Arm

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 08.07.2011


Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar- Antoine de Sant-Exupéry
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Oklahoma, 1867

Weeping Willow Creek lag ruhig und vom morgendlichen Nebel umspielt da. Kein Lüftchen regte sich, die Fensterläden waren fest geschlossen. Die Farm schlief noch, so wie die Menschen in ihr. Aus dem Stall drangen noch nicht die geräuschvollen Laute der Kühe, auch die Pferde waren durchaus nicht auf Frühstück aus. Ein sanfter Wind, wie er nur in Oklahoma wehen konnte, wiegte den Weizen auf den Feldern.
Unvergleichbar, die weite Ebene und die sanften Hügel um Weeping Willow Creek. Im Sommer war der Weizen golden, das Gras saftig und im Winter wurde die Landschaft von einer weißen Decke aus Schnee umhüllt.
Inmitten dieser harmonischen Idylle wurde die Stille von einem derben Geräusch verjagt. Anfänglich noch leise, wurde es stetig lauter und durchdringender. Es brummte wie ein unheilvoller Sturm, der auf die friedlich daliegende Farm zurollte. Ein Hase, der sich bis jetzt mit angelegten Ohren auf dem Feld hockte, richtete diese nun auf und spannte jede Faser seines Körpers an. Das Geräusch kam näher. Der Hase schnupperte kurz in die Luft und war dann blitzschnell mit einigen Sätzen in seinem Bau.
Dabum-dabum-dabum. Ein gleichmäßiger, sich vervielfältigender Klang.
Und er kam näher.

Abigail O’Brian riss schlagartig die Augen auf. Der seichte Schlaf, in dem sie sich bis jetzt befunden hatte, war gestört und sie war nicht gerade erfreut darüber. Etwas hatte sie geweckt. Sie hörte einen Moment still zu, und erkannte dann das näherkommende Klappern von Hufen. Von vielen Hufen…
„Meg“, flüsterte sie und stieß ihre schlafende Schwester leicht in die Seite. „Meg…Maggie, hörst du das?“ Sie richtete sich auf. Maggie öffnete schläfrig die Augen. „Was ist denn?“, fragte sie gähnend. „Was ist los, Abigail?“ Ihre jüngere Schwester schwang die Beine aus dem Bett und ging zum Fenster.
„Lass das…“
Abigail öffnete die Läden und schob die Gardinen beiseite.
„Leg dich wieder schlafen. Da ist doch ni-“
„Sei still, Maggie.“ Sie spähte angestrengt durch die Fenster in die Dunkelheit, die sich erst Stunden später verflüchtigen würde.
„Hör mal, junge Dame, du-“
„Sei ruhig“, fuhr Abigail ihre Schwester an. Sie lauschte kurz. Ja, es waren Pferde, die eindeutig näher kamen. Abigail schaute erneut angespannt in die Nacht. Da! Ein schwacher Lichtschein. Und noch einer, und noch einer. Jetzt waren es mindestens zwanzig.
„Maggie, sie kommen hierher“, flüsterte sie. Maggie stand genervt auf und ging zum Fenster.
„Du raubst mir noch den letzten-“ Sie stockte, als sie die brennenden Fackeln sah, die in wippendem Rhythmus näher kamen.
„Ich wecke Vater und Mutter“, sagte sie und bevor Abigail etwas erwidern konnte, war ihre große Schwester schon aus dem Raum. Sie wandte sich wieder den mysteriösen Besuchern zu, die nun fast da waren. Seltsamerweise sah sie ihre Gesichter nicht. Abigail begann zu schwitzen, als sie erneut angespannt versuchte, die Reiter zu sehen. Dann, schlagartig, wurde ihr bewusst, dass es unmöglich war, ihre Gesichter zu sehen. Die Männer (dass sie Männer waren, war Abigail sich sicher), hatten Masken auf. Und nicht nur irgendwelche. Als das Mädchen die schneeweißen Kutten mit den spitz zulaufenden Kopfmasken und den Augenschlitzen sah, brach ihr der kalte Schweiß aus. Ihre Beine gaben nach. Doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Jetzt hielten die Männer, jeder eine Fackel in der Hand, in einer geraden Reihe. Sie standen einfach nur da, bis einer in der Mitte seinem rechten Nachbarn etwas zuflüsterte. Dieser nickte, hob stumm die Fackel und nickte noch einmal. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er die Fackel in Richtung Farm. Sie prallte an einem Pfosten ab und landete auf der Veranda. Das Holz begann sofort, Feuer zu fangen.
Abigail sprang auf. Ihr saß der Schock in den Gliedern. Sie konnte nicht glauben, was sie da eben gesehen hatte. Doch sie kannte Feuer und seine verheerende Wirkung. Ihre ganze Angst und Angespanntheit entlud sich in einem lauten Schrei. Bevor sie aus dem Zimmer rannte, sah sie noch, wie die Männer sich zerstreuten und begannen, die Farm in Brand zu setzten.

Ein Schrei riss Moses aus dem Schlaf. Noch schlaftrunken stand er auf und spähte aus dem Fenster. Was er sah, lies die ganze Müdigkeit von ihm abfallen. Er rannte durch die Scheune zu Samuel, den der Schrei und der Lärm von draußen nicht geweckt hatte.
„Sam!“, rief Moses aufgeregt. „Sam, wach auf!“ Er rüttelte den bereits ergrauten Mann heftig an den Schultern, was ihn aus dem Schlaf riss.
„Was ist passiert?“, fragte er mit weit aufgerissenen Augen.
„Sie…“, keuchte Moses. „Sie sind hier. Die Männer mit den weißen Hüten!“
Schlagartig sprang Sam auf. „Nein!“, rief er. „Das nicht sein können! Der Master-“
„Der Master in Gefahr und seine Frau und Miss Abigail und Miss Maggie und die beiden Misters!“, unterbrach Moses. Samuel rannte zu seiner Frau.
„Aneesa“, sagte er sanft. „Aneesa, wake up! Ons is in gevaar!”
Moses fuhr sich verzweifelt über sein kurzes dunkles Haar. Der schwarze junge Mann hatte so etwas immer befürchtet. Sie brachten den Master in Gefahr! Solche Männer, er hoffte, dass es nicht die Ku Klux Klan Mitglieder waren, doch er wusste, es war so, hatten keine Skrupel. Selbst vor Frauen und Kindern machten sie nicht halt, solange sie schwarz waren, oder auch nur mit schwarzen in Verbindung waren.
Aneesa war mittlerweile auch wach. Sie stand da, völlig verängstigt.
„Ek is bang, Samuel!“, sagte sie wimmernd. Sie war eine junge Frau von gerade einmal achtunddreißig Jahren. Sie konnte nicht besonders gut Amerikanisch sprechen, doch zum Arbeiten reichte es. Aus lauter Angst wiederholte sie nun immer wieder in afrikanischer Sprache die Worte „Ek is bang“, „Ich habe Angst.“
Plötzlich war ein ohrenbetäubender Lärm zu hören und im nächsten Moment krachte die hintere Scheune in sich zusammen. Aneesa lies sich schreiend fallen. Die brennenden Holzteile flogen durch die Luft. Moses lies sich instinktiv fallen. Er blieb unverletzt, was er wahrscheinlich seiner Schnelligkeit zu versanken hatte. Ein Stöhnen neben ihm verriet, dass Samuel nicht so viel Glück hatte. Durch die Funken und den Staub hindurch sah Moses sein gequältes, schmerzverzerrtes Gesicht. Zu seiner Verzweiflung entdeckte Moses einen Holzsplitter in der Brust seines Freundes. Es war kein großer, doch der junge Mann sah sofort, dass er sich auf direktem Wege durch Samuels Herz gebohrt hatte. Nun lag der alte Mann schwer atmend auf dem Scheunenboden. Moses Tränen benetzten sein Gesicht. Samuel griff nach seiner Hand.
Nach dem dritten Anlauf gelang es ihm, etwa zu sagen.
„Mo“, keuchte er. „Mo. Du dich kümmern um meine Frau.“ Tränen liefen ihm über die Wange. „Du dich kümmern um Aneesa.“
„Nein“, rief Moses verzweifelt, das Gesicht des Alten in den Händen haltend. Samuel war immer wie ein Vater für ihn gewesen. „Du wirst wieder gesund! Jy sal gesond word!“ Von heftigen Weinkrämpfen gepackt, kniete er neben dem Sterbenden.
„Bitte“, sagte Sam. Er war ganz ruhig und bedachte Moses mit einem gütigen Lächeln, das den Kontrast seiner weißen Zähne zu seiner schwarzen Haut zeigte. „Bitte, du dich kümmern um Aneesa. Neem asseblief sorg vor Aneesa!“ Er sah Moses eindringlich an und in diesem Moment wurde dem jungen Mann klar, dass er nichts mehr tun konnte.
„Ja“, flüsterte er. „Ich versprechen.“ Er legte die Hand des Alten an sein Gesicht, gerade, als dieser seinen letzten Atemzug tat.







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