurden.
„Eine Zauberkette? Was kann sie denn?“ Aber gleich darauf nahm sie einen überheblichen Ausdruck an. „Als wenn eine Angestellte wie du so etwas besitzen würde.“
„Natürlich ist das eine Zauberkette!“, sagt Abigail wie selbstverständlich. „So eine findet man. Was sie kann, weiß ich nicht.“
Joan sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. Ein wenig schlauer als Jonathan war sie immerhin. Sie hob schon zu einer gemeinen Antwort an, als sie Bobby gemächlich auf sie zutraben sah. Ihre Augen wurden groß und zu Abigails Erleichterung verschwand Joan schnell im Haus, ohne ihr etwas entgegnet zu haben.
„Na mein Großer“, sagte sie und streichelte den hechelnden Hund. Er schüttelte sich und sein zotteliges Fell flog durch die Luft. Abigail schaute zum Feld, wo Moses angestrengt arbeitete. Als sie einen Moment später wieder hinsah, fiel ihr auf, dass er nun viel weiter bei den Baumwollpflückerinnen stand. Die ihm am nächsten saß, war Sunta.
Auf Abigails Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Dieses Schlitzohr!
Sie schob Bobbys nachgewachsene Haare über den Augen beiseite.
„Ich hab gehört“, sagte sie zu ihm. „dass die Yankees drüben in Ohio und Michigan keine Plantagen haben und auch keine Sklaven. Was meinst du denn dazu, mein Großer?“ Bobby hechelte nur weiter, doch stattdessen vernahm Abigail hinter sich eine Stimme.
„Nicht nur dort, Miss O’Brian, sondern auch in Minnesota, Missouri, Illinois und Indiana. Und das sind noch nicht einmal alle Staaten.“
Sie fuhr kerzengerade hoch und wirbelte herum, nur um in Andrews überheblich grinsendes Gesicht zu schauen. Wie demütigend, dass gerade er sie dabei erwischte, wie sie mit einem Hund redete! Sie dachte angestrengt nach. „Nun... daran könnte man sich hier ein Beispiel nehmen“, meinte sie und fühlte sich absolut im Recht. „Sklaverei ist doch unmenschlich.“
Andrew lachte. „Und wie, glauben Sie, verdienen die Yankees ihr Geld?“
Abigail stockte. Es verwunderte sie, dass Andrew sie mit der Höflichkeitsform ansprach, mit der man sonst nur mit einer Dame redete. Wollte er sie verspotten?
„Ich nehme mal an, sie-“
„Sie nehmen an“, unterbrach er sie. „dass die Yankees mit ihren Familienbetrieben menschlicher sind? Sehr naiv, Miss O’Brian! Hier haben wir die Neger und dort die Ausländer. Sie können selbst entscheiden, wer mehr wert ist.“ Er zog spöttisch einen Mundwinkel nach oben. Abigail hätte ihn dafür schlagen mögen! So ein arroganter Mensch.
„Und Sie ziehen gegen die Yankees, Mr. Mackenzie?“, fragte sie und redete ihn absichtlich mit Nachnamen an. Sie ließ sich doch nicht zum Narren halten!
„Nein, nicht gegen die“, entgegnete Andrew, geflissentlich ihre Anrede überhörend. „ich bin Reservesoldat. Wenn die an der Front Mangel kriegen, muss ich einspringen. Wir ziehen gegen Mexico.“
Von Reservesoldaten hatte Abigail schon mal was gehört. Sie bekamen die gleiche Ausbildung wie andere Soldaten, und durften dann, bis sie gebraucht wurden, nach Hause gehen. Sie schnaubte verächtlich.
„Ob gegen die Yankees oder gegen Mexico, Krieg ist doch wohl völlig barbarisch.“ Dies sagte sie allein schon, um ihm die Stirn zu bieten. Niemals hätte sie zugegeben, dass sie Soldaten sehr mutig fand.
Auf Andrews Gesicht erschien wieder dieses Grinsen.
„Das wiederholen Sie mal, wenn Ihnen eines Tages so einer mit dem Gewehr vor der Tür steht.“
Darauf wusste das Mädchen nichts zu erwidern. Sie dachte einen Moment darüber nach, ihm Joans nassen Unterrock, den sie zum Aufhängen die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, ins überheblich grinsende Gesicht zu schleudern. Aber diesmal überwog die Vernunft, und nicht ihr hitziges Temperament.
„Nun, ich hoffe doch, dass Sie möglichst schnell zum Dienst gerufen werden, Mr. Mackenzie! Dann muss ich Ihre Anwesenheit nicht länger ertragen!“
Demonstrativ wandte sie sich zu der nassen Wäsche um, ein Zeichen, dass diese Unterhaltung beendet war. Sie war sich ganz sicher, ihm eins ausgewischt zu haben, aber sie hörte Andrew hinter sich nur laut lachen. Wie immer hatte er die Oberhand über ihre Gespräche und zu einer letzten Bemerkung blieb noch Zeit.
„Ach übrigens, eine sehr hübsche Kette, die Sie da tragen… Mrs. O’Brian.“
Der Sarkasmus war hier sehr deutlich zu hören, und selbst Abigail, der wieder einmal ein rotes Tuch vor den Augen hing, bekam ihn mit. Sie hörte, wie Andrew sich, immer noch lachend, entfernte. Seine letzte Bemerkung fachte die Wut in ihr neu an und schließlich landete Joans unschuldiger Unterrock im Dreck.

Mary saß mit leeren Augen auf ihrem Bett. Sie ließ in diesem Moment der Einsamkeit ihr gesamtes Leben Revue passieren. Es war ein Leben, an das sich keine junge Frau gerne erinnerte. Als einziges Kind zweier fast mittelloser Eltern aufgewachsen, hatte es nie auch nur einen Menschen gegeben, der ihr etwas bedeutet hätte. Als sie gerade einmal vier Jahre alt war und voller Vorfreude ihrem ersten Schultag entgegensah, wurden zuerst ihre liebe Mutter, und dann auch ihr Vater krank. Typhus war eine furchtbar ansteckende Krankheit, die einen Menschen innerhalb weniger Tage dahinraffte, wenn man nicht die richtige Arznei besaß. Doch die arme Familie konnte sich einen derartigen Luxus nicht leisten. So wurde Mary von der Schwester ihres Vaters aufgenommen, bevor sie sich auch anstecken konnte. Sie war schon damals sehr intelligent gewesen und hatte ihrer Tante nie geglaubt, dass ihre Eltern nur weggegangen wären.
Mary hatte an dem Tag, als Beth und Charles Baker starben, einen Schmerz gespürt, den sie noch nie empfunden hatte. Etwas war aus ihrem Herzen gewichen, etwas Wichtiges und Schönes.
Mary musste bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr in dem lieblosen Haus ihrer Tante wohnen. Diese hatte nicht viel für ihre Nichte übrig gehabt und nur zwangsweise für sie gesorgt. Mary war eine der besten Schülerinnen ihres Jahrgangs gewesen. Die Literatur hatte sie schon früh in ihren Bann gezogen und da sie wegen ihrer ständigen Distanziertheit Männern gegenüber nicht an Heirat und Familie dachte, beschloss Mary, Lehrerin für englische Literatur zu werden. Die Krankenschwesterausbildung war nicht langwierig gewesen, sie hatte eigentlich nur zur Überbrückung der langen Prüfungszeiten gedient.
Ihrer Tante war es relativ egal, dass ihre Nichte die Prüfungen mit Auszeichnung bestand und zu einer Lehrerstelle in Idabel zugelassen wurde. Ihr ging es nur darum, endlich wieder in die triste Einsamkeit zurückzukehren, die sie so schätzte.
Es gab nicht viele Frauen, die selbstständig arbeiteten und, vor allem, selbstständig wohnten. Deswegen wurde Mary von den meisten verkannt. Nicht zu heiraten war doch wohl das Seltsamste was es gab! Dieses nicht anerkannt - sein bei den Leuten lies sie eine Einsiedlerin werden. Die Hütte, in der sie nun lebte, war alles, was sie hatte.
Bis Tadgh kam, war sie so schrecklich allein gewesen. Ihr wurde in diesem Moment bewusst, wie leise es geworden war. Jetzt, wo sie verlobt war, was sie sich niemals hätte träumen lassen, konnte sie gar nicht glauben, schon immer in dieser Stille gelebt zu haben.
„Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht?“, murmelte Mary in die Stille hinein. Ihre Augen sahen immer noch in die Ferne.
„Ich habe nur mein Glück in den Augen.“ Das enttäuschte Gesicht Maggies ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. „Ich habe zwei Geschwister auseinander gebracht.“
Ihr fiel diese Wahrheit wie Schuppen von den Augen. Voller Entsetzen wurde ihr ebenso klar, dass sie ihren Verlobten in die falsche Richtung geschickt hatte.
Sie sprang auf und der Blick kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Das Schuldgefühl hatte Mary endlich erreicht.
„Ich muss zu ihm!“, flüsterte sie zu sich selbst und eilte aus dem kleinen Haus. Entschlossen ging sie zu dem Einspänner, den Tadgh zurückgelassen hatte. Gerade Aida musste er mitnehmen, die Schnellere der beiden Stuten! Aber so würde es auch gehen. Sie zog sich ihren Mantel enger und lies Lora auf die Straße traben.






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