Insel des Vergessens - Teil 4

Autor: Jana
veröffentlicht am: 23.05.2011


Sie spürte den Wind, der den Leib des Tieres umspielte. Spürte, wie sich die Muskeln in perfekter Harmonie bewegten, wie sie in der Gestalt des Wolfes über den Boden flog, als würde es keinen Grund geben, als würde der im schwarzen Fell gekleidete Körper fliegen. Wie ein Vogel. Sie spürte, wie das hechelnde Tier immer schneller und schneller wurde, wie sein Puls raste und das kräftige Herz bis zum Hals schlug. Sie spürte die Geschwindigkeit, spürte die Freiheit, spürte die Stärke des Körpers, der nicht ihrer war.
Sie roch durch die Schnauze des Biestes den salzig vertrauten Geruch des Meeres, das Laub, das Moos, das Klee, die Rinde der Bäume, die Blüten der Blumen auf der Wiese, das vom Nebel feucht gewordene, saftige Gras, den klaren, wunderbaren Duft des Nachtwind.
Es war wie jedes Mal, wenn sie den Wolf von der Leine ließ. Und als sie, in dieser tierischen Gestalt, oberhalb des Meeres auf einer Klippe angekommen war, blieb sie stehen und heulte dem nächtlichen Himmel entgegen. Ungebändigt, wild und für eine kurze Zeit so etwas wie frei.

Lange lag sie dort auf der Klippe und starrte auf das schimmernde Meer hinunter, beobachte den Mond, wie er sich verschwommen im salzigen, düsteren Wasser spiegelte, wie sich die Wellen sanft am Ufer brachen.
Der Platz war wie geschaffen für sie. Niemand konnte sie vom Strand aus sehen, denn sie lag flach auf dem Bauch und hatte nur den Kopf über den Rand der Klippen gelegt. Ihr schwarzes Fell war perfekt als Tarnung geeignet. Niemand würde einen Wolf dort oben vermuten, und wenn doch, würde keine Mensch den Weg durch das dichte, stachlige, widerborstige Gestrüpp bis hierher finden. Niemals.
Und von diesem Platz aus, konnte sie alles sehen, was sich an dem großen Sandstrand unter ihr abspielte. Ihr entging kein Geräusch, keine Bewegung, nicht einmal die wuselnde Maus, die sich bis dorthin verirrt hatte.
Das hier war ihr Reich.

Erst als die Sonne bereits aufging, rappelte sie sich auf. Müde schüttelte sie das schwarze, struppig schwarze Fell, reckte und streckten ihren Körper und warf noch einen letzten, kurzen Blick auf die aufgehende Sonne vor ihr. Dann wandte sie sich ab und suchte sich ihren Weg zurück nach Hause.
Dort angekommen versicherte sie sich, dass niemand in der Nähe war und verbannte den Wolf mit einer einzigen Willensanstrengung zurück.
Sie spürte, dass es mit jedem Mal schwerer wurde, sich über das Tier zu stellen, sich in dem Körper des schwarzen Biestes auszubreiten, ihn einzunehmen und ihn in die Knie zu zwängen. Im Gegensatz zu der Verwandlung von der menschlichen Gestalt zu der des Tieres, war dies eine einzige Qual, überhaupt erst die Transformation auszulösen. Es war einfacher, zu dem zu werden, was in ihre wütete, sie täglich ausrasten ließ, sie verrückt machte, als wieder zu genau dieser Person zu werden, die das Biest kontrollieren musste. Es tat dem Wolf seelisch weh, zurückgedrängt, in die hinterste Ecke verbannt zu werden. Und seine Schmerzen, ob physisch oder psychisch, waren auch die ihre.
Es lies den dunklen Teil ihrer Seele bluten. Jedes Mal. Und jedes Mal ein wenig schlimmer.






Viertes Kapitel
Langsam und geduckt schlich sie durch den Wald. Kein Ast brach unter ihrem Gewicht, kein Geräusch wurde durch ihre vorsichtigen Bewegungen verursacht. Ihre Ohren waren aufgestellt, ihre Muskeln bis zum Zerreissen gespannt. Sie wusste, dass ihr etwas folgte, dass etwas im weiten Bogen um sie herumschlich, um sich ihr von vorne zu nähern.
Eigentlich eine sinnlose Taktik. Es war normal, seinen Gegner von hinten zu überrumpeln, den Überraschungseffekt zu nutzen und ihn an der Kehle zu packen.
Doch in dieser Nacht hatte Catherine Rückenwind. Jeden Feind, der sich ihr von hinten näherte, jede seiner Bewegungen hätte sie schon aus Meilenweiler Entfernung erschnuppern können.
Und so waren ihre gesamten Sinne nutzlos. Sie konnte weder etwas riechen, noch sehen, noch hören. Ihr Gegner war nahezu Unsichtbar, während er jeder ihrer Bewegungen riechen und erahnen konnte.
Verdammter Mistkerl.
Als sie etwas einige Meter vor sich zu erkennen glaubte, hielt sie in ihren Bewegungen inne und duckte sich auf den feuchten Waldboden. Ihre Krallen waren ausgefahren, ihre Sinne geschärft und sie war bereit, jederzeit einen Überraschungsangriff abzuwehren.
Doch minutenlang geschah einfach gar nichts. Keine verräterischen Bewegungen im Unterholz, kein Geruch, kein Geräusch.
Ungeduldig schlug sie mit dem Schwanz. Sie musste nach Hause. Bald würde die Sonne aufgehen und dann würde ihr Bruder bemerken, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Er würde sich wahnsinnige Sorgen machen und wenn sie dann allmählich eintrudelte, würde er ausrasten vor Zorn. Er würde sie nicht verstehen, warum sie dem Drang der Verwandlung wieder nachgegeben hatte. Er würde sie anbrüllen und sie müsste um ihre Kontrolle kämpfen. Im schlimmsten Falle würde sie auf ihn los gehen. Oder er auf sie. Sie würden sich beißen und kratzen, sich am liebsten blutig schlagen. Und am Ende würden sie Blut weinen und sich in die Arme fallen...
Aus dem Augenwinkel sah Catherine wie sich eine kleine, flinke Gestalt auf sie stürzte. Ihre Augen blitzten auf, sie bleckte die Zähne und sprang unter ihren Angreifer hinweg, vollführte eine hundertachtzig Graddrehung und nutzte den Schwung des Gegner aus, der ihn zu Boden stürzen ließ. Sie setzte mit einem kraftvollem Sprung nach und landete über der kleinen Gestalt, die sie mit vor entsetzen geweiteten Augen anstarrte. Sie schrie auf: „Oh Gott, warte doch, oh warte doch! Bitte friss mich nicht!“
Verdutzt hielt Catherine inne und beäugte den Zwerg, der unter ihr lag. Ein Zwerg?
„Hab' Erbarmen! Lieber Wolf, hab Erbarmen! Ich schmecke nicht! Oh friss mich nicht! Oh bitte, ich flehe dich an! Verschone mich!“
Zögernd nahm sie ihre Vorderpfoten von dem kleinen Mann und setzte sich vor ihm auf den Boden. Mit schräg gelegten Kopf beäugte sie ihn und beobachtete, wie er sich mühsam vom Boden aufrappelte.
'Ich werde dich nicht fressen.'
„Wer spricht? Oh Gott, wer spricht hier?“ Blind vor Panik wirbelte der Zwerg um seine eigene Achse, stolperte über seine eigene, viel zu groß geratene Füße, fiel zu Boden, versuchte im selbem Moment sich wieder auf die eigenen Stummelbeine zu kämpfen und schrie mit vollem Entsetzen um sein Leben.
Schmunzelnd beobachtete Catherine den hilflosen Zwerg und beschloss, der Panik ein Ende zu bereiten. Sie erhob sich von ihrem Hinterteil, schnappte das zappelnde Etwas, das mittlerweile mit dem Bauch auf dem Boden lag, am Nackenkragen und hob ihn empor. Wild um sich schlagen und tretend verfluchte er schließlich Gott und die Welt.
'Jetzt sei schon still! Dir droht keine Gefahr! Ich bin ein harmloser Wolf, der seine Gedanken zu dir schickt um deinen von Panik vernebelten Verstand zu klären.'
Doch es half nichts. Er zappelte und schrie weiter, schaffte es sogar einen Schlag auf ihrer Schnauze zu platzieren, sodass sie aufheulte und ihn fallen ließ.
Gleich darauf wollte er bereits auf allen vieren davon kriechen, doch Catherine warf ihn sanft auf den Rücken und platzierte vorsichtig, um den kleinen Mann nicht ernsthaft zu verletzen, eine Vorderpfote auf dessen schmale Brust, sodass er sich nicht mehr zu rühren wagte.
'Wenn du nicht auf der Stelle still bist, fresse ich dich mit Haut und Haar!' Knurrte sie und taxierte ihn mit ihrem Blick.
Das wirkte. Der Zwerg atmete einige Minuten tief durch, brabbelte irgendwelche Worte in einer anderen Sprache, die sie nicht verstand, und hatte sich nach einigen Minuten zumindest soweit beruhigt, dass er ihr den Eindruck vermittelte, zuhören zu können, wenn sie etwas sagte.
'Was verleiht dir den Mut, mich zu verfolgen, zu umgehen und mich anzuspringen? Du hast doch nicht gedacht, du könntest einen Wolf überrumpeln?' Als er nicht antwortete, wurde ihr klar, dass er davon durchaus überzeugt war. Sie bleckte die Zähne und stieß ein knurrendes Geräusch aus, das einem Lachen ähnelte. 'Hätte man mir nicht von meiner Geburt an eingetrichtert, selbst vor den kleinsten, am harmlosesten wirkenden Geschöpfen dieser Welt Respekt zu haben, würde ich sagen, du seist erbärmlich und einfach nur so klug, wie man es mit einem Hirn in der Größe einer Nuss sein kann. Doch da ich weiß, dass selbst Zwerge gefährlich werden und einem das Leben zur Hölle machen können, werde ich das nun einfach... für mich behalten.' Das Grinsen, das die scharfen, spitzen Zähne des Wolfes zum Vorschein brachte, sah wohl eher furchterregend als herzhaft aus, denn der Zwerg hatte vor Angst aufgehört zu atmen und war nicht einmal dazu in der Lage, zu schlucken. Sein Gesicht war starr, bis auf der Panik und des Entsetzen ausdruckslos. Leichenblass. Jegliche Farbe war aus dem kleinen Kerl gewichen, jegliches Leben, obwohl er noch nicht einmal tot war. Er lebte, doch er wirkte tot.
Catherine, in der Gestalt eines Menschen, wäre in dieser Situation und diesem Moment sicherlich vor Mitleid zerflossen, und hätte den armen, kleinen Mann anstandslos laufen lassen, hätte ihn sogar mit zu sich nach Hause genommen, hätte ihm etwas zu essen und zu trinken gegeben. Hätte sich schon fast liebevoll um ihn gekümmert, damit er sich von seinem Schock erholen konnte.
Doch der Wolf, in dessen Körper sie nun eingesperrt war, erfreute sich an dem Anblick des hilflosen Zwerges, der vor Panik und Entsetzen gelähmt war. Er war bereit, ihn zu töten, ihn zu zerfetzen, denn er hatte gewagt ihn unvernünftigster Weise anzugreifen. Das schrie nach Rache. Und meistens roch diese Art von Rache, nach Tod.
Allerdings war Catherine immer noch diejenige, die die Fäden in den Händen hielt. Sie würde den Trieben des Wolfes nicht nachgeben. Sie würde den kleinen Zwerg laufen lassen.
Als er Catherines Entschlossenheit spürte, knurrte der Wolf, woraufhin sein Opfer unter ihm erschrocken zusammenzuckte.
'Ist schon ok.', vermittelte Catherine dem kleinen Mann, um ihn zu beruhigen. 'Wenn du nicht davon rennst, werde ich dich loslassen. Wirst du bleiben?'
Zaghaft nickte er, doch seine wild umherirrenden Augen verrieten Catherine, dass er sich dabei nach einem Fluchtweg umschaute
'Wenn du davon läufst, hast du keine Chance, Kleiner. Also schlag dir das prompt aus deinem kleinem Spatzenhirn', meinte sie ernsthaft. 'Wenn du davon läufst, zwingst du mich quasi, dich zu fressen. Also beherrsche dich.' Dies war keinesfalls eine schlichte Drohung. Eine fliehende Beute würde den Wolf nur noch mehr anstacheln, ihn aggressiver machen, ihn herausfordern. Er würde dem Zwerg hinterher jagen.
In solchen Situationen ging der Wolf manchmal mit ihr durch. Dabei wurde die Häufigkeit, mit der dies passierte, von Woche zu Woche immer mehr. Es machte ihr Angst. Doch bevor Catherine solchen oder ähnlichen Gedanken weiter nachgehen konnte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Zwerg zu.
Dieser stierte mit angstvoll geweiteten Augen vom Boden hinauf in die leuchtenden Augen des Wolfes und nickte kaum sichtbar. „I-i-i-ch w-w-w-w-erde d-d-d-derartiges nicht u-u-u-unternehmen. Ver..V-V-Versprochen!“, er stotterte zwar, doch immerhin hatte er endlich etwas vernünftiges von sich gegeben.
'Dann lasse ich dich nun los', sagte sie und nahm ihre Pfote von seiner Brust.
Sobald er wieder auf seinen eigenen zwei Beinen stand, zwar etwas zittrig und verängstigt, musterte der Zwerg den schwarzen, großen Wolf, der vor ihm stand und ihn mit angespannten Muskeln beobachtete, bereit ihn zu schnappen, falls er es wagte, sich aus dem Staub machen zu wollen.
'Wie heißt du?'
„F-f-f-f-r-e-d-dy.“
'Nun gut... Freddy. Du kannst gehen. Aber wage es niemals wieder einen Wolf anzugreifen.'
Mit diesen Worten veränderte sich Freddys Haltung. Er richtete sich zu seiner vollkommenen... Größe auf, reckte sein Kinn dem Wolf entgegen, stemmte die Fäuste in die schmale Hüfte und sagte ohne ein Hauch von Furcht in der Stimme: „Du bist kein Wolf, gib es zu! Du bist kein Wolf!“
Einen Moment versteifte sich Catherine. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie kam der kleine Mann auf so eine Behauptung? Eine Behauptung, die sogar durch und durch zutreffend war? Wie konnte er sie erkennen?
Doch dann raffte sie sich zusammen, bleckte die Zähne und knurrte. 'Ich bin kein Wolf? Und wie kommt es, dass ich messerscharfe Zähne habe und ein Fell, das so dicht ist wie der Wald, in dem wir stehen? Wie kommt es, dass ich auf vier Pfoten laufe und knurre, sobald mir etwas nicht passt?'
„Du redest mit mir! Schickst deine Gedanken in meinen Kopf... du bist kein Wolf, gib es zu, du bist keiner!“
'Eigentlich dachte ich, wärst du viel zu panisch auf einen derartigen Gedanken zu kommen. Du bist gar nicht so dumm.'
Der Zwerg wirkte verärgert, als er die Nase rümpfte und sie aus blitzenden Augen anstarrte. „Hab' halt doch kein Hirn, das so klein ist, wie eine Nuss!“
'Wie dem auch sei... Geh jetzt Freddy, geh nach Hause.' Damit wollte sich Catherine abwenden und ihren Weg nach Hause fortsetzen, doch zu ihrem Erstaunen, weigerte sich der Pimpf. „Nein!“
'Wie nein? Ich sagte du kannst gehen. Also geh', bevor ich es mir anders überlege!'
„Nein!“, wiederholte er mit felsenfester und selbstsicherer Stimme.
'Du machst mich wahnsinnig, Zwerg! Zieh ab!', knurrend und mit gebleckten Zähnen duckte sie sich zu ihm hinunter. Langsam trat sie auf ihn zu, umgarnte ihn, stieß ihn mit der Pfote. Doch er rührte sich nicht vom Fleck. Er verzog nicht einmal eine Miene, als hätte es den zitternden, kleinen Angsthaufen nie gegeben.
Also entschied sich Catherine ihn ohne ein weiteres Wort stehen zu lassen. Sie wandte sich von ihm ab, allerdings ohne unachtsam zu werden. Vielleicht hatte er nur auf eine ähnliche Gelegenheit gewartet hatte, um sie erneut zu attackieren.
Doch nichts dergleichen geschah. Das einzige, das passierte, war, dass er ihr folgte.
Er folgte ihr auf Schritt und Tritt.
Zornig fuhr der schwarze Wolf herum, die Ohren zurückgelegt und die Zähne zum ersten Mal wahrlich furchterregend gebleckt. Das Knurren, das aus der Kehle des Tieres stieg, klang nicht mehr wie ein Lachen, klang nicht mehr nach scherzen zumute. Nichts klang mehr danach, dass Catherine den Wolf an der Leine hielt. Viel mehr schien es, als hätte sie ihn losgelassen.
'Was willst du?' Der Wolf zitterte, denn er wollte auf den kleinen, ungehorsamen Mann los gehen, ihn kein weiteres Mal verschonen. Doch er konnte nicht, denn er wurde von Catherines stählernen Ketten daran gehindert.
„Du hast mich verschont, obwohl ich dich angegriffen habe. Du hast mich verschont, ein anderer hätte mich auf der Stelle getötet. Ich verdanke dir mein Leben. Ich schulde dir mein Leben. Lass mich dir danken.“
'Es wäre Dank genug, wenn du auf der Stelle aus meinem Sicht-, Riech-, und Hörfeld verschwinden würdest. Und zwar hurtig!'
„Das kann ich nicht. Ich stehe in deiner Schuld. Lass mich dir danken“, wiederholte er und klang dabei nicht wie ein Zwerg, sondern wie ein penetranter, sturer Esel. Iah.
'Du kannst mir nicht danken', knurrte sie und schnappte nach ihm. Doch er wich nicht vor ihr zurück. „Du wirst mir nichts tun. Lass mich dir danken.“
'Du penetranter, kleiner Dummkopf!' Mit angespannten Muskeln und ohne ihn daran hindern zu können, setzte der Wolf zu einem Sprung an und schwebte wie ein schwarzer Schatten auf den kleinen, unschuldigen Mann zu.





Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz