Geheimnis der Tiefe - Teil 7

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 03.12.2011


Anmerkung:
Diesmal habe ich französische Wörter mit einer Zahl gekennzeichnet (Es aber nur eins). Das sieht ungefähr so aus: (1)
Das Wort findet ihr dann übersetzt am Ende des Kapitels.
Vielen Dank fürs Lesen und einen schönen 2. Advent!





Als ich mich nach Schulschluss durch das übliche Gedränge vor dem Eingangstor kämpfe, ist der Himmel über mir strahlend blau. Ich blinzele ins gleißende Licht der Frühlingssonne und versuche mir einen Weg durch die schwatzenden und kichernden Schülermassen zu bahnen. Die Meisten warten auf den Schulbus und die, die wie ich das Glück haben, nach Hause laufen zu können, leisten den Wartenden Gesellschaft.
Von Levent keine Spur. Stattdessen sehe ich Camille aus meinem Mathekurs die gerade schwer damit beschäftigt ist, Hugo ihre Zunge in den Hals zu schieben. Ansonsten kann ich nirgendwo ein bekanntes Gesicht entdecken. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, die Beiden zu unterbrechen und nach Levent zu fragen, zu verlieren habe ich schließlich nichts mehr, da stößt mich ein ziemlich breiter Zehntklässler in die Rippen, sodass ich taumele und auf dem Hosenboden lande.
„Désolé. (1)“, nuschelt er, als er meinen verärgerten Blick bemerkt und läuft weiter in Richtung Hauptstraße.
Langsam richte ich mich wieder auf und klopfe den Dreck von meiner Jeanshose, da spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es Levi ist. Wenigstens muss ich nun keine Mitschüler vom intensiven Speichelaustausch abhalten…
„Kommst du mit?“, fragt er und schiebt mich, ohne eine Antwort abzuwarten an einer Gruppe Punkern vorbei zur Straße.
„Ich muss nur rechtzeitig wieder zu Hause sein, bevor meine Eltern kommen.“, gebe ich zu bedenken. Auf irgendwelche „klärenden Gespräche“ mit meinem Vater kann ich nämlich verzichten.
„Okay.“, antwortet er nur.
So begleite ich Levent zum zweiten Mal an diesem Tag zu sich nach Hause. Der Sand knirscht unter meinen nackten Füßen, als wir den Strandweg entlang gehen. Eigentlich sträubt sich alles in mir, barfuß über dieses Gemisch aus winzigen Steinstückchen, Mövenfedern, Algenstückchen und vielleicht auch Zigarettenkippen oder Eispapier der Strandbesucher zu laufen. Aber der Gedanke daran, die widerliche Mischung womöglich wochenlang in meinen Schuhen herumzutragen, lässt mich dann doch jedes Mal meinen Ekel überwinden.
Als Levent die blaue Holztür öffnet und ich sorgfältig meine Füße am Fußabtreter abstreife, kommt uns ein kleines Mädchen mit glattem, schwarzem Haar entgegen. Sie senkt ihren Blick und richtet ihre grau-blauen Augen auf ihre Hausschuhe.
„Hallo.“, sagt sie schüchtern.
„Hallo.“, grüße ich freundlich zurück.
„Das ist meine jüngste Schwester, Oceanne.“, stellt Levent mir die Kleine vor, die sich nun umdreht und in Richtung Wohnzimmer ruft: „Levi und seine Freundin sind da!“
Levent nimmt meine Hand: „Na komm, ich stelle dir den Rest meiner Familie vor.“

Moana, 15 Jahre alt, sehr zierlich und schlank, trägt ein blaues Kleid und ihr braunes, lockiges Haar bis zum Rücken.
Ihre jüngere Schwester Rubina ist ebenfalls gerade 15 Jahre alt geworden, Rhea erklärt mir auf mein erstauntes Gesicht, dass eine Schwangerschaft bei Meerleuten nur halb so lange dauert, wie bei Landmenschen. Rubina ist ein paar Zentimeter größer als ihre nur acht Monate ältere Schwester und sieht ihr so ähnlich, dass sich die beiden in der ‘Öffentlichkeit’ sogar als eineiige Zwillinge ausgeben können.
Danach kommt die zehnjährige Tallulah. In ihr erkennt man sofort ihren Vater wieder, sie ist ein bisschen pummelig und hat dunkelblondes Haar, wie es Marinus vor einigen Jahren auch gehabt haben muss, bevor es sich langsam mit weißen Streifen durchzog.
Oceanne, die jetzt damit beschäftigt ist, die Wasserschneken aus dem Becken zu sammeln und sie zurück ins offene Meer zu bringen, ist die einzige der Geschwister, die die blau-grauen Augen des Vaters geerbt hat.
“Warum heißt sie Oceanne? Ich meine, ihr habt alle… eher ungewöhnliche Namen, aber Oceanne ist doch in Frankreich recht gebräuchlich.”, erkundige ich mich.
Marinus beantwortet meine Frage.
“Traditionell haben wir Namen, die etwas mit Wasser zu tun haben. So haben wir uns früher untereinander besser erkannt. Tallulah beispielsweise heißt ‘sprudelnde Quelle’, Rhea ist griechisch für ‘fließendes Wasser’, Rubina heißt ‘Wasserfall’ und Moana ‘das unendliche Meer’. Marinus heißt ‘der, der vom Meer kommt’ und Levent ‘gutmütiger, aus dem Meer Geborener’. All diese Worte gehören zu unserer Ursprache, ähnlich eurem Latein. Als Oceanne geboren wurde, wollte Rhea einen französischen Namen, da sie Französin ist, ich einen „klassischen“. Wir einigten uns auf Oceanne.”
„Hey, Mirja ist da.“, Levent, der vor dem Wasserbecken kniet und sein Halstuch neu einweicht, deutet auf eine junge, hübsche Frau die von außen ans Fenster klopft. Neben ihr steht ein lächelnder junger Mann mit Dreitagebart.
Tallulah läuft in den Flur, um zu öffnen.
Levents älteste Schwester umarmt Rhea und Marinus, dann sammelt sich die ganze Familie um ihren Mann, welcher ein kleines Baby auf dem Arm trägt.
Sofort wird eine Wanne mit Meerwasser gefüllt und der Kleine hineingelegt.
„Levent! Willst du mir nicht dein Mädchen vorstellen?!“, ruft sie und wirft ihr dunkles Haar zurück.
„Und du mir dein Kind?“
“Mirja, schön, dass du gekommen bist.”, Rhea strahlt über das ganze Gesicht. “Endlich sehe ich meinen ersten Enkel, ich wäre ja so gern bei der Geburt dabei gewesen!”
“Er ist erst vor vier Tagen auf die Welt gekommen”, erklärt mir Levi leise.
Ich sehe mir den Kleinen an. Er ist wahnsinnig niedlich. Jetzt, wo er bis zum Kinn im Wasser liegt hat auch er ganz dünne Schwimmhäute zwischen den zarten Fingern.
“Hat er denn mittlerweile einen Namen?“, fragt Marinus.
“Felix.”
“Ein traditioneller Name wäre mir lieber gewesen.”, brummt Levents Vater und zwinkert mir zu.
Der junge Mann an Mirjas Seite kramt in seiner Hosentasche nach einem Zettel, auf welchem steht: ‘Mon fils s‘apelle Felix Marinus’ und dann noch einmal auf Deutsch ‘Mein Sohn heißt Felix Marinus’.
“Ist das wahr?” Marinus lacht so, dass sein ganzer Bauch wackelt. “Habt ihr das gehört, er heißt wie ich!”
“Das ist Pierre, Mirjas Partner, er ist stumm.”, wird er mir von Oceanne vorgestellt, die mittlerweile aus dem Wasser geklettert ist, um ihre Schwester zu begrüßen.
Auch Pierre gibt mir die Hand und lächelt mir zu.
“Aber nun genug von dem Baby! Es gibt noch mehr Neuigkeiten. – Du bist Klara, nicht? Ich hätte nie geglaubt, dass ausgerechnet in unserer Familie mal so etwas passiert.”, sagt Mirja und kommt auf mich zu.
“Ist das schlimm?”, frage ich.
“Nein, nein, gar nicht, es ist nur etwas ganz Besonderes.”
“Deswegen wollte ich auch noch einmal mit euch sprechen.“, sagt Rhea. “In einer Woche sind ja Osterferien und wir sind zu Doris eingeladen worden – Levent, hast du Klara von ihr erzählt? – Die Bekannte mit dem Landmann. Sie wohnen an der Ostsee, natürlich sollst du auch mitkommen, das heißt, wenn du das möchtest.”
“Wollen schon, aber ich denke, meine Eltern werden etwas dagegen haben.”, äußere ich meine Befürchtungen.
Eigentlich kann ich mir im Moment nichts Besseres vorstellen, als mit Levent und seiner Familie die Ferien zu verbringen, aber ich habe einiges zu tun. Ich muss meinen Vater weich klopfen.
Außerdem ist Levi ständig um mich herum und das ist, so gern ich ihn auch habe, manchmal entsetzlich nervig.
Als ich kurz im Bad im ersten Stock verschwunden bin, tigerte Levi die ganze Zeit unten im Flur hin und her, bis ich wieder die Treppe hinunterkam. Vermutlich wäre er sogar mit ins zur Toilette gekommen, hätte er nicht glücklicherweise immer noch einen Funken Anstand am Leib.

>> Papa, heute Nachmittag war ich bei einem Jungen aus meiner Schule und seiner Familie eingeladen <<, fange ich auf Französisch an.
“Halt, wir sprechen doch jetzt deutsch! Deutschsprachige Stunde, schon vergessen?”, unterbricht er mich. “Was ist denn das für ein Kerl, kennst du ihn gut?”
“Ja, klar, also: wir kennen uns schon ziemlich lange, ich habe bestimmt schon mal von ihm erzählt, Levi heißt er, also Levent.”
“Nein. Von dem hast du noch nie erzählt.”, sagt er bestimmt und drückt mit dem Daumen auf der Fernsehfernbedienung herum, um den Ton abzuschalten. So ein Mist! Ich kann einfach nicht gut genug lügen.
“Doch, doch, sicher. Sein Vater ist Deutscher, seine Mutter Französin. Du musst dich doch noch erinnern!”, versuche ich es wieder und drehe mein Gesicht weg.
“Wie heißt er denn mit Nachnamen?”
Oh Gott! Ich kenne seinen Nachnamen nicht!
“Äh M-Meer..mann.” Verdammt, ich hätte ‘Schmitt’ oder ‘Müller’ sagen sollen. Jetzt habe ich endgültig verspielt. Mein Vater schlägt die Beine übereinander und rückt seinen Sessel ein bisschen in meine Richtung.
“Du meinst Mersmann, oder?”, fragt er.
“Ja, sag’ ich doch!”
Oh Mann, es gibt den Nachnamen ‘Mersmann’? Puuuh - Wie viel Glück kann ich haben?
“Ich glaube, du hast mir wirklich schon einmal von diesen Mersmanns erzählt. Ja, weil ich mal einen Arbeitskollegen hatte, Holger Mersmann. Vielleicht sind sie ja verwandt…”, überlegt er.
“Also, das wäre jetzt aber ein komischer Zufall!”
“Möglich wäre es. So oft gibt es den Namen ja nicht. Also, was ist jetzt mit diesem Jungen? Du hast ihn besucht, ja?”
“Genau. Und sie machen in den Osterferien Urlaub in, äh, an der Ostsee und haben mir vorgeschlagen, mitzukommen.”
“Wer jetzt? Nur du und dieser Lewis?”, fragt er.
“Nein, natürlich nicht! Seine Eltern auch noch und wahrscheinlich auch noch seine Schwestern.”
Irgendwann einigen wir uns darauf, dass ich fahren darf, aber nur unter der Bedingung, dass er vorher mit den Eltern von „diesem Lewis” sprechen kann. Jetzt muss ich nur noch Rhea und Marinus erklären, dass sie einen neuen Nachnamen haben.

Gleich zwei Tage später sind die „Mersmanns“ bei uns zum Essen eingeladen. (Marinus hat gelacht, als ich ihm von meinem Nachnamendebakel erzählte. „Koers“, prustete er. „Falls du noch mal in Bedrängnis kommst.“)
Es gibt ‚pot au feu‘, was allen zu schmecken scheint. Außer Rhea und Marinus sind nur Levent, Moana und Rubina mitgekommen.
Als das Gespräch auf die Ferien fällt, halte ich kurz den Atem an.
Selbstverständlich würde man gut auf mich achtgeben, versichern Rhea und Marinus.
Ob es denn auch keine Mühe mache, mich mitzunehmen, fragt meine Mutter.
„Aber nein, im Gegenteil. Wir würden uns sehr freuen.“, antwortet Rhea.
„Also…“, fängt mein Vater an und sieht mich streng an, wobei er die rechte Augenbraue mehrmals hebt und senkt. Aha, ein Gespräch, bei dem ich nicht dabei sein soll. Vielleicht denkt er, dass wenn ich nicht mehr im Raum sein werde, Levents Eltern zugeben würden „Ja, wenn wir ehrlich sind – wir wollten es vor Ihrer Tochter nicht sagen, aber – es wäre ganz schrecklich, wenn sie mitkäme.“ Oder er will ihnen androhen, sie umzubringen, wenn sie mich und Levent auch nur zwei Sekunden unbeaufsichtigt allein ließen.
„Komm, ich zeige dir mein Zimmer.“, sage ich genervt und ziehe Levent mit mir. Moana und Rubina haben begonnen, auf dem Wohnzimmerteppich mit meiner kleinen Schwester Karten zu spielen.
Oben sehe ich mich rasch im Raum um. Für meine Verhältnisse ist es tatsächlich relativ ordentlich… Nur neben meinem Bett stapeln sich Kleidung, Bücher und Schulhefte.
So schnell wie möglich stopfe ich alles unter das Bett.
Levent hat es sich inzwischen auf meinem Schreibtischstuhl gemütlich gemacht und betrachtet mitleidig den verkrüppelten Kaktus auf dem Fensterbrett.
„Ach, dem geht’s gut“, winke ich ab.
„So sieht er auch aus.“, lacht er und hebt das Töpfchen spöttisch hoch. „Was meinst du, werden deine Eltern zustimmen?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich denke, unsere Chancen stehen recht gut, zumal sie nicht wissen, dass wir … äh … ein Paar sind.“
„Das heißt, ich sollte vor ihnen nicht das hier machen.“, murmelt er, steht auf und küsst mich zaghaft auf die Wange. „Oder das.“
Er küsst mich auf den Mund und zieht mich ein Stück näher zu sich heran. Mein Gleichgewichtsorgan ist außer Kraft gesetzt. Ich erwidere seinen Kuss und halte mich ein bisschen an ihm fest, da mir von Sekunde zu Sekunde schwindeliger wird. Irgendwann während unseres Kusses taumele ich zur Seite und wir landen auf meinem Flauschteppich.
„Huch.“, flüstere ich und Levent lacht.
„Wo dir schon mal schwindlig ist…“, sagt er und legt seine Lippen noch einmal sanft auf meine; dann höre ich meine Mutter von unten „Nachtisch!“ rufen.
„Nachtisch.“, wiederholt Levi, zieht seine Finger aus meinen Haaren und grinst. „Äh, das tut mir jetzt leid, du siehst ein bisschen wie ein Pudel aus.“ Seine Wangen sind gerötet und seine Augen irgendwie glasig. Ich krame meine Haarklemme aus dem Haufen unter dem Bett hervor und stecke meine Haare, die Levent in ein stilechtes Abbild des Krümelmonsters verwandelt hat, am Hinterkopf zusammen.
Dann gehen wir die Treppe hinunter um die kleinen Apfeltörtchen hinunterzuschlingen, die Rhea mitgebracht hat.

***
(1) Désolé -> ähnlich wie „Tschuldigung“ im Deutschen






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