Das Ende des Schweigens - Teil 4

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 09.05.2011


Der Teil ist etwas länger als der andere, hoffe er gefällt euch :)

„Yo, Miss C.“, sagte Lou, kaum dass sie ins Taxi gestiegen war. „Schöner Sonnenuntergang, finden Sie nicht?“
Sie nickte abwesend.
„Wie spät ist es?“
„Viertel nach sechs. Um zehn Uhr hab ich Feierabend“, antwortete Lou.
Kiara sah ihn an. „Keine Sorge, so lange brauchen wir nicht. Fahr los, über die Bay Bridge.“
Lou trat aufs Gaspedal und zog eine Augenbraue hoch. „Sie haben aber einen weiten Weg zurückgelegt“, sagte er. „Von Marin City zur Yerba Buena…“
Kiara nickte. Und es geht noch weiter, dachte sie. Als sie über die Brücke fuhren, bekam sie ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch. Sie war so lange nicht mehr bei ihren Eltern gewesen.
Das Meer unter der Brücke schlug gegen die Pfeiler. Es war wahnsinnig laut.
„Und jetzt?“, fragte Lou, als sie auf dem Festland angekommen waren.
„Emeryville, San Pablo Avenue an der Emery Secondary School”, sagte sie ohne zu zögern. Lou nickte.
„Okey dokey.“
90,78 Dollar, zeigte das Taxameter. Kiara zählte ihr Geld. Sie hatte noch 108,9 Dollar. Viel würde nicht mehr übrig bleiben, wenn sie bei ihren Eltern angekommen war. Plötzlich durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn die beiden tot waren? Oder wütend, weil sie sich so lange nicht mehr gemeldet hatte? Was, wenn sie Kiara nicht aufnehmen wollten? Lous Stimme riss sie aus den Gedanken.
„Yo, da sind wir, Miss C.“ Er zeigte auf die Schule und dann auf das Straßenschild. San Pablo Avenue. Kiara runzelte die Stirn. Die Häuser sahen hier alle gleich aus. Sie wusste zwar noch die Adresse ihrer Eltern, doch hier wurde in alle den Jahren garantiert umgebaut.
„Das macht dann 95 Dollar und 46 Cent“, sagte Lou. Kiara zog ihr Geld aus der Tasche und gab ihm den Betrag. Lou belohnte sie mit seinem Pferdegrinsen. „Danke, Miss C. Und einen schönen Tag noch!“
Kiara schaute ihn einen Moment an. Dann zog sie einen Mundwinkel nach oben und sagte: „Lou, du bist ein komischer Vogel. Aber ich mag dich.“
Sie stieg aus. Noch bevor sie die Straße erreicht hatte, hörte sie Lous dröhnendes, kehliges Lachen. Dann das Quitschen von Reifen.
Sie musste grinsen. Verrückter Kerl. Für einen Moment hatte sie tatsächlich ihre Probleme vergessen. Doch jetzt holte sie die Wirklichkeit ein. Sie stand allein in Oakland und hoffte, dass ihre Eltern überhaupt noch lebten. Sie ging über die Straße auf einen schmucken kleinen Vorgarten zu, in dem eine alte Frau gerade dabei war, ihre Blumen zu gießen. „Entschuldigung“, sagte Kiara. Die Frau ging unbeirrt weiter ihren Arbeiten nach. Kiara räusperte sich. „Entschuldigung!“
Jetzt drehte sich die Frau um und trat an den Gartenzaun. „Ja, was ist?“, fragte sie. Kiara lächelte. „Wissen Sie vielleicht, ob hier in der Nähe ein Paar namens Anderson lebt?“
Die Frau schien einen Moment nachzudenken. Schließlich nickte sie und deutete auf ein Haus auf der anderen Straßenseite. „Evelyn und George Anderson, richtig?“, fragte sie. Kiara nickte.
„Ja die beiden leben dort in dem blassgelben Haus. Sehr nette Leute.“
Kiara lächelte dankbar. Sie lebten also noch. „Vielen Dank“, sagte sie und ging auf das Haus zu. Merkwürdigerweise wurden ihr Hände feucht.
Sie klingelte. Schritte. Stimmen. Dann wurde die Tür geöffnet. Kiara hielt den Atem an.
Vor ihr stand ein großer, grauhaariger, stämmiger Mann zwischen fünfzig und sechzig. Er schaute sie unverwandt an. „Ja?“
Kiara strengte sich an. Wer war dieser Mann? Bestimmt nicht ihr Vater. Den hatte sie kleiner in Erinnerung.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Mann noch einmal und hob eine seiner buschigen Augenbrauen. Jetzt erkannte Kiara ihn! Natürlich!
„Onkel Jacob!“, rief sie freudig und fiel ihm um den Hals.
„Was-wie?“ Der Mann packte sie an den Armen. Anscheinen erkannte er sie nicht. „Ich bin’s, Kiara! Erkennst du mich denn nicht?“
Plötzlich weiteten sich seine Augen. „Kiara!“, rief er und diesmal war er es, der sie umarmte. „Was machst du denn hier? Ich hab dich so lange nicht mehr gesehen!“ Kiara wurde ernst.
„Sind Mom und Dad da?“, fragte sie. „Ich möchte es gerne euch allen erzählen.“
Er sah sie überrascht an, doch ihre plötzliche Ernsthaftigkeit lies ihn nicken.
Kiara ging ins Wohnzimmer. Das Haus war noch genau so, wie sie es kannte.
Auf dem Sofa saßen die beiden. Ihre Eltern, die sie so lange nicht mehr gesehen hatte. Obwohl sie in der Tür stand, unübersehbar, schienen die beiden sie nicht zu bemerken. Ihre Mutter stand gerade mit ihrer Kaffeetasse auf. Kiara räusperte sich lautstark. Mrs. Anderson sah sie an und blieb wie angewurzelt stehen. Die Augen weit aufgerissen und den Mund offen, stand sie so da, bis ihr schließlich die Kaffeetasse aus der Hand glitt und der restliche Kaffee den Teppich einweichte. Sie schien das gar nicht bemerkt zu haben. Als auch Kiaras Vater vom Sofa aufsprang, löste sie sich aus ihrer Starre und eilte auf ihre Tochter zu.
„Kiara?“, fragte sie leise und berührte ihre Wange. Kiara nickte. „Hey, Mom“, sagte sie und konnte die Tränen nicht mehr halten. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nicht zu weinen, doch jetzt, wo sie ihre Eltern sah, konnte sie nicht anders. Alle weinten, während sie sich umarmten, auch George Anderson.
„Kiara, wo warst du denn so lange?“, fragte ihre Mutter immer noch schluchzend.
Ihre Tochter seufzte. „Es ist eine harte Geschichte, Mom. Setzt euch.“
Die beiden schienen zu merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie setzten sich wortlos, jedoch mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht. Kiara betrachtete die beiden. Ihre Mutter war, wenn auch schon fünfundfünfzig, immer noch groß und schlank. Wie ihr Bruder, Onkel Jacob. Kiara sah ihren Vater an. Die Zeit hatte ihn nicht sonderlich verschont. Er hatte nie wirklich Augenringe gehabt, doch jetzt, nach all den Jahren, hingen sie tief und träge unter seinen Augen. Ein müder Ausdruck. Er war sechs Jahre älter als Evelyn Anderson und so sah er tatsächlich auch aus. Kiara fragte sich, ob das von der Sorge um sie kam. Immerhin hatten sie nahezu nie Kontakt gehabt, nach der Hochzeit.
Als alle versammelt waren, setzte sich Kiara auf einen Stuhl und erzählte die ganze Geschichte. Von den unzähligen Verletzungen, der Tyrannei ihres Mannes und der ständigen Angst, in der sie leben musste. Im Laufe der Erzählung füllten sich die Augen ihrer Mutter mit Tränen und auch die Gesichter der beiden Männer nahmen einen entsetzten Ausdruck an. Als Kiara geendet hatte, schlug Evelyn die Hände vor die Augen und weinte. Ihr Mann saß regungslos da und schüttelte den Kopf. „Aber er…er war doch so charmant und so- nett“, sagte er leise, als wolle er sich selbst einreden, dass die Geschichte nicht stimmte. Einfach nicht stimmen konnte! Kiaras Augen wurden feucht.
Onkel Jacob sah sie entgeistert an. „Warum hast du uns nie davon erzählt?“
Sie stieß ein kurzes bitteres Lachen aus. „Er lies mich nie telefonieren“, sagte sie. „Er hielt mich gefangen, wie ein…ein Tier!“ In ihr stieg der ganze Hass gegen Jack auf.
„Jack the Ripper“, murmelte sie.
Ihre Mutter stand auf und wischte sich die Nase ab.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte sie tonlos. Wahrscheinlich war das ein schwerer Schock für sie.
Eine Pause entstand. Dann sagte Kiara entschlossen: „Ich hole mir meine Tochter zurück!“

Kommis und Kritik :)





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