Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt - Teil 6

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 25.07.2011


Mary durchfuhr ein kurzer Schauer. Er war zwanzig, sie achtzehn.
Sie wusste nicht genau, warum das ihren Bauch so kribbeln lies, doch es war kein unangenehmes Gefühl. Tadgh setzte sich auf. „Und…wo bin ich jetzt?“, fragte er.
„Du bist bis ins Broken Bow Lake hinuntergetrieben. In die Stadt Idabel.“
Tadgh wunderte sich über gar nichts mehr. Vorsichtshalber fragte er, in welchem Bundesstaat das lag.
„Oklahoma“, sagte Mary lachend und stand auf. „Ich mache dir einen warmen Tee.“
Während sie den Tee zubereitete, beobachtete Tadgh sie, die Fremde Retterin, aufmerksam. Mary war so ziemlich das, was man unter schön verstand. Ihre langen schwarzen Haare glänzten im spärlichen Licht der Kerzen und ihre klugen grünen Augen musterten ihn achtsam.
Sie setzte sich mit einer Tasse heißem Pfefferminztee auf die Bettkante und reichte sie Tadgh. Als er sie nahm, berührten sich kurz ihre Hände. Die Spannung hing einen Augenblick lang zwischen ihnen in der Luft, dann zog Mary etwas verwirrt ihre Hand zurück. Tadgh lächelte leicht.
„Danke“, sagte er. „Danke, du hast mir das Leben gerettet.“
Und Mary lächelte zurück.

„Wie lange müssen wir denn noch laufen? Meine Füße tun weh“, meckerte Abigail. Die Landstraße vor ihnen schien kein Ende nehmen zu wollen und zu allem Übel hing die Luft voller Insekten- eine Ankündigung für Gewitter.
Ein Außenstehender hätte sich gewundert, dass Moses nicht schon längst ausgerastet war. Doch er sagte nur ruhig: „Dann ziehen Schuhe aus, Miss. Ich kann Sie nicht tragen.“
Abigail konnte nicht glauben, was sie da eben gehört hatte. Kaum war der Neger kein Sklave mehr, dachte er, er könne sich alles erlauben. Sie schüttelte den Kopf.
„Mich zu tragen ist das Mindeste was du tun kannst! Jetzt wo du keine Arbeit mehr hast.“
Moses blieb stehen und wandte sich ihr zu. „Entschuldigung, Miss Abigail, dass ich mich im Ton habe vergriffen. Doch ich denke, Sie sind alt genug, um selbst zu laufen.“ Damit ging er weiter. Gezwungenermaßen lief Abigail hinterher. Eine zeitlang hatte der junge Mann Ruhe, doch dann, als bereits bedrohlich schwarze Wolken über ihnen hingen meldete sich Abigail wieder zu Wort. „Ich habe Hunger.“
In dem Punkt gab Moses ihr allerdings Recht. „Ich auch. Aber ich konnten nichts mitnehmen. Es war alles verbrannt.“
Er sah nach oben und runzelte die Stirn. „Wir müssen eine Pause einlegen. Bald wird es Gewitter geben.“
Abigail sah sich um. „Und wo, bitteschön? Ich sehe hier kein Gasthaus.“
Moses schaute sie einen Moment an, und bevor er etwas sagte, was er bereut hätte, verkniff er sich eine Antwort. Miss Abigail war so ein Leben eben nicht gewöhnt. Doch er war sich sicher, dass sie mit der Zeit den Ernst des Lebens begreifen würde.
Nachdem sie noch ein Stück gegangen waren- mittlerweile fielen schon die ersten Tropfen auf die Erde- machte Moses plötzlich halt und deutete auf ein kleines Häuschen am Wegesrand. Es war hinter dichten Büschen verborgen.
„Das ist ein Wandererhaus“, sagte Moses. „So nenne ich es. Es wurde gebaut für müde Landstreicher, die auf den langen Weg zwischen den Städten Ruhepausen brauchten.“ Als er Abigails skeptischen Blick sah, fügte er noch hinzu: „Genau das Richtige für uns.“
Abigail folgte ihm, doch das kleine Häuschen schien nicht gerade solide auszusehen.
„Hoffentlich ist niemand hier“, murmelte Moses, als sie eintraten.
Wie sich herausstellte, war die Hütte noch frei. Sie war ziemlich verstaubt, was daraufhin deutete, dass lange niemand mehr hier Rast eingelegt hatte. In allen Ecken waren Spinnenweben und die kleinen, wie schwarze Kugeln aussehenden Spinnen hingen träge darin und warteten auf Beute. In dem kleinen Kamin lag schon lange kein Holz mehr und außer einem Stuhl, einem kleinen Bett und einem Tisch war die Hütte lehr. Als Abigail wenig begeistert eintrat, huschte eine kleine Maus vor ihren Füßen vorbei. Sie schrie vor Schreck auf. „Igitt!“, sagte sie angeekelt. Moses lachte leise. „Das nicht so schlimm, Miss Abigail. Hier geben es noch ganz andere Tiere, da sind Mäuse noch ein Segen. Schmecken übrigens gebraten sehr gut.“
Das Mädchen schaute Moses einen Augenblick fassungslos an, dann entschied sie, dass er wohl nur einen Scherz gemacht hatte. Einen schlechten, wohlgemerkt.
„Darauf schlaf ich nicht!“, sagte sie und deutete auf das Bett. Der Bezug war wohl einst weiß gewesen, doch von der Zeit und den unzähligen Körpern, die darauf gelegen hatten, war er grau verfärbt.
Moses runzelte nur die Stirn. „Gut, dann schlafen ich darauf.“
Abigail legte ihrerseits die Stirn in Falten. „Wenigstens ist der Stuhl einigermaßen in Ordnung.“
Moses zog ein kleines Klappmesser aus seinem Gürtel. Für einen Moment dachte Abigail, er wolle sie umbringen, doch dann ging Moses nur zur Tür und trat hinaus. „Ich besorge Ihnen etwas zu essen, Miss. Bis dahin bleiben Sie hier, wo Sie sind in Sicherheit.“






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