There's still something left to save

Autor: MusicJunkie91
veröffentlicht am: 26.04.2011


Prolog

Es war die Routine, die sie nervte und ermüdetet. Jeden Morgen aufstehen, Schule, immer die gleichen Leute, langweiliger Unterricht, ein paar Zigaretten in der Pause, ein paar Bissen von ihrem Brot. Irgendwann nach Hause fahren, ins Bett legen, Laptop hochfahren und chatten. Abendessen. Ein Buch lesen. Schlafen.
Ihre Freunde riefen sie nur noch selten an, sie mussten sich jetzt aufs Abi vorbereiten. Sie war dafür nicht schlau genug gewesen. Und wenn sie was unternahmen, dann gingen sie in die Diskothek in der kleinen Stadt, in deren Nähe sie wohnten. Sie mochte es da nicht. Die Musik war ihr zu laut und zu elektronisch, die Menschen zu betrunken. Sie langweilte sich dort. Während ihre Freundinnen sich amüsierten und von den heißesten Jungs angesprochen wurden, stand sie immer in der Ecke, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Sie war eben nicht sonderlich hübsch und ihre Figur ließ auch zu wünschen übrig. Zu große Brüste und für alle, die jetzt die Stirn runzeln: Ja, das gab es. Ständig plagten sie Rückenschmerzen und auch ihr Kopf tat weh deswegen. Außerdem hatte sie einen Bauch, viel zu stämmige Beine, eine zu breite Hüfte, zu breite Schultern. Ihre Haare, deren Farbe sie durch das ständige Färben nicht wirklich definieren konnte, lagen platt an ihrem Kopf, ihre Lippen waren zu dick und ihre Augenbrauen ziemlich buschig. Sie hatte es mit Zupfen versucht, aber sie waren so schnell wieder nachgewachsen, dass es sich nicht wirklich lohnte. Durch ihre Brille sah man sie eh nicht gut und sie hatte sich außerdem vor kurzem ein Pony schneiden lassen. Damit bedeckte sie ihre Augenbrauen so gut, wie es ging.
Im vorigen Jahr war ihre Oma gestorben und kurz darauf ihr bester Freund. Das war vor ungefähr elf Monaten und es ging ihr deswegen immer noch dreckig, aber sie sprach nicht mehr darüber. Sie wollte nicht, dass jeder wusste, dass sie nicht so stark war, wie sie tat. Sie wollte nicht, dass man Mitleid mit ihr hatte oder sie zu einem Psychologen schickt.
In der Schule war sie schlechter geworden, denn wie schon einmal erwähnt, war sie nicht sonderlich schlau, wobei ihr viele sagten, dass sie durchaus intelligent war, nur eben viel zu faul. Und das war sie wirklich. In ihrem Zimmer konnte man keinen Fuß vor den anderen setzten und in ihr Bad ging niemand mehr. Sie hatte einfach keine Lust aufzuräumen. Sie dachte, es wäre unnötig, da es ja eh wieder unordentlich wird.
Sie war müde.
Unglaublich müde.
Sie wollte den ganzen Tag nur noch schlafen, aber das ging natürlich nicht. Sie wusste nicht, woran es lag. Am Wetter bestimmt nicht, denn seit ein paar Tagen schien ununterbrochen die Sonne. Aber es war ihr auch egal, eigentlich.
Die Osterferien zogen sich hin. Kein Internet, kein Telefon. Keine Freunde, die Zeit für sie hatten.
Als dann die Schule wieder begann, schrieb sie zwei Klausuren. Beide verhaute sie. Auch die Klausuren, die sie zurückbekam, waren nicht unbedingt gut. Sie lebte die nächsten Wochen vor sich hin, ging auf das Konzert einer ihrer Lieblingsbands. Die Sommerferien verbrachte sie entweder Zuhause oder im Schwimmbad.
Ihr ging es kein bisschen besser. Sie war sich sicher, dass sich das nicht so schnell ändern würde.


Kapitel 1

„Alessa, jetzt steh auf! Du musst in die Schule!“ „Will nicht. Kopfschmerzen.“ „Das sagst du jeden Morgen. Du fehlst nächste Woche eh wieder! Wenn du auf dieses Festival fährst.“
Oh ja. Das Festival. Dieses Jahr würde sie zum ersten Mal auf ein Festival fahren. Das Open Flair in Eschwege. Unzählige Bands kamen und die meisten davon wollte sie hören, was ihr aber mit Sicherheit nicht gelingen würden. Mühsam quälte sie sich aus dem Bett. Die Sommerferien waren langweilig, aber trotzdem zu schnell vorbei gewesen. Sie hatte keine Lust in die Schule zu gehen, sie hatte keine Lust auf die Leute, die bei ihr in der Klasse geblieben waren. Okay, es gab zwei Ausnahmen, zwei Mädchen, mit denen sie das letzte Jahr eine tolle Freundschaft aufgebaut hatte. Trotzdem. Die ganzen Tussen in ihrer Klasse, die nichts anderes als Party im Kopf hatten oder die ach so süßen Jungs, mit denen sie flirteten. Vielleicht lag es an dem Altersunterschied, sie war ein, zwei Jahre älter als die anderen. Siebte Klasse wiederholt, von der zehn in die neunte Klasse Realschule zurückgegangen. Jetzt Fachoberschule. Sie hasste es. Diese ganzen lahmen Sachen. Und sie wusste auch nicht, was sie werden wollte. Sie wollte keinesfalls stundenlang in einem Büro sitzen. Dessen war sie sich bewusst. Aber sonst? Sie hatte keine Hobbies, die sie zum Beruf machen konnte.
Unter der Dusche fühlte sie sich wie immer unglaublich wohl. Während sie sich dort räkelte, bekam sie am Rande mit, wie ihre Mutter und ihr Bruder sich mal wieder stritten. Das gehörte zum Alltag, im ganzen Haus herrschte ein aggressiver Umgangston. Trotzdem liebten sie sich alle. Sie waren immerhin eine Familie, auch wenn jeder seinen Dickkopf durchsetzten wollte. Alessa trocknete sich ab, besah sich im Spiegel. Seit neuestem schmückte ein Piercing ihre Unterlippe. Es gefiel ihr. Solange hatte sie es sich gewünscht, endlich hatte sie sich getraut. In Gedanken versunken, spielte sie eine Weile daran rum, putzte sich anschließend die Zähne, zog sich an, packte ihre Tasche und verließ, nach einem Blick auf die Uhr, das Haus, gehetzt, ohne Frühstück und mit nassen Haaren.
Sie würde bald zwanzig werden und fuhr noch mit dem Schulbus. Sie konnte sich kein Auto leisten, kein Geld für Benzin oder Versicherung. Zwar arbeitete sie seit knapp einem halbem Jahr in einer Kneipe, aber der Verdienst war nicht hoch genug für so etwas.
Im Bus setzte sie sich ihre Kopfhörer auf, drehte die Musik auf und ließ sich gegen den Sitz sinken. Ihre Lieblingsband auf voller Lautstärke. Rise Against, eine der Bands, die beim Open Flair auftreten würden, der Hauptgrund, weshalb sie hinfuhr. Sie hatte sie dieses Jahr schon einmal live gesehen und es war großartig gewesen. Ein winziges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Wenn sie Musik hörte, dann kamen die Gefühle in ihr hoch, die sie sonst nicht spürte. Sie hatte sich angewohnt alles zu unterdrücken, aber bei bestimmten Liedern war das nicht möglich. Am liebsten wär sie aufgesprungen und durch den Bus getanzt, aber sie galt eh schon als Freak, also ließ sie es. Nicht, dass sie es stören würde, dennoch wäre sie gern unauffälliger. Dieser Wunsch ließ sich aber nicht erfüllen, außer sie nahm ungefähr dreißig Kilo ab und ließ sich eventuell noch ihre Brüste verkleinern.
An der Schule angekommen stieg sie aus und begrüßte freudig eine ihrer Freundinnen. Sie hieß Mia. Alessa mochte Mia, sie war unglaublich unkompliziert, offen und ehrlich. Und witzig, oh ja. Sie mochte witzige Menschen. Schon immer. Sie selbst war auch sehr humorvoll und lachte viel, auch wenn sie nicht glücklich war. Aber in manchen Situationen kam sie nicht umhin. Und jedes Mal, wenn sie lachte, fühlte sie sich für den Augenblick gut. Einfach nur gut. Und Mia brachte sie oft zum lachen, mit ihrer Naivität und Verpeiltheit. Und ihre andere Freundin aus der Klasse, Mariella, war auch witzig. Sie kam gerade auf die beiden zu und lachend umarmten sich die drei. In den Sommerferien hatten sie sich nicht allzu oft gesehen, da sie drei verschiedene Freundeskreise hatten und es irgendwie nie wirklich gepasst hatte. Aber jetzt sahen sie sich und das war alles was zählte. Jede erzählte schnell, was sie in den Ferien gemacht hatte, dann suchten sie ihre Klasse. Es dauerte eine Weile, das Schulgelände war groß. Doch sie fanden sie und traten ein. Man sah bekannte Gesichter, noch vom letzten Jahr, aber auch ein paar Neue waren dabei. Mia, Mariella und Alessa suchten sich Plätze, in der dritten Reihe. Mia saß in der Mitte, rechts von ihr Mariella und links Alessa. Der Platz neben Alessas anderen Seite blieb frei, es war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Sie war sich darüber bewusst, dass niemand gerne neben ihr saß, wenn er sie nicht ein wenig kannte, allein wegen ihrer Körperfülle. Aber trotzdem tat es immer wieder weh. Ein paar Minuten später betrat die Klassenlehrerin das Zimmer, hektisch wie eh und je und sah sich um. „Da es doch ein paar neue Mitschüler gibt, schlage ich vor, dass sich jeder nochmal vorstellt. Name, Alter, was ihr nächstes Jahr macht. Okay. Wir fangen vorne an“, sagte sie und schaute eine Jungen in der ersten Reihe erwartungsvoll an.
Das war der Moment, in dem Alessa abschaltete. Sie starrte auf ihr Blatt und malte ein paar Kringel. Sie wusste doch gar nicht, was sie machen würde. Sie hatte sich irgendwann überlegt Buchhändlerin zu werden, aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Studieren hatte sie keine Lust, sie hatte genug vom Lernen. Sie würde gerne für ein Jahr nach Amerika gehen, aber das konnte sie sich nicht leisten und ihre Eltern wollten es auch nicht bezahlen. Sie stellte sich Amerika ungeheuer interessant vor. Es war einer ihrer großen Träume, da zu landen.
Sie zuckte zusammen, als Mia sie in die Seite stieß.
„Du bist gleich dran, Alessa!“, zischte sie und grinste breit, was Alessa zum Lächeln brachte. Sie wandte sich dem Mädchen zu, was ihr am nächsten saß und wartete darauf, dass es endete. Dann öffnete sie den Mund und wollte gerade zum Sprechen ansetzten, als die Tür aufgerissen und gegen die Wand geknallt wurde. Erneut zuckte sie zusammen und holte tief Luft. Sie war viel zu schreckhaft für diese Welt.
„Entschuldigung!“, keuchte der Junge oder eher der Mann, der den Krach veranstaltet hatte. „Ich hab den Raum nicht gefunden und ..“ „Setz sich“, unterbrach ihn die Lehrerin und deutete auf den Platz neben Alessa. „Und dann stell dich vor, wir sind gerade dort angekommen.“ Der Junge/Mann nickte und nahm Platz. Unwillkürlich rutschte Alessa näher zu Mia, sie wollte ihm keinen Platz wegnehmen. Auch versuchte sie, sich schmaler zu machen, was natürlich nicht klappte. Sie sah wieder auf ihren Block, nahm den Stift in die Hand und begann erneut, Kringel zu malen. Die Situation war ihr unangenehm, denn bei dem kurzen Blick, den sie auf ihn geworfen hatte, hatte sie festgestellt, dass dieser Junge/Mann umwerfend aussah. Er hatte dunkle, etwas längere Haare, trug eine zerissene Jeans und ein Metallica – Shirt, Chucks und war relativ braungebrannt. Bestimmt hatte er seine Ferien in Italien oder Griechenland verbracht. Als sie seine Stimme hörte, bekam sie eine heftige Gänsehaut.
„Mein Name ist Milan Haase, ich bin dreiundzwanzig und habe gerade meine Ausbildung als Bürokaufmann hinter mir.“ „Danke, Milan. Alessa?“ Alessa überhörte, dass sie aufgerufen wurde, sie versuchte, ihre Gänsehaut zu vertreiben, ihre Gedanken, ihre Vorstellungen, die sie aufgrund seines Erscheinungsbildes und seiner Stimme hatte, zu ignorieren. „Alessa?“ Sie zuckte zusammen. Er kannte ihren Namen? Er kannte ihren Namen! Sie sah hoch und stellte fest, dass sie ganze Klasse sie anstarrte. Er auch. Milan. Milan hatte grüne Augen. Wunderschöne, waldgrüne Augen. Ganz automatisch versank sie in ihnen. Er erwiderte ihren Blick eine Weile und lächelte dann leicht. „Alessa, vielleicht solltest du dich vorstellen. Ich glaube, die Klasse wartet darauf.“ Sie merkte, dass sie knallrot wurde, ratterte dann schnell runter, wie sie hieß und wie alt sie war, widmete sich dann wieder ihrem Block und malte weiter. Mia und Mariella stellten sich vor und dann ging es in der Reihe hinter ihnen weiter. Aber Alessa bekam das alles nicht mit und ehe sie sich versah, hatte sie ein paar grüne Augen auf ihren Block gemalt. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und starrte sie an. Warum? Nur weil sie diesen Typen attraktiv fand? Sie seufzte und zuckte mal wieder zusammen, als sie eine Hand sah, die sich von rechts nährte. „Sind das meine Augen?“, fragte diese tolle Stimme. Sie uzckte mit den Schultern und flüsterte: „Weiß ich nicht. Nein, denke nicht.“ Er lachte leise und sah sie an. „Und wenn würdest du es nicht zugeben?“ Sie schwieg, nahm das Blatt, riss es aus dem Block und zerknüllte es. Als es dann endlich klingelte, nahm sie ihre Zigaretten und ging mit Mia und Mariella raus. Auf dem Weg dorthin, warf sie den Zettel in den Papierkorb.
Was sie nicht mehr mitbekam war, dass Milan den Zettel wieder herausholte, ihn glatt strich und mit einem Grinsen betrachtete, ihn dann fein säuberlich zusammenfaltete, in seiner Hosentasche verstaute und gemeinsam mit ein paar Mitschülern den Raum verließ.





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