Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt - Teil 4

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 18.07.2011


Als Moses erwachte, war das erste, was er wahrnahm, die Helligkeit. Es war wie ein viel zu helles Licht, dass ihm direkt ins Gesicht schien. Er brauchte einige Zeit, um zu verstehen, dass die Nacht dem Tag gewichen war und die Sonne ihm ins Gesicht schien. Merkwürdigerweise hatte er keine Kopfschmerzen- jemand hatte ihm auf den Kopf geschlagen, daran erinnerte er sich noch. Er rappelte sich mühevoll auf und schaute sich um. Er fühlte sich seltsam müde und erschöpft, obwohl er offensichtlich lange bewusstlos gelegen hatte. Er sah zum Ort, wo die Scheune stand, doch da war keine Scheune. Wieder brauchte er einige Zeit, um den verbrannten Trümmerhaufen als die ehemalige Scheune zu identifizieren. Da fiel ihm auch wieder der alte Sam und seine Frau ein. Wie hieß sie noch gleich? Aneesa. Er fasste sich an den Kopf. Da war doch was! Er sollte auf Sams Frau aufpassen! Jetzt fielen ihm auch wieder die Vorfälle der letzten Nacht ein. So schnell, dass er zu Boden sank. Samuel war tot, sein bester Freund und Vater – Figur, Aneesa, die er beschützen sollte, war verschwunden, der Master war tot, seine Frau, und…
Sein Gedankengang brach ab, als er die Leichen sah. Er konnte sich noch schwach erinnern, dem Master die Augen geschlossen zu haben, und so lag er tatsächlich auch noch da. Doch das Haus, was der junge Mann erblickte, oder besser gesagt, das, was noch davon übrig war, hatte nichts mehr mit der schönen Villa vom Vortag zu tun. Moses traf der Anblick heftig. Er hatte hier so viele schöne Erinnerungen gehabt. Die O’Brians haben ihn aus den Klauen eines unbarmherzigen Sklavenhändlers befreit. Er hatte die Geburt der kleinen Miss Abigail miterlebt. Weeping Willow Creek war in all diesen Jahren ein abgeschottetes sicheres Heim geworden, weit weg von der Schwarzenhassenden weißen Zivilisation.
Gerade, als ihm die Tränen kamen, wurde er von einem Schluchzten aus der Trauer gerissen. Er schaute auf, doch er sah niemanden. Moses stand auf und ging langsam um das zerstörte Haus herum. Er ging vorsichtig, denn es könnte einer der maskierten Männer vom Vortag sein, obwohl das hohe Wimmern nicht wirklich zu einem Mann passte. Zuerst sah er nur eine Menge Stoff, der neben der Leiche von dem Master wie zusammengeknüllt dalag. Doch als dieser Stoff sich bewegte sich ein Kopf ihm zuwandte, erkannte er das junge Mädchen.
„Miss Abigail!“, sagte er, erfreut, dass wenigstens sie noch am Leben war.
Sie sprang auf. „Moses!“, rief sie, weniger erfreut als erschrocken.
„Ich dachte, ihr wäret alle tot.“
„Das dachte ich auch, Miss Abigail, aber dem ist wohl nicht so.“
Doch dann bedeckte er traurig sein Gesicht. „Alles zerstört“, sagte er kopfschüttelnd. Wieder kamen dem jungen Mädchen die Tränen. Sie hatte für ihr kurzes Leben genug Feuer und Leichen gesehen. Dass nur dieser Sklave noch am Leben war, tröstete sie nicht besonders.
„Was soll ich denn bloß machen?“, schluchzte sie, machte jedoch keine Anstalten, sich von Moses trösten zu lassen. „Kein Dach überm Kopf, keine Nahrung…was soll ich machen?“ Eigentlich war diese Frage rein rhetorisch, doch der junge Schwarze missverstand das wohl.
„Ich werden schon für Sie sorgen, Miss“, sagte er aufmunternd. Doch selbst glaubte er nicht wirklich an seine Worte. Wie sollte sich ein Schwarzer, ein Neger, in dieser Welt behaupten? Der erste Schutzmann würde ihn doch gleich einem Sklavenhändler übergeben. Das Jammern der kleinen Misses riss ihn aus den Gedanken.
„Ich weiß doch noch nicht einmal, ob alle tot sind“, weinte sie. „Wo sind Maggie, Tadgh und Cillian?“ Erst jetzt fiel dem jungen Mann auf, dass die Leichen auf dem Vorplatz alles Hausangestellte und Sklaven waren. Tatsächlich sah er keinen der beiden Misters und auch nicht Misses Maggie, was ihm ein wenig Hoffnung gab.
„Es ist nicht alles verloren“, sagte er in einem Versuch, die in Selbstmitleid versunkene Abigail aufzumuntern. „Ihre Geschwister sind vielleicht- wahrscheinlich noch am Leben!“
Abigail wischte sich die Tränen ab. Fast hätte sie „Das wusste ich schon selber, du Idiot!“ gesagt, doch sie wollte den Sklaven nicht verärgern. Womöglich bot er ihren einzigen Schutz und wie sie gehört hatte, wurden die Neger schnell aggressiv.
Sie stand auf. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, sagte sie, eine etwas freundlichere Art, ohne ein Schimpfwort. Sie betrachtete ihren Unterrock und war den Tränen wieder nahe. Dieses Kleid war teuer gewesen, so teuer wie drei Monatsgehälter eines Sklaven. Und nun war es mit Staub, Ruß und Schmutz verunstaltet. Ein hässlicher Riss durchzog den unteren Teil ihres Rockes- den spanischen Tüll, den sie so besonders mochte.
Abigail sah erneut auf die Trümmer ihres Hauses- ihres Lebens.
„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte sie, eher sich zu sich selbst.
Moses dachte an Aneesa. Er wusste, dass er für ihr Verschwinden nicht verantwortlich war, doch trotzdem sah er Samuels vorwurfsvolles Gesicht vor sich. Er hatte etwas versprochen und es nicht gehalten.
Der junge Mann seufzte. Er hatte diesen Satz schon oft gesagt, denn schon oft hatte er Leichen gesehen. Leichen von Menschen, die er gut kannte, die er liebte.
„Wir erweisen den Toten die letzte Ehre.“

Mary Baker ging am Ufer des Sees entlang. Es war ein sonniger schöner Tag. Es gab viele solcher Tage, an dem die junge Frau die Landschaft Idabels genieste. Sie ging etwas näher zum Wasser und hockte sich dicht am Rand hin. Leise summte sie vor sich hin, während sie im Wasser nach schönen Seerosen suchte. Die Sonne lies ein besonders klares Spiegelbild erscheinen. Mary steckte sich eine Kornblume ins lange Haar und summte weiter eines ihrer Lieblingslieder. Doch dann verstummte sie und die feuerrote Blume fiel mit einem leisen Plätschern ins Wasser. Etwa fünfzig Meter weiter am anderen Ufer lag etwas im seichten Uferwasser. Dichtes Seegras verdeckte einen Großteil dessen, was Mary da sah, doch sie war sich sicher, dass es sich um einen Menschen handelte. Die junge Frau sprang auf und lief mit klopfendem Herzen zum anderen Ufer.






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